Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK ALLGEMEIN - Die Verwaltung der Armut
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100 Jahre Fürsorgeverein
DER MENSCH LEBT NICHT VOM WARENKORB ALLEIN
Im vergangenen April gab es in Frankfurt einen Grund zum Feiern.
Schon der Ort der Handlung, die Frankfurter Paulskirche, wie auch
die Tatsache, daß eigens der Bundespräsident und der zuständige
Ministerpräsident anreisten, ließ erkennen, daß es da um Höheres
ging. Den Anlaß gab ein "Deutscher Verein für öffentliche und
private Fürsorge", nicht aber etwa dessen Auflösung, weil er
vielleicht im Zuge der unaufhaltsamen Durchsetzung der bundes-
deutschen "Wohlstands-" oder gar "Überflußgesellschaft" selbst
überflüssig geworden wäre. Weit gefehlt: Der Festakt galt dem
hundertjährigen Bestehen des Vereins, und mit der Würdigung ver-
gangener Verdienste bei der Mitverwaltung deutschen Elends waren
die besten Wünsche für das künftige Wirken des rüstigen Jubilars
verbunden.
100 Jahre Fortschritt des Sozialstaats
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Dabei ist der Fortschritt auf diesem Gebiete wahrlich ein Grund
zum Feiern. Bei der Bismarck'schen Vereinsgründung hatte es be-
züglich der Zielsetzung noch geheißen:
"...verhüten, daß eine Bedürftigkeit eintritt oder, wenn sie ein-
getreten, dahin zu wirken, daß ihre Folgen schnell wieder besei-
tigt werden und die wirtschaftliche Selbständigkeit wieder herge-
stellt wird.
d.h.
"Schutz der Armenbehörden gegen Mißbrauch durch Faule, Arbeits-
scheue und Gesindel."
Beim bundesdeutschen Gesetzgeber hört sich das heute so an:
"Die Hilfe soll ihn (den Empfänger der Sozialhilfe) soweit wie
möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben." (Paragr. 1 II
BSHG)
"Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann..."
(Paragr. 2 I BSHG)
"Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten, hat keinen An-
spruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt." (Paragr. 25 I BSHG)
Kein Wunder, daß der Bund, die Länder und viele Kommunen neben
vielen privaten "sozial erfahrenen Persönlichkeiten" selbst Ver-
einsmitglieder sind.
Schließlich verdankt dieser Verein seine Existenz und seine Auf-
gabenstellung der Tatsache, daß die Armut eine schöne Tradition
hat in diesem unserem Lande und eine glänzende Zukunft dazu, und
daß der Pauperismus im kapitalistischen Sozialstaat nichts
'Systemwidriges' ist, sondern ein normaler Zustand. Auf den rich-
tet man sich deshalb auch ganz selbstverständlich und möglichst
kostengünstig durch entsprechende Organisation und zukunftswei-
sende Gesetze ein, deren Existenz sich dann als Beweis anführen
lassen, daß bei uns die Armut angeblich nicht mehr existiert,
weil niemand mehr ohne Sozialstaatsbeistand Not leidet.
Deshalb rühmte Gratulant Carstens auch ungeniert als
"Hauptverdienst" des Deutschen Vereins,
"die Zersplitterung, Eigenbrötelei und Eigensucht, die es auch in
Wohlfahrtsverbänden gäbe, überwunden zu haben." (Frankfurter
Rundschau), also die organisatorische Leistung, die zu einer ent-
schiedenen Rationalisierung und damit Verbilligung der Armenver-
waltung führte. Der schon eingangs erwähnte SPD-Börner, der so
aussieht, als würde er jeden Tag schon zum Frühstück mindestens
zwei Warenkörbe eines gehobenen 'Haushaltstyps' verspachteln,
übernahm den bei solchen Anlässen unvermeidlichen Part, beim Be-
reden der gegenwärtigen Armut den Vergleich mit früherem und/oder
anderwärtigem Elend zu ziehen, um zu dem Resultat zu kommen, daß,
wer heute "als sozial schwach" gilt, eigentlich, weil nämlich
vergleichsweise, "wohlhabend" ist mit seinen 312,- DM monatlichem
Regelsatz, was deshalb als "gewaltiger sozialer Fortschritt der
letzten 100 Jahre" und "Relativierung des Begriffs "Not" zu be-
trachten sei.
Restprobleme - Die Opfer der Theorie
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Freilich: Wenn auch mit den erwähnten 312,- DM die "Sicher-
stellung des Lebensunterhaltes" bestens geleistet ist, so bleiben
doch noch einige "menschliche Probleme" zu lösen, weil - so der
Ministerpräsident aus eigener Erfahrung - "der Mensch allein vom
Brot nicht leben kann". Besonders auf die "Anonymität der Systeme
der sozialen Sicherheit" ist das Augenmerk zu richten, da es, wie
man hört, immer wieder dazu kommt, daß Bedürftige die fettesten
Warenkörbe zurückweisen, weil sie befürchten, zum "verwalteten
Objekt" zu werden.
Bleibt doch einmal "einer von denen, die unserer Hilfe bedürfen,
auf der Strecke", so hat Börner einen originellen Tip hinsicht-
lich des Schuldigen parat: Es ist die
"theoretisch reizvolle Diskussion", der "Schulenstreit über die
Ursachen..., die zur Fürsorgebedürftigkeit der Menschen führen",
der solches bewirkt, weshalb vor solcher Ursachendiskussion
"nicht genug gewarnt werden kann". Wenn schon feststeht, daß bei
unserer sozialstaatlichen Ausgestaltung der Armut der Pauperismus
nur durch die Frage nach Ursachen verursacht werden kann, so ist
erst recht der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß, wer
überhaupt fragt, anderes vorhat als bei der Organisation des
deutschen Massenelends - 2,1 Mio. Sozialhilfe-Empfänger, ca. sie-
benmal so viele mit Einkommen unter dem Sozialhilfesatz
(Frankfurter Rundschau, 25.4.80) - mitzuhelfen.
Die guten Sozialhilfegeister
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Wie nicht anders zu erwarten, mischten sich in den Jubelchor auch
einige kritische Stimmen, die diesen Vorwurf widerlegen wollten.
So die einer anständigen, sowohl von der Polizei als auch von
sich selbst gut kontrollierten Demonstration von Sozialhilfeemp-
fängern unter Anleitung ihrer staatlich besoldeten Sozialarbeiter
und die einiger engagierter Intellektueller, die dem Jubilar aus-
gerechnet sein traditionelles Glanzstück, die Erstellung des Wa-
renkorbes für die Armen (Haushaltstyp I, Rentner und Sozialhilfe-
empfänger) als eine
"nicht nur unter sozialstaatlichen Gesichtspunkten t e c h-
n i s c h schlechte Problemlösung" (Neue Praxis, April 80)
vorhielten.
Während der "Spiegel" (18/1980) die Tatsache, daß der Deutsche
Verein den Klienten der Fürsorge zur Stärkung des kostensparenden
Willens zur Selbsthilfe das Lebensnotwendigste an Strom-, Heizöl-
und Brotverbrauch mit verbindlicher Wirkung und genau kalkuliert
so vorrechnet, daß immer zu wenig herauskommt, als "bizarr" und
"weltfremd" charakterisiert und zum Anlaß mokanter Witzeleien
macht, rechnen die professionellen Menschenfreunde von der Sozi-
alarbeitsfront dem Staat vor, daß es nach ihrem Verständnis von
Menschenwürde und Sozialstaatlichkeit die Sorte Armut, die es
gibt, eigentlich gar nicht mehr geben dürfte:
"Er (der Warenkorb-Regelsatz) ist vielmehr als eine tief in die
Gesellschaft eingreifende Trennschicht zwischen Armutsbevölkerung
und einem Sozialprodukt zu begreifen, das solche Armut eigentlich
nicht mehr zuläßt." (Neue Praxis, a.a.O.)
Wer nicht bemerken will, daß das grammweise Abzählen von Hering
in Tomatensoße, Edamer Käse und Toilettenseife die einzige Exi-
stenzweise des Ideals der "menschenwürdigen Lebensführung" aus
Paragr 1 BSHG ist; wer sich lieber neben den näheren gesetzlichen
Ausgestaltungen der Menschenwürde in Paragr 22 BSHG (Festlegung
des Regelbedarfs) eine andere eigentliche Vorstellung von der
Würde des Menschen und den Zwecken des Sozialstaats macht, der
sieht natürlich anstatt der konsequenten sozialstaatlichen Spann-
keit gegenüber Leuten, die nichts außer Kosten bringen, die Kalo-
rienzähler in einem ständigen Widerspruch zur Menschenwürde; der
erwischt den Sozialstaat dauernd bei dummen Verstößen gegen die
Prinzipien, die er ihm zuvor angedichtet hat, wie gegen ein Sozi-
alprodukt, das doch, wie sein Name schon sagt, eigentlich nicht
zuläßt, daß es nicht an die Armen verteilt wird.
Vom Standpunkt dieser Illusionen aus werden die a b s i c h t s-
vollen Gemeinheiten der Sozialhilfe zu lauter F e h l lei-
stungen, die sich der "fehlenden Armutserfahrung" der Verant-
wortlichen, Gewohnheit ("eingeschliffene Strukturen"), schlechtem
Stil ("kleinkariertes Mengenschema") oder einfach "fehlendem
Durchblick" verdanken.
Der erfundene Widerspruch zwischen dem wachsenden Reichtum der
Nation und "solcher Armut", wie der Kritiker sie bei den Kunden
der Fürsorge vorfindet, weist schon darauf hin, daß dieser Wider-
spruch durch eine andere Sorte Armut, nämlich die, von einem Ar-
beitslohn leben zu können, eine von den Freunden der sozialen
Wohlfahrt gebilligte Lösung finden könnte. Bloß ist die nicht zu
haben, weil das Kapital schließlich kein Verein für öffentliche
und private Fürsorge ist, und die staatliche Fürsorge eben der
entsprechende staatliche Umgang mit den fürs Kapital Unbrauchba-
ren ist. Deswegen werden die guten kritischen Sozialhilfsgeister
wohl noch weitere 100 Jahre vom Staat mehr soziale Prinzipien-
treue fordern und der Staat noch weitere 100 Jahre dem kapitali-
stischen Prinzip der Armut, die auf der Vermehrung des Reichtums
beruht, hilfreich unter die Arme greifen. Es sei denn, es kommt
irgendetwas dazwischen.
***
In seinem editorial vom 26. Mai stellt der "Spiegel" mit Stolz
seine Mitarbeiterin, Frau Dr. Renate Merklein vor, "eine radikale
Liberale", die mit ihren "provozierenden Thesen" die Redaktions-
konferenzen, belebt. "Sie vertritt im Spiegel nur mit Verve ihre
Meinung". Zum Sozialstaat hat Frau Dr. die provozierend liberalen
Thesen neu ausgegraben, daß er Faulen und Arbeitsscheuen das Geld
in den Rachen schmeißt:
"Insgesamt lebten 1977 bereits 2,5 Prozent aller in Westdeutsch-
land wohnenden 18- bis 25jährigen von den Zahlungen der Sozialäm-
ter. Und es spricht viel dafür, daß zumindest ein Teil dieser Ju-
gendlicben nicht aus Mangel an Gelegenheit, sondern aus freien
Stücken den sicherlich schnöden Gelderwerb am Arbeitsmarkt meidet
und stattdessen das 'alternative Leben', das Leben von der gar
nicht so mageren Sozialhilfe nämlich, vorzieht."
Frau Dr. Merklein hingegen, über deren Einkommen wir hier keine
Vermutungen anstellen wollen, meidet die harte Arbeit keineswegs,
zum tausendsten Mal die unverschämte Lüge vom köstlichen Leben
mit der Sozialhilfe aufzuwärmen. Warum auch nicht, wenn man dafür
schnödes Geld bekommt.
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