Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK GESUNDHEIT - Ökonomie des Gesundheitswesens


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       Münchner Hochschulzeitung Sonderausgabe Medizin, 19.06.1980
       
       Katastrophenmedizin:
       

ÄRZTE RÜSTEN AUF

War es nach Seveso und Harrisburg vornehmlich die kritische Ab- teilung der Mediziner, die sich der Opfer der von Staat und Indu- strie einkalkulierten "Katastrophen" annahmen und - ganz zu- kunftsorientiert - den Staat zum Ausbau seines medizinischen Auf- räumungsdienstes mahnten, so hat jetzt die Diskussion die Kata- strophenmedizin von unerwarteter Seite eine interessante Berei- cherung erfahren. Auch die offiziellen ärztlichen Standesvertre- ter fordern verstärkt Schutzmaßnahmen gegen einen Typus von Kata- strophen, der in den letzten Jahren nur entlegenere Landstriche heimsuchte und jetzt auf die BRD überzugreifen droht: "Man muß ja nicht gleich an einen Krieg denken" (nur keine Pa- nik!), "aber man muß wirklich Angst haben, daß in der BRD eine Riesenkatastrophe passieren könnte und diese die Bevölkerung, die Behörden und die Ärzteschaft völlig unvorbereitet trifft." (Dr. K. Vilmar, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärz- tetages) Daß es Krieg geben wird, ist Herrn Vilmar, dem nach eigenem Be- kunden in seinen Ämtern "der Dienst am Menschen über alles geht", eine Selbstverständlichkeit, was ihn "ängstigt" ist, daß es die BRD "unvorbereitet" treffen könnte. Mahnend verweist die Ärzte- schaft der BRD auf die wehrhaften Eidgenossen - "am weitesten fortgeschritten sind die Vorbereitungen in der "n e u t r a l e n Schweiz" (Hervorhebung nicht von uns) - und ganz im Stile von Politikern, die mit sorgenvollen Mienen an der Sicherung des Friedens arbeiten, stellen sich die ärztlichen Standesvertreter ihrem Teil der Verantwortung. Wo der kleine Mann sich immer noch gerne der Illusion hingibt, daß "unsere" Bundeswehr samt NATO solche "Riesenkatastrophen" irgendwo im fernen Osten abwickeln wird, denken die Herren in der Bundesärztekammmer weiter und haben erkannt, daß die "politischen Notwendigkeiten" wohl auch an der BRD nicht spurlos vorübergehen werden. Getrieben von "einerseits humanitärer, andererseits gesetzlicher Verantwortung" haben sie eine Lücke in der Gesetzgebung zum Gesundheitswesen entdeckt, das zwar perfekt dafür sorgt, daß jedem Bürger das genau für ihn ausreichende Maß an Gesundheit zuteil wird, das aber für eine BRD als Schlachtfeld doch einer weiteren Vervoll- kommnung bedarf. Deshalb fordert die Ärzteschaft ein "Gesundheitssicherstellungsgesetz": Denn wenn der deutsche Bürger nicht nur in Büros und Fabriken vernutzt wird, sondern Gesundheit und Leben unmittelbar in den Dienst der Nation stellen darf, will sichergestellt sein, daß mit der Gesundheit des Volkes nicht leichtfertig umgegangen wird. Sortierung nach Maß ------------------- Wenn der Staat für seine Bürger 'töten und sich töten lassen' aufs Programm setzt, heißt das nämlich noch lange nicht, daß das deutsche Volk einfach 'verheizt' wird. So muß auch für den Fall, daß ein atomarer Schlag die Bevölkerung dezimiert, für eine medizinisch effektive Überprüfung des noch vorhandenen Menschenmaterials gesorgt sein, damit auch das letzte Stück Mensch seine sinnvolle Verwendung im Kampf um das Überleben der BRD findet. Das Schlimmste, was die bundesdeutsche Ärzteschaft im Falle eines Krieges also auf sich zukommen sieht, ist, daß hierfür keine an- ständige Organisation bereit steht. Deshalb weisen die Stützen unseres Gesundheitssystems auf den "derzeitigen unübersehbaren Kompetenzwirrwarr und die Desorganisation" hin und lassen es sich nicht nehmen die anstehenden Aufgaben auszumalen: "Es wird eine radikale Umstellung von der gewohnten Individualme- dizin nach Maß geben, hoffnungslos schwerwerletzte Patienten, de- ren Traumata eine ungünstige Prognose haben, müssen zurückstehen, Leichtverletzte ebenfalls ..." (Ärztezeitschrift Selecta) Wer wollte den in Kassenpraxis und Krankenhaus gestählten Ärzten die Kompetenz absprechen, nach bestem medizinischen Wissen und Können die Aussortierung und individuelle Behandlung der Patien- ten vorzunehmen? So "radikal" braucht die Umstellung also nicht auszufallen, auch wenn der medizinische Aufwand dann eben den veränderten Umständen zu entsprechen hat: Hier das passende Maß zu finden, traut sich eine verantwortungs- bewußte Ärzteschaft allemal zu weshalb sie vom Parlament nur noch die gesetzliche Absicherung ihrer neuen Spezialdisziplin erwar- tet. Denn immer noch ist der Staat die zuständige Instanz, die den Bürgern nicht nur großzügigerweise ein 'Recht auf Leben' ge- währt, sondern auch je nach den Erfordernissen festlegt, was dar- unter zu verstehen ist und was entsprechend an ärztlicher Hilfe auf dem Plan steht. Es muß also nicht gerade das kostengedämpfte Quantum Gesundheit sein, das der Arzt verabreicht, um beruhigt von sich sagen zu können: "Ich habe alles in meiner Macht Ste- hende getan." Und es ist k e i n e schlichte 'Unterlassung ei- ner Hilfeleistung', wenn die brutale Feststellung, "Prognose un- güngstig", den Tod eines Menschen bedeutet. Wenn das Gesetz es vorsieht, rechtfertigt sich auch dies vor dem höheren Ziel als "Dienst an der Menschheit". Ein Arzt hilft nur, wenn der Gesetz- geber es will und so, wie er es will; jedem also nur so, wie es angeordnet ist und nur dann, wenn es noch einen "Sinn" hat. In Kriegszeiten heißt dies, daß die "Sachverständigen für Volks- gesundheit" ihr medizinisches Urteil darüber fällen, wessen Leben noch tauglich ist für die Aufgaben an der Heimatfront. Jetzt sind sie legitimiert, Ernst zu machen mit ihren Vorstellungen von ärztlicher Hilfe, wie sie im Kollegenkreis bei der Beschimpfung der Patienten üblich sind: Ohne zimperliche Rücksichtnahme auf die Wehwehchen von Simulanten und Drückebergern wählt der Arzt die aus, die um's Überleben kämpfen dürfen. Wo der bundesdeutschen Ärzteschaft die Zeit reif erscheint, mit solcher Vehemenz in die politische Verantwortung zu drängen, dür- fen die Politiker, die längst entsprechenden Pläne in der Schublade haben, "den Katastrophenschutz nicht weiter als geheime Kommandosache behandeln." (Deutsches Ärzteblatt Nr. 18) Schließlich sieht das gemeine Volk immer noch nicht die Chancen eines differenzierten Einsatzes von Atomwaffen, so daß man sich "gegen die ganze nihilistische Einstellung der Leute angesichts eines Atomkrieges" zu wenden hat. Ihnen muß nur verdeutlicht werden, daß die Behörden auch für einen atomaren Schlag Begen die BRD weitsichtig vorgesorgt haben - dann stirbt es sich doch viel positiver. Was die Mediziner hier als Werbung für die Notwendigkeit privater Anstrengungen zum Katastrophenschutz ("Aktion Eichhörnchen") der Öffentlichkeit vorstellig machen, braucht den Vergleich mit den Planspielen der Militärs nicht zu scheuen. "Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung überleben, ein Drittel sogar unverletzt, im Vergleich zu den überlebenden Einwohnern wird ein höherer Prozentsatz von Lebensmitteln zur Verfügung stehen" (Leben wie Gott in Frankreich!), "die Verhaltensmuster der Über- lebenden werden durchaus adaptiv sein, als Beispiel für die Über- lebensfähigkeit einer Zivilisation unter Extrembedingungen ist die Belagerung von Leningrad anzuführen" (das waren noch Zei- ten!), "die fast 2 1/2 Jahre ohne Licht, Heizung, Brot und Wasser überlebte" (die Russen - auch nicht schlecht!) ... (MMW 79/Nr. 36) Erste Erfolge der gesundheitspolitisehen Aufklärungskampagne zeichnen sich ab, schon kann das Ärzteblatt Nr. 20 einen SPD- Senator Fröhlich zitieren, dessen "Betrachtungen unserer Gesamt- verteidigung" ähnlich liegen: "Vermehrter Ausbau unseres Zivil- schutzes, sonst wird unsere militärische Abschreckung unglaubwür- dig!" Derzeit streiten sich die medizinischen Fachleute noch über das rechte Verhältnis von Zivil- und Militärverteidigung, etwa über die Frage, ob ein "erhöhter Bedarf an Krankenhausbetten besteht" oder vielleicht doch eher ein paar neue Leo II vonnöten sind. Dieser Streit wird sich schon noch erübrigen - mit Krankenhaus- betten "schreckt" man nämlich niemand "ab" und deshalb sind Pan- zer - so viel wie möglich - die beste Medizin für Verwundete - und mit den Toten geht auch der Bedarf an Krankenhausbetten zu- rück. PS.: Daß die TU München neben Mainz die einzige Uni in der BRD ist, die im Fach Katastrophenmedizin eine Vorlesung anbietet, ist vorbildlich. Und daß Herr Generaloberstabsarzt d.D. Prof. Reben- tisch mit seinen praktischen Erfahrungen aus dem 2. Weltkrieg da- für der richtige Mann ist, steht außer Zweifel! Dennoch fordern wir die medizinische Fakultät auf: Schluß mit der Diskriminierung ziviler Gesundheitskämpfer, ihre freiwilligen Anstrengungen für die Organisation der "Riesenkatastrophe" verdienen staatliche An- erkennung! *** "Mensch und Atomkrieg" ---------------------- Auch die Linken wollen bei den Bemühungen um eine gesundheits- dienliche Gestaltung des bevorstehenden Krieges nicht abseits stehen. Auf dem Gesundheitstag '80 wurde neben solchen Themen wie "Mensch und Umwelt" (zu dieser Diskussion vgl. die neue MSZ Nr. 3!) auch das höchst problematische Verhältnis von "Mensch und Atomkrieg" eingehend erörtert. Man war sich darin einig, daß hier ernste gesundheitliche Schädigungen für "Mensch" zu befürchten sind, weshalb "Atomkrieg" aus medizinischer und genuin menschli- cher Sicht eindeutig negativ beurteilt werden muß, sogar als eklatanter Fall einer "Umweltkatastrophe" einzuordnen ist und sich somit auch die kritische Frage gefallen lassen muß: "Welche Chancen zur Verhinderung und Linderung atomarer Katastrophen gibt es?" Wir meinen, wer so kriegsdienlich fragt, hat sich zumindest ein Lob von Vater Staat, wenn nicht gar die Florence-Nightingale- Medaille verdient. zurück