Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK GESUNDHEIT - Ökonomie des Gesundheitswesens


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       Gesundheitsserie III
       

DER UNAUFHALTSAME FORTSCHRITT DER MEDIZIN

ist nicht zu übersehen. Da kann man staunen, was heutzutage alles geht. Der Herzschrittmacher ist schon ein alter Hut. Gelenke wer- den ersetzt, Nieren und sogar Herzen transplantiert. Impfungen immunisieren gegen alle möglichen Seuchen, demnächst vielleicht sogar gegen Aids; abgetrennte Gliedmaßen werden angenäht, manche Krebsleiden sind im Griff. Ständig werden neue Medikamente erfunden. Fragt sich, was es mit diesem medizinischen Aufwand auf sich hat. Sind die Leute heute gesünder, weil die Errungenschaften der mo- dernen Medizin immer mehr Krankheiten besiegt haben? Das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Worin besteht dann eigentlich der vielgelobte Fortschritt im Ge- sundheitswesen? Das Resultat der medizinischen Betreuung ist nicht die Gesund- heit! Kann man sich jetzt vielleicht darauf verlassen, daß für die Ge- sundheit bestens gesorgt ist? Etwa nach dem Motto: Morgens fit in die Fabrik und anschließend quietschfidel ins Freizeitvergnügen? Von wegen. Wer seinen Lebensunterhalt in der Fabrik oder im Büro verdienen muß, der weiß, daß er in seiner Freizeit ständig auf seine Gesundheit zu achten hat, gerade weil bei der Arbeit keine Rücksicht auf sie genommen wird. Und die Medizin? Kapituliert sie vor dem, was sie selber als "moderne Volkskrankheiten" bezeichnet? Keineswegs. Sie widmet sich ihrem "Krankengut", wie sie das nennt, nach bestem Wissen und Gewissen. Freilich: W o v o n die Leute krank werden, das geht sie dabei wenig an. Ärzte verpassen vielmehr jedem Kranken die für seine Leiden passenden Mittelchen - damit er möglichst wieder auf die Beine kommt und sich seinem jeweiligen "Ernst des Lebens" wieder stellen kann. Das ist ihre Aufgabe, und der widmen sie sich genauso borniert wie jeder andere Beruf der seinen. Pillen und Bandagen... ---------------------- Diese Mittel bestehen z.B. in einem neu entdeckten Magenmittel, mit dem man trotz Magengeschwür zur Schicht antreten kann. Oder in besonders wirksamen Schmerzmitteln, mit denen die Wirbelsäule eines ewig durchgeschüttelten Gabelstaplerfahrers sich während der Arbeit nicht störend bemerkbar macht. Ausgetüftelte Verbands- techniken sorgen dafür, daß die Tippse wegen einer Sehnenschei- denentzündung keine Zwangspause einlegen muß. Die eine Sorte Pil- len senkt den Blutdruck, die andere beruhigt die Nerven ... Dank dieser Errungenschaften der Medizin ist es dann nicht mehr (so oft) nötig, seine lädierte Körper- und Geisteskraft wiederherzu- stellen - womöglich durch Schonung und unfreiwillige Zwangspau- sen, indem man der Arbeit fernbleibt. Die Zeit wird besser ge- nutzt: fürs Arbeiten nämlich. ...zum Durchhalten... --------------------- Das tägliche Arbeitspensum im geforderten Tempo gehört schließ- lich im Gegensatz zum Wohlbefinden des Lohnarbeiters - das ist letztlich seine Privatangelegenheit! - zu den unumstößlichen Sachzwängen unserer famosen Marktwirtschaft, nicht wahr! Bis zu einem gewissen Grad gelingt es der Medizin tatsächlich, dafür zu sorgen, daß Leute, die sich sonst gar nicht so viel zumuten könn- ten, die Belastungen eines kapitalistischen Arbeitslebens besser und länger aushalten. Die medizinischen Mittel sind dafür gut, und die ärztliche Kunst führt dazu, die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit ein Stück weit hinauszuschieben und das Wei- termachen im Beruf zu ermöglichen. Das braucht der Patient: Hilfe, damit er seine Beschwerden in den Griff bekommt. Daß die zum nicht geringen Teil aus dem Arbeitsleben herrühren, und daß der Mensch, sobald und soweit er dank ärztlicher Betreuung mit seinen Beschwerden fertig wird, wieder für genau dieses Ar- beitsleben zur Verfügung zu stehen hat, also seine Gesundheit verschleißt im Dienst am Kapital, das nimmt ein moderner mündiger Bürger als selbstverständliche Lebensbedingung hin. Natürlich weiß jeder, daß deswegen bei aller Medizin die Leiden nicht ver- schwinden, sondern sich fortschleppen, zunehmen und nach und nach unheilbar werden. Aber in einer Frage bleiben sich Arzt und Pati- ent allemal einig: Letztlich hat dann d e r k a p u t t e M e n s c h s i c h zuviel zugemutet, nicht gesund genug ge- lebt, seine körperlichen Grenzen nicht beachtet usw. Bevor einer, der auf der Schnauze liegt, den Kapitalismus und dessen Ar- beitsplätze kritisiert, hofft er zehnmal eher, gemeinsam mit sei- nem Onkel Doktor, auf - die nächsten Fortschritte der Medizin ... ...mit eindeutigen Folgen ------------------------- Die klasse Mittelchen, mit denen die erfinderischen Mediziner die Grenzen der Belastbarkeit der Arbeitskraft ausdehnen, haben noch zusätzliche böse Wirkungen, und die sind gewissermaßen vom medi- zinischen Fortschritt hausgemacht. Die Pillen, Therapien usw. sind nämlich meist nicht ganz ohne. Sie haben neben der ange- strebten Wirkung fast immer ziemlich unangenehme sogenannte "Nebenwirkungen", greifen den Magen an, verursachen Kopfschmer- zen, Allergien und andere unliebsame Folgen, vertragen sich nicht mit Alkohol etc. Und schon ist die nächste "Herausforderung an die Medizin" fertig: Der geduldige Patient tritt mit neuen Sym- ptomen - die mit seiner Arbeit gar nichts mehr zu tun haben - beim Doktor an, und die Weißkittel haben für jeden ein offenes Wartezimmer. Mit der Behandlung von Begleiterscheinungen von Be- handlungen eröffnet sich ihnen ein weiteres Betätigungsfeld, so daß sich der "Fortschritt der Medizin" im Kapitalismus wie von selber zu lauter neuen Fortschritten beflügelt ... Das eindeutige Ergebnis: Weil durch Pillen und Bandagen die Krankheitsursachen nicht zum Verschwinden gebracht, sondern bloß erträglich gemacht werden, sind chronische Krankheiten die unaus- weichliche Folge. Dank der Fortschritte der Medizin werden Bela- stungen länger ausgehalten, also entfalten sie auch länger ihre schädlichen Wirkungen auf Organe und Knochen, Hirn, Muskel und Nerven, ohne daß der Mensch deswegen als Arbeitskraft ausfällt. Solange, bis irgendein Körperteil endgültig im Arsch ist. Dann nützt bloß noch das neueste Medikament, die raffinierteste medi- zinische Technik - und auch die nicht mehr lange. Arbeitskräfte, denen man bis dahin nicht viel angemerkt hat, die halt - ganz normal und allmählich, aber stetig - sich eins der Leiden zuge- legt haben, die heute für normal gelten, sind dann mit einem Mal reif fürs Ausmustern. Als Frühinvalide, Frührentner oder auch als ganz normaler Altersrentner kann der medizinisch lebenslang be- treute Arbeitsmann dann zusehen, welches Leben, welche Vergnügun- gen er sich - vom Geld einmal abgesehen - mit seinem Gesundheits- zustand noch leisten kann. Ein echter Fortschritt, oder! zurück