Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK GESUNDHEIT - Ökonomie des Gesundheitswesens
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Arbeitsplatz Dr. med.
DER ARBEITSMEDIZINER
Dienst an der proletarischen Gesundheit im Betrieb
Gemeinhin halten Mediziner nicht viel von der Sorte Kollegen, die
ihr Honorar als Fabrikangestellte beziehen, den Betriebsärzten.
Wenn auch der Vergleich mit den sonst im Geschäft mit der Gesund-
heit üblichen Einkommen den heimlichen Grund für ihre Gering-
schätzung abgibt, so trägt sich der Vorbehalt gegen diese Sparte
medizinischer Berufstätigkeit doch vornehmer vor - als General-
verdacht: Opfert der Betriebsarzt nicht die Prinzipien "humaner
Medizin" den Geschäftsinteressen seines Arbeitgebers? Ist er des-
wegen überhaupt ein anständiger Arzt?
Diese Sorge ist ganz und gar unnötig. Man braucht sich nur 'mal
zu vergegenwärtigen, was ein Arbeitsmediziner im Fabrikalltag
leistet.
Medizinische Auslese für ruinöse Arbeit
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1. ist der Betriebsarzt zuständig für Einstellungsuntersuchungen
- S e l e k t i o n s verfahren, die - zumindest in Großunter-
nehmen - gegen jeden angestrengt werden, der sich dort für Lohn
nützlich machen will.
Sind Herz, Lunge, Leber, Augen etc. in einem Zustand, der
a l l g e m e i n e L e i s t u n g s f ä h i g k e i t ver-
spricht? - heißt der Maßstab, nach dem der Werksarzt die Bewerber
für eine Fabrikkarriere sortiert. Daß er dabei sein medizinisches
Wissen und Können ebenso sorgfältig wie sonst ein Dr. med. anwen-
det, darf man ihm glauben. Bloß was attestiert er denn mit seiner
ärztlichen Kompetenz, wenn er (unter Titeln wie "Bedenken",
"keine Bedenken", "befristete Bedenken" etc.) dem einen man-
gelnde, dem anderen volle gesundheitliche Tauglichkeit beschei-
nigt?
Offenbar ist für Arbeiter eine intakte Physis der einzige
"Geschäftsartikel", mit dem sie sich am Wirtschaftsleben beteili-
gen und sich ein Einkommen verschaffen können. Wenn
G e s u n d h e i t ihr L e b e n s m i t t e l ist, dann des-
halb, weil Arbeit im Dienst des Geschäfts genau dasselbe ist wie
der pure Verschleiß der Physis. Das ist der Grund dafür, daß Fir-
men medizinische Fachleute beschäftigen und ihnen in Sachen Ein-
stellung durchaus das letzte Wort überlassen, denn die entschei-
dende Frage heißt: kann der Mensch die Leistungsanforderungen
(noch) a u s h a l t e n, die der Betrieb für ihn bereithält?
Lautet das ärztliche Fachurteil ja, dann muß er sie aushalten.
Lautet es nein, dann ist es gleichbedeutend mit der Mitteilung:
so wie du beeinander bist, steht dir ein Lebensunterhalt nicht
mehr zu! So sehr achtet unsere freiheitliche Rechts- und Sozial-
ordnung auf Gesundheit.
Überwachung funktioneller Gesundheitsschädigung
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Auch bei der täglichen profitablen Benutzung seiner Gesundheit
entgeht der Lohnarbeiter dem gewissenhaften werksärztlichen Bei-
stand nicht. Der sorgt nämlich dafür, daß die Vernutzung seiner
Arbeitskraft nicht ungesetzlich, sondern gemäß den rechtlichen
Bestimmungen und Auflagen des bundesrepublikanischen Sozialstaats
vonstatten geht.
2. Routinemäßig kontrolliert der Werksarzt zusammen mit einem
technischen Ingenieur in den Fabrikhallen das Ausmaß von Lärm,
Hitze und Gift und reklamiert die Einhaltung der
s t a a t l i c h e r l a u b t e n "Z u m u t b a r k e i t s-
grenzen". Krach, Gestank, Gift (ca. 400 "Schadstoffe" zählt die
"MAK" (= Maximale Arbeitsplatz-Konzentration)-Liste als die in
hiesigen Fabriken üblichen Gifte auf) sind einem "abhängig
Beschäftigten" auch vom betriebsärztlichen Standpunkt durchaus
zumutbar; allerdings hat er ein Recht darauf, daß die R u i-
n i e r u n g seiner Gesundheit unter ärztlicher K o n t r o l-
l e und im gesetzlich fixierten Ausmaß stattfindet. So sorgt der
Betriebsarzt als Staatsbeauftragter dafür, daß die deutsche
Arbeitskraft in einem f u n k t i o n e l l e n M a ß e
vernutzt wird: damit sie ein durchschnittliches Arbeitsleben lang
kontinuierlich beansprucht werden kann. (Was für sehr viele
Proleten bedeutet, daß sie ihren 60. Geburtstag nicht mehr am
Arbeitsplatz erleben - wenn überhaupt. Die korrigieren den
Durchschnitt nach unten.)
3. Weil die Folgen des Arbeitsplatzes für die Gesundheit seines
"Besitzers" ebenso sicher wie das berühmte Amen in der Kirche
sind, führt der Betriebsarzt regelmäßig spezifische Organuntersu-
chungen bei den Proleten durch, die sich an Arbeitsplätzen mit
"besonderen" Belastungen bewähren dürfen. Haben bleihaltige
Schwebestoffe schon zu Anzeichen von Anämie geführt? Hat sich
beim Lackierer schon die typische Fettleber entwickelt? Haben
Lärm, Hitze und Akkordtakt schon Lärmschwerhörigkeit resp. Herz-
Kreislauf-Störungen verursacht?... usw. Die gesamte Liste
"moderner Volks"- und "Berufskrankheiten" kann der Betriebsmedi-
ziner ganz praktisch abhaken.
Mit der Feststellung fortgeschrittener "Organveränderung" be-
scheinigt der betriebliche Gesundheitshüter dem geschädigten Ar-
beiter, daß er für bestimmte Arbeitsplätze nicht mehr tauglich
ist, erspart dem Kapital Krankentage und den Rentenkassen manchen
Frührentner. Der Prolet darf je nach Entscheidung des Unterneh-
mens die noch intakten Organe an einem anderen Arbeitsplatz auf-
brauchen oder gleich, ruiniert, wie er ist, und zu verminderten
Bezügen, ins "Soziale Netz" fallen. So ist sowohl dem Betriebs-
wohl wie den Maßstäben ärztlicher Betreuung Genüge getan.
4. Bis ein Arbeiter aber von seinem kapitalistischen Anwender für
unbrauchbar, weil nicht mehr lohnend einsetzbar befunden wird,
gewährt ihm der Werksarzt medizinische Hilfe beim Aushalten sei-
ner gesundheitlichen Zerstörung. Der Betriebsarzt unterstützt den
proletarischen Durchhaltewillen großzügig mit kostenlos verteil-
ten Schmerz- oder sonstigen Tabletten, was praktischerweise nicht
als ärztliche Behandlung gilt, die dem Betriebsarzt nämlich ver-
boten ist. Er überweist ihn auch an einen Standeskollegen außer-
halb des Betriebs, und zwar spätestens dann, wenn er Arbeitsunfä-
higkeit diagnostiziert. Die Kriterien, die der Werksmediziner bei
all diesen Tätigkeiten in Anschlag bringt, sind die eines ganz
normalen Arztes: wer noch arbeiten kann, ist gesund, und nur wer
zu stark angeschlagen ist, um noch arbeiten zu können, der ist
krank und erhält die Ausnahmegenehmigung, der Tretmühle Betrieb
fernzubleiben. Bis er wieder aber so viel Kraft verfügt, wie man
täglich dortlassen muß.
Berufsethos = Berufszynismus
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Eine der moralischen Vergnügungen, die der Arztberuf bietet, wird
dem Betriebsmediziner in besonderem Maße zuteil- das selbstge-
recht verständnislose Kopfschütteln über das mangelnde Gesund-
heitsbewußtsein seines Klientel. Der 'X' mit der vergrößerten Le-
ber weiß ganz genau, daß er am Arbeitsplatz Lösungsmittel einat-
met, und gibt auch noch verschämt zu, daß er gerne einen hebt -
ein unverantwortlicher Lebenswandel! Und wenn der Herr Dr. erst
wie heutzutage in der Mehrzahl der Fälle seine ganze Weißkittel-
autorität aufbieten muß, damit Arbeitsunfähige ihre Krankschrei-
bung akzeptieren und das Werk verlassen, statt mit einer Tablette
an den Arbeitsplatz zurückzukehren, dann kann sich so ein Be-
triebsarzt schon einmal aus lauter ärztlichem Ethos empören.
Selbstverständlich kennt der Werksmediziner den Grund der Krank-
heit, die rücksichtslose Leistungsanforderung des Betriebs, wie
auch die Grundlage der bescheuerten Arbeitsmoral, die Erpressung
des Arbeiters mit der Not, die der Verlust des Arbeitsplatzes be-
deutet. Aber schließlich steht er als anständiger Mediziner auf
dem Standpunkt, daß gerade Leute, deren gesundheitlicher Ruin
durch den ökonomischen Zwang des Kapitals notwendig ist, allen
Grund hätten - nein, nicht für die Revolution, sondern dafür, au-
ßerhalb der Arbeit gesund zu leben.
S o ist der Betriebsarzt ein Funktionär der Ausbeutung mit dem
genau dazu passenden ideologischen Bewußtsein - als g a n z
g e w ö h n l i c h e r a n s t ä n d i g e r M e d i z i-
n e r.
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