Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK GESUNDHEIT - Ökonomie des Gesundheitswesens
zurück "Krankschreiben und Krankfeiern"WIEVIEL KRANKE SIND FÜR DIE DEUTSCHE WIRTSCHAFT GESUND?
Die deutsche Ärzteschaft stand schon immer mit an vorderster Front, wenn es darum ging, über angebliches"Anspruchsdenken" und "mangelnde Leistungsbereitschaft" der arbeitenden Bevölkerung zu hetzen und es ihr geradezu als Verbrechen - anzurechnen, daß "Krankfeierer" unzulässigerweise Rücksicht auf sich nehmen, statt rücksichtslos gegen die eigene Gesundheit diese in den Dienst ih- rer "Arbeitgeber" zu stellen. So äußerte sich z.B. kürzlich der Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, auf dem 86. Deutschen Ärztetag in Kassel folgendermaßen: "Anstelle öffentlichen Anreizes zu unbegrenzter Begehrlichkeit, allgemeiner Anspruchshaltung und umfassender Vollversorgungs- mentalität" müßten Eigeninitiative und Eigenverantwortung frei- gesetzt und gefördert werden". Die Zeit für "dirigistische staat- liche Fürsorge, ausladenden Sozialbarock und schwülstige Versor- gungsüberhänge" sei vorüber. (FR. 11.5.83) Dafür wurde dieser Mann in Kassel mit 95% der Stimmen als ober- ster Repräsentant des Ärztestandes wiedergewählt. Ansonsten ern- tete er leider nichts als Lob von christlichen Politikern und ein mattes 'Unerhört' vom DGB. Nur zu gerne berufen sich - und zwar vor wie nach der "Wende in Bonn!" - die Politiker auf unverschämte Lügen dieser Art gerade aus dem Munde von medizinischen "Fachleuten", wenn sie kraft ih- rer Gewalt dem (aktiven und ausgemusterten) Arbeitsvolk eine "Kostendämpfung" nach der anderen und dafür umgekehrt eine Bei- tragserhöhung nach der anderen verordnen. Bezüglich des korrek- ten, sprich: dem Staat genehmen Ausmaßes, in dem die per Sozial- staat verbindlich gemachte Gleichung Gesundheit = A r b e i t s- fähigkeit den Kassenpatienten gegenüber zur Geltung zu bringen ist, sind Äußerungen gerne gehört wie die des Arbeitsmediziners Scholz auf einem Ärztekongreß mit dem bezeichnenden Titel "Krankschreiben und Krankfeiern": "Der Mißbrauch von Krankmeldungen ist unbestritten. Gelegentlich wird eine kleine Gruppe profihafter Krankfeierer bereits als Aus- beuter im Gesundheitswesen angesprochen. Krankfeiern ist ein weitverbreiteter, von allen Gesellschaftsschichten geübter Sozi- albetrug." FAZ, 5.6.82) D a n e b e n sind bemerkenswerterweise inzwischen auch noch et- was andere Töne zu hören: "Der Krankenstand der Bundesrepublik ist auf das niedrigste Ni- veau seit 15 Jahren abgesunken, erklärte der Vorstandsvorsitzende des Bundesvorstandes der Ortskrankenkassen, Willi Heitzer." (FR, 6.11.82) "Nach Angabendes Düsseldorfer Arbeits- und Gesundheitsminister Friedhelm Farthmann (SPD) zahlten die Ortskrankenkassen in der ersten Hälfte dieses Jahres 16,5% weniger Krankengeld als im Ver- gleichszeitraum 1981." (FR, 15.12.82) "Gesunkener Krankenstand" heißt selbstverständlich nicht, daß die deutschen Arbeiter und Angestellten auf einen Schlag erheblich gesünder geworden sind. Das wäre wahrhaftig ein Wunder angesichts der Leistungsanforderungen an modernen bundesdeutschen Ar- beitsplätzen, deren erfolgreiche "Konkurrenzfähigkeit im interna- tionalen Wettbewerb" ihren glücklichen "Besitzern" anzusehen ist, und nicht etwa nur dem Heer der Frühinvaliden und Frührentner. Es handelt sich beim "gesunkenen Krankenstand" um das Ergebnis einer gelungenen Erpressung eben der "Arbeitsplatzbesitzer", die für ihren schieren L e b e n s u n t e r h a l t auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Eigentümer der Fabriken angewiesen sind: Die Unternehmer hatten beschlossen, daß - gemessen am Ge- schäftsinteresse - der Krankenstand ihrer "Mitarbeiter" "zu hoch" war, daß für den "Kostenblock" namens Arbeitslohn, den sie zah- len, mehr Leistung abgeliefert werden muß. Bei Krankheit werden vermehrt Abmahnungen ausgesprochen, und es gibt reihenweise Kün- digungen wegen "zu hoher Fehlzeiten". Die Politiker, die das "Wachstum der Wirtschaft" überaus schätzen, haben ihrerseits be- schlossen, dieser Erpressung mit Maßnahmen wie der "Aktivierung des vertrauensärztlichen Dienstes" nachzuhelfen und damit zugleich die Krankenkassen von Auszahlungen an die Beitragszahler zu "entlasten". Dies war der harte Kern der öffentlichen Kampagne gegen den "hohen Krankenstand" der lohnarbeitenden Bevölkerung, an der sich die Ärzteschaft aus vollem Herzen beteiligte. Und jetzt? Sind die Verwalter der kostengedämpften Volksgesund- heit jetzt zufrieden über den Triumph kapitalistisch-sozialstaat- licher Erpressung über die Physis der Arbeiter? Keineswegs - die Arbeiter können es diesen Herrschaften wirklich nie rechtmachen. "Heitzer sagte weiter 'er halte dieses Absinken gesundheitspoli- tisch für problematisch'. Es bestehe die Gefahr der Verschleppung von Krankheiten, die dann später (!) zu ganz anderen Problemen (!) führen können." Die Funktionäre des Gesundheitswesens fühlen sich so sehr dem Standpunkt der Volksgesundheit (= einer optimalen Relation von Nutzen und Kosten beim z w e c k m ä ß i g e n V e r- s c h l e i ß der Gesundheit der Arbeiterbevölkerung!) ver- pflichtet, daß sie keinerlei Probleme damit haben, ihre eigene Propaganda zu dementieren, lauter gesunde Arbeiter würden sich als "Krankfeierer" ihrer Pflicht entziehen. Unverblümt stellen sie heute fest, daß die Arbeiter wegen "der ernsthaften Sorge, bei nicht voller körperlicher Tüchtigkeit den Arbeitsplatz zu verlieren" (Heitzer) sich noch rücksichtsloser gegen ihre Gesund- heit verhalten und auch dann noch zur Arbeit erscheinen, wenn sie sich kaum auf den Beinen halten können. Dies stört Gesundheits- funktionäre freilich nicht wegen der üblen Konsequenzen für die Arbeiter, sondern wegen der z u k ü n f t i g e n "Probleme", die sie auf die Gesundheits p o l i t i k zukommen sehen: Die Arbeiter setzen ihre Brauchbarkeit, die schließlich auf ein gan- zes Arbeitsleben kalkuliert ist, aufs Spiel und vermehren die Zahl derjenigen, die als vorzeitig Verschlissene Kranken- und Rentenkassen "belasten". ("Die Zahl der Frührentner wegen Er- werbsminderung dürfte spürbar steigen.") Zur Revolution wollen Leute wie Krankenkassenvorstand Heitzer da- mit nicht aufgerufen haben - und keiner der zuständigen "Entscheidungsträger" denkt auch bloß daran, die laufende Ver- schärfung der einschlägigen Gesetzesbestimmungen rückgängig zu machen. Vielmehr liefert die Besorgnis um die Volksgesundheit, die sich aus dem Standpunkt gesunder Staatsfinanzen speist, nur die Stichwörter für alle möglichen Maschen des "sozialen Netzes", die die Staatsgewalt außerdem noch als einzukassierenden "Luxus", als "Anspruchshaltung" und "Verwöhntheit" ihres Volkes deklarie- ren und behandeln kann. Ideologisch wie praktisch eine erschöp- fende Auskunft zum Thema 'Gesundheitswesen und Klassenstaat', sollte man meinen! *** "Gesundheit muß bezahlbar bleiben" ---------------------------------- Seit einiger Zeit liegt für AOK- u.ä. Patienten, die es trotz "schwerer Zeiten" nicht lassen können, zum Arzt zu gehen, in des- sen Wartezimmer ein Pamphlet aller "Pflichtkrankenkassen" aus. Darin wird der "sehr geehrte Patient" aufgefordert, gründlich sein Gewissen zu befragen, ob es ihm tatsächlich so schlecht geht, daß er bis ins Sprechzimmer vordringen will, oder ob er nicht besser gleich wieder nach Hause geht. Zwar seien die Kran- kenkassen "gezwungen, durch Beitragserhöhungen immer tiefer in Ihren Geldbeutel zu greifen", aber das heißt ja nur, daß "im In- teresse der Kranken und aller Beitragszahler... jede nicht erfor- derliche Leistung unterbleiben" muß. Und daß im Gesundheitswesen sehr vieles nicht mehr erforderlich ist, bestimmt eindeutig das Kostendämpfungsgesetz. Unverschämtheiten solcher Art gehören hierzulande ja längst zu den größten Selbstverständlichkeiten: Im "eigenen Interesse" ha- ben diejenigen, an deren Gesundheit und Portmonnaie sich Staat und Geschäftswelt frei bedienen, keine Ansprüche für ihr Inter- esse zu stellen! Und sei's das mickrige, die defekte Gesundheit so weit wiederherzustellen, daß es zur Arbeitsfähigkeit reicht. *** "Was darf Gesundheit kosten?" ----------------------------- Gewisse Praktiken aus der deutschen Vergangenheit sind mittler- weile in seriösen Ärzteblättern wieder diskussionswürdig. Unter dem Stichwort "Was darf Gesundheit kosten?" schreibt ein Prof. Dr. Halhuber zur "Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis" von Rehabilitations- und Präventivmaßnahmen. "Ist die Lebensverlängerung das Hauptziel? Humanitär sicher - aber wirtschaftlich? Je länger der Sozialversicherte lebt, um so belastender ist er für die Volkswirtschaft, und das besonders in einer Phase der Rezession und Arbeitslosigkeit! Oder? Prinzipiell unterscheidet sich hier die Lage in Mitteleuropa nicht von der in Afrika, wo es Stämme geben soll, welche ihre Alten in der Wüste aussetzen. ("Moderne Medizin ", 10/1982) Ein radikaler Denkanstoß, in der Tat. So verwunderlich freilich nicht angesichts eines "Umfeldes", in dem von den Spitzen des Staatswesens laut darüber nachgedacht und streng rechtsstaatlich darüber entschieden wird, was und wieviel so "unnütze" Zeitgenos- sen wie Ausländer, Arbeitslose, Rentner, Behinderte usw. usf. überhaupt noch v e r d i e n t haben. Nicht nur in Ärztekreisen stellt man sich eben vom Standpunkt "Belastungen für die Volkswirtschaft" aus Fragen, die durchaus so beschaffen sind, daß vor ihnen die Vermeidung der Antwort 'Euthanasie kommt am billigsten' sich geradezu als "humanitäre" Gnade ausnimmt. zurück