Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK ALLGEMEIN - Die Verwaltung der Armut
zurückDER SOZIALSTAAT
Keiner möchte ein Sozialfall sein. Denn das heißt Armut. Den So- zialstaat hingegen hält fast jeder für eine großartige Errungen- schaft. Sehr eigenartig. Denn der behebt ja keinen einzigen der vielen "Sozialfälle". Armut, und zwar massenhafte und auf Dauer eingerichtete, gehört notwendig zum Sozialstaat. Der Staat findet die Armut nicht vor und "bekämpft" sie dann mehr oder weniger erfolgreich. Es ist umgekehrt. Er schafft massenhaft "sozial Schwache". Mit seiner Gewalt schützt der Staat das Eigen- tum und verpflichtet damit all jene, die keines haben, auf den Dienst an fremdem Reichtum. Ein Sachverhalt, der unter dem schön- färberischen Titel vom "harmonischen Zusammenwirken zwischen Ar- beitgeber und -nehmer" jedermann vertraut ist. Dieses Produkti- onsverhältnis stellt auf der einen Seite jede Menge Reichtum, also durch die Arbeit anderer vermehrtes Eigentum her; auf der anderen Seite die lebenslange Armut derer, die diesen Reichtum mehren. Das Merkwürdige an der Einkommensquelle Lohnarbeit ist nämlich, daß ein Auskommen mit dem erzielten Einkommen, also der Standpunkt des Bedarfs, dieser Art, seinen Lebensunterhalt zu be- streiten, völlig fremd ist. Lohnarbeit als einzige "Quelle" zur Einkommenserzielung versiegt immer dann abrupt, wenn sich kein Unternehmer von ihrer Anwendung einen Gewinn verspricht. Bei den notwendig auftretenden "Wechselfällen des Lebens" wie Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit finden sich die Eigentümer bloßer Ar- beitskraft mittellos in den Maschen des sozialen Netzes wieder. Der gesellschaftliche Reichtum ist zur Finanzierung dieser Armut selbstverständlich nicht vorgesehen. Das müssen die Armen unter sich ausmachen. Der Staat "hilft" ihnen dabei, als Sozialstaat trifft er Vorsorge gegen die gar nicht zufälligen "Lebensrisiken". Per Zwangsversicherungen kassiert Vater Staat Sozialbeiträge gleich an der "Quelle" (Er ist nämlich sicher, daß Lohn nie und nimmer dazu reicht, für "schlechte Zeiten" Vorsorge zu treffen) und macht die Arbeiterklasse - deren Existenz er an- sonsten heftig leugnet - für ihre kranken, alten oder außer Ar- beit gestellten Kollegen haftbar. Die Sozialkassen sind also so eingerichtet, daß sie unweigerlich knapp werden, denn wie soll auch der Lohn, der individuell nicht für die Wechselfälle eines Arbeiterlebens taugt, dies ausgerech- net dadurch leisten, daß zur Finanzierung der ausgemusterten Ar- beitskräfte die Klasse insgesamt einzustehen hat. Mit dem Prinzip der Kassenfinanzierung aus den Zwangsbeiträgen der Arbeiter stellt der Staat klar, daß ihm seine Steuergelder für die Alimen- tierung arbeitsunfähiger oder arbeitsloser Arbeiter zu schade sind. Wenn die Kosten im Sozialbereich mal wieder "explodieren", sei es, daß die Zahl der Arbeitslosen wächst oder die Kosten im Gesundheitswesen steigen, entsteht sozialstaatlicher Handlungsbe- darf: Kürzungen beim Arbeitslosengeld - Reform bei den Renten - "Dämpfung" bei den Krankheitskosten. Die ständigen Reformen in allen sozialen Abteilungen eint ein Prinzip: Verteuerung der Bei- tragszahlungen und Kürzungen bei den Leistungen. Sozialausgaben sind für die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums unnütze Kost. Und dieser Grundsatz gilt in unserem Gemeinwesen so sehr, daß der Staat das Geld, das er den Bürgern als Steuer abknöpft, gleich davor bewahrt, für solch "unproduktive" Ausgaben einge- setzt zu werden. Er hat den Standpunkt, daß Gelder, die für die Kompensation ausgefallenen Lohns benötigt werden, auch vom Lohn aufzubringen sind. Mit der Installierung des Kassenprinzips bei den Sozialversicherungen macht sich der Sozialstaat das Gegenteil dessen zum Anliegen, was sein Lob als soziale Solidar- und Aus- gleichsinstanz dauernd behaupten möchte. Von wegen nämlich, daß ein Teil des "gesellschaftlichen Reichtums" für die Alten, Kran- ken und Beschäftigungslosen "zur Verfügung gestellt" würde, damit auch sie ein Auskommen haben. Der Reichtum der Gesellschaft bleibt nämlich dank des Eigenfinanzierungsprinzips der Kassen da, wo er kapitalistischerweise auch hingehört: bei Staat und Kapi- tal. Ebensowenig stimmt die Vorstellung, Sozialversicherungen seien Töpfe, die die Arbeiter im Falle zweitweiliger oder definitiver Arbeitsunfähigkeit versichern sollten. Knapp zwar, wegen des Prinzips der Finanzierung aus Zwangsbeiträgen, auf dieser Basis aber immerhin dazu da, die Leute bei Eintritt des "Versicherungsfalles" durchzubringen. Am Beispiel der Arbeitslosenversicherung: Ein Blick ins Arbeits- losenförderungsgesetz belehrt einen da sehr schnell, daß eine Ar- beitslosenversicherung nicht dazu da ist, das wegen der Arbeitslosigkeit entfallende Einkommen auch nur teilweise zu er- setzen. Von Anfang an wird die Leistung der Arbeitslosenversiche- rung von einer für "Versicherugen" sehr eigenartigen Bedingung abhängig gemacht: Der Versicherungsnehmer muß nicht nur entspre- chend eingezahlt haben, sondern dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Leistungen erhält er also nur unter der Bedingung, daß er alles dafür tut, sobald als möglich nicht mehr darauf angewiesen zu sein. Die geleisteten Zahlungen befördern die Bereitschaft, Arbeit zu suchen: Arbeitslosengeld und -hilfe orientieren sich am Einkommen prinzipiell so, daß sie nur einen Bruchteil desselben darstellen, und auch dieser Bruchteil wird nur für einen begrenz- ten Zeitraum gewährt. Die Zumutbarkeitsklausel stellt zudem klar, ab wann ein Arbeitsloser bereit sein muß, einen schlechteren Job anzunehmen, will er nicht seiner Unterstützung verlustig gehen. Mit einer Versicherung gegen die Konsequenzen marktwirtschaftli- cher Benutzung hat die Arbeitslosenkasse also nichts zu tun. Mit ihr sorgt der Staat dafür, daß der Arbeitslose keine andere Al- ternative als den Dienst am Reichtum hat. Durch die Gestaltung seiner Zahlungen stellt er sicher, daß die Arbeiter dann, wenn sie nicht gebraucht werden, sich für die wechselnden Konjunkturen bereithalten. Ein prinzipieller Widerspruch also, den der Sozial- staat einrichtet: Gerade da, wo klar ist, daß aus Bereitschaft zur Arbeit noch lange kein Arbeitsplatz resultiert, hat ein Ar- beitsloser seine Bereitschaft zum Dienst an fremden Interessen unter Beweis zu stellen. Er hat "Initiative" zu zeigen und darf nicht über den Widerspruch verrückt werden, daß es überhaupt nicht an ihm liegt, ob sich ein Benutzer für ihn interessiert. Bei der in Gestalt der Arbeitslosenunterstützung erpreßten Lei- stung, sich für eine neue Abhängigkeit bereitzuhalten, scheiden sich die Geister: Die einen sagen irgendwann einmal 'lecko mio' und werden in Richtung Sozialfall verabschiedet. Die anderen lau- fen als Angebot auf zwei Beinen herum und werden genommen oder nicht. Nun werden die Gelder für die Sozialkassen zwar genau von denen eingezogen, die ihrer im eingetretenen Fall der Einkommenslosig- keit dringend bedürfen, ihre Auszahlung richtet sich umgekehrt nach ganz anderen Kriterien als deren Bedarf: Am Beispiel der Rentenversicherung: Hier sieht sich der Staat vor einem "Finanzierungsproblem" erlesener Art: Die Zahl der Renten steigt nämlich stetig an, weil das staatlich geschützte Lohnar- beiterdasein, u.a. dafür sorgt, daß eine Menge Arbeitnehmer früh verschlissen sind oder auch aus Rationalisierungsgründen Früh- rentner werden. Das System der sozialen Sicherheit zählt nach, wieviele aus dem Rententopf bedient werden müssen, und kommt da- bei ungerührt zu der Kritik an den Alten, daß sie zu spät ster- ben. Die staatlichen Finanzierungsschwierigkeiten sind nun aller- dings nicht Resultat einer "Bevölkerungsentwicklung", sondern Prinzip: Denn es ist ja gar nicht so, daß der Staat die einbehal- tenen "Versicherungs"-Beiträge bei sich aufsparen würde, um sie mit Eintritt ins Rentenalter wieder an die Einzahler zurückzahlen zu könne. Was Rentner bekommen, wird vielmehr aus den jeweils ak- tuell eingesammelten Beiträgen gezahlt. Mit einem quasi einver- nehmlichen "Generationenvertrag" hat dies allerdings rein gar nichts zu tun -- dafür sehr viel mit einer vom Staat erzwungenen Verknüpfung des Mangels der aktuell benutzten Lohnarbeiter mit dem Mangel der vernutzten und aussortierten Arbeitskraft. Die Sa- che ist die: Das, was die Arbeitgeber insgesamt für Arbeit zah- len, also was sich für sie als Lohnkosten lohnt, genau diese Summe soll und muß für die ausgemusterten Lohnarbeiter mitrei- chen. So perfekt organisiert der Sozialstaat die Lohnabhängigkeit bis ins Grab. Daß es höchst unerquicklich ist, im Kapitalismus zum "alten Ei- sen" zu zählen, wenn man im Unterschied zum Rentier nicht von ei- nem Geld lebt, "das für einen arbeitet", sondern sein ganzes Le- ben lang selbst gearbeitet hat und vom mageren Lohn ein Stück für die Altersvorsorge abzuknapsen gezwungen war, das weiß jeder. Die sogenannte "Altersarmut" ist nämlich keine Frage des Alters. Der im Kapitalismus massenhaft produzierte Reichtum steht genau so wenig wie den Alten den Jungen zur Verfügung. Für den aktiven Lohnarbeiter ist sein Beitrag zur Altersversorgung schlicht Lohn- abzug, und als Rentner hat er sich damit nicht eine Summe aufge- spart, die nun aufgezehrt wird, sondern ein Recht erworben. Das Recht, in seinen alten Tagen deutlich unterhalb des erzielten Lohnniveaus erhalten zu werden. Daß ohne eigene Beitragsleistung erst gar kein Rentenanspruch entsteht, heißt umgekehrt noch lange nicht, daß sich die Rente nach den abgeführten Beiträgen richten würde. Ganz unabhängig davon ist diese nämlich von vornherein auf 75 % des erzielten Durchschnittslohns begrenzt. Und die "individuelle Rentenbiographie" mit ihren beitragslosen und bei- tragsgeminderten Zeiten taugt nur zu einem: zur weiteren Kürzung der Rente unter diesen Höchstbetrag. So ist er, der Sozialstaat. Bis auf Heller und Pfennig rechnet er seinen Sozialfällen im Al- ter vor, wie arm sie schon vorher ihr ganzes Leben lang gewesen sind. zurück