Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK ALLGEMEIN - Die Verwaltung der Armut
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Aus Theorie und Praxis der Sozialarbeit
STICHWORT: SELBSTHILFE
Selbst-Hilfe für sich genommen ist ein Unding. Mit dem Wider-
spruch, daß jemand, der Hilfe nötig hat, alleine damit fertig
werden kann, es mit der Angewiesenheit auf Hilfe also gar nicht
so weit her sein kann, wird jeglicher Grund für eine
N o t w e n d i g k e i t von Hilfe glatt geleugnet - ein Stand-
punkt, dem der Staat mit seiner sozialpolitischen Gesetzgebung
praktisch Geltung verleiht. Nicht ohne Grund wird die "Hilfe zur
Selbsthilfe" deshalb zur A u f l a g e für diejenigen gemacht,
die ja gerade deshalb ins soziale Netz gerutscht sind, weil sie
sich selbst nicht mehr helfen können. Dementiert wird damit auch,
daß es um H i l f e geht: beabsichtigt ist nicht die Beseiti-
gung der Schäden, sondern ein Umgang der Hilfebedürftigen mit ih-
nen, der möglichst wenig Kosten verursacht - solange sie sich
selbst helfen, liegen sie dem Staat nicht auf der Tasche.
Daß in Zeiten, in denen sich jeder die Frage gefallen lassen muß,
ob er als Arbeiter, Student oder Rentner nicht zu teuer f ü r
d e n S t a a t ist, das Prinzip der Selbsthilfe in der staat-
lichen Sozialpolitik ganz oben steht, ist also kein Wunder.
"Neue Wege in der Sozialpolitik verlangen den verstärkten Einsatz
von Selbsthilfegruppen, damit einige Schwierigkeiten gemildert
und Aufgaben verlagert werden können." (Karl Carstens)
Selbst sollen die Leute mit ihrer Not fertig werden - und damit
dem staatlichen Sparbedürfnis besonders da Rechnung tragen, wo
sie mit ihrer ganzen Existenz von dem abhängen, was ihnen mit Ar-
beitslosengeld und Sozialhilfe zugemutet wird.
Selbsthilfe - der Weg zum eigenen Ich
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Anhänger von Selbsthilfegruppen, die in seltsamem Einklang mit
den staatlichen Forderungen allerorts entstehen, ficht das alles
nicht an. Sie sind sich sicher, daß die Selbsthilfe, die sie
praktizieren, etwas ganz anderes ist als die vom Staat gefor-
derte.
"Ein Hauptziel unserer Existenz und Öffentlichkeitsarbeit liegt
darin, immer wieder die Frage zu stellen und unserer Umwelt nach-
drücklich zu zeigen, daß sie unmenschlich mit ihren Minderheiten
umgeht. Als kleine Gruppe... können wir nur Bewußtsein wecken für
die Strukturen, die die Bürger eines Staates in Normale mit Men-
schenrechten und Abweichler ohne Menschenrechte einteilt.
Das andere Hauptziel ist davon untrennbar, nämlich daß wir unter-
einander gleichberechtigt miteinander umgehen lernen und unsere
Selbstachtung und die Achtung der Gesellschaft erlangen wollen."
Die Kritik an der staatlichen Fremdhilfe mutet schon seltsam an:
nicht, daß der Staat die Not als Kostenfrage behandelt, wenn er
an der Sozialhilfe oder am Arbeitslosengeld knappst, nicht die
Behandlung von Rentnern und Kranken als Belastung seines Sozial-
etats - sondern den Verlust an Selbstachtung, den diese Politik
erzeugt, hat man als störend zu begreifen. Das Verdikt
über die staatliche Sozialpolitik ist also auf eine absurde Weise
t o t a l: jenseits all dessen, was sie den Leuten zumutet,
schafft sie eine Betroffenheit, die es den Leuten schwer macht,
sich als Voll-Mitglieder dieser Gesellschaft zu fühlen - und das
nur deshalb, weil sie "fremd"- und nicht "selbst"-bestimmt ist.
Den I n h a l t e n der staatlichen Maßnahmen ist damit
zugleich die vollständige Absolution erteilt: "nur quantitativ",
"bürokratisch" usw. sind samt und sonders formelle Charakterisie-
rungen der "Fremdhilfe". die an deren ruinösen Beschränkungen der
Existenz der Leute keinen Anstoß nehmen wollen, sondern deren
A b s i c h t für durch und durch ehrbar halten - mit dem klei-
nen Unterschied, daß die Betroffenen etwas ganz anderes brauchen.
In den Selbsthilfegruppen wird nicht einfach bloß über die glei-
chen Sorgen und Nöte geklönt, Unmut über die bürokratischen Pro-
fessionellen ausgetauscht und sich wechselseitig unter die Arme
gegriffen. hier findet das Mitglied die Geborgenheit und Anerken-
nung, die ihm im bürgerlichen Alltag abgehen und die es braucht,
um mit "seinem Leben besser fertig zu werden".
Daß man mit seiner Misere besser zurechtkommt, wenn man eine an-
dere Einstellung zu sich selbst hat - dieses psychologische Pro-
gramm wird in Selbsthilfegruppen als praktizierte Kritik am sozi-
alpolitischen "Einheitsbrei" verstanden und damit erst recht zu
einer anerkennenswürdigen Alternative.
"Offenbar wird in der staatlichen Gesetzgebung familiäre Selbst-
hilfe also nur (!) als Mittel der Kostenersparnis gesehen; daß
inner- und außerfamiliäre Selbsthiife auch zu einer gegenüber dem
staatlichen Angebot qualitativ besseren Versorgung führen könnte,
wird demgegenüber vernachlässigt. Ebenso ausgeschlossen bleibt
die Möglichkeit einer Alternativen Unterstützung des Selbsthilfe-
potentials. Eine positive Bestimmung von Selbsthilfe müßte dage-
gen die Unterstützungsmöglichkeiten von Selbsthilfe ansprechen."
Als sozialpolitische Alternative, als die sie sich sehen, machen
Selbsthilfegruppen das Zurechtkommen mit der Welt zu einem Pro-
gramm der "Verantwortlichkeit", die jeder seinem Gegenüber schul-
dig ist. Die staatsbürgerliche Sehnsucht, daß nicht von "oben"
bestimmt, sondern von "unten" selbstverantwortlich gestaltet
wird, führen die Selbsthilfegruppen als D i s t a n z i e-
r u n g von der Welt schon durch: jeder ist - so wie er nun mal
ist - voll anerkannt und auch voll verantwortlich dafür, nicht
noch tiefer zu sinken - dafür bekommt er von der Gruppe das
Gratis-Gefühl, mit seinen Sorgen nicht allein dazustehen, sondern
einer von vielen zu sein.
Wer wie die Selbsthilfegruppen der Auffassung ist, daß im
"System" der sozialen Sicherung "der Mensch" zu kurz komme, für
den sind Grunde und Ursachen von Krankheit und Armut keine Frage
mehr. Wer dem eigenen "Schicksal" nur die Herausforderung ent-
nimmt, sich ihm zu stellen, dem ist jeder Gedanke an eine Gegner-
schaft gegen ein Sozialstaatsprogramm, das ihn praktisch zur Last
für "die Gesellschaft" erklärt, fremd. Diese p o s i t i v e
Einstellung, für sich selber eine Perspektive zu suchen, ist das
Gegenteil von der Absicht, etwas g e g e n diejenigen zu unter-
nehmen, die einem die eigene Misere bereiten. Statt zur Kenntnis
zu nehmen, daß die staatliche Sorge um die soziale Ordnung d e r
Grund für all das ist, womit man es zu tun bekommt, hängen
Selbsthilfegruppen der Idee von einer sozialen Ordnung an, in der
man sich voll und ganz geborgen fühlen kann.
Die Praxis der Selbsthilfegruppen - Selbsthilfe
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Mit diesem Rüstzeug eines Selbstbewußtseins ausgestattet, daß al-
lein dadurch, daß man mit Gleichbetroffenen zusammenhockt, kein
Problem mehr das gleiche ist wie vorher, fangen Selbsthilfegrup-
pen an, praktisch zu werden:
"Nun, Vorrang hat natürlich die Aussprache untereinander, d.h.
wir finden uns 14-tägig zusammen und diskutieren, wie wir uns und
den einzelnen helfen können. Wir gehen mit zu den Sozialämtern,
wir reden über die Widersprüche gegen die Bescheide des Sozi-
alamts und helfen bei der Formulierung. Wir helfen bei Anträgen
für das Sozialamt sowie auch bei Anträgen für einmalige Beihil-
fen. Kurzum: wir informieren über alle Fragen, die ein Sozialhil-
feempfänger hat."
Da sind sie ganz realistisch: mehr als die Sozialhilfe, das Ar-
beitslosengeld oder die Rente ist nicht drin für die Opfer staat-
licher Sozialpolitik - deshalb muß man sich darum kümmern, daß
sie wenigstens das bekommen. Das Desinteresse des Staats am
Wohlergehen der Leute interpretieren die Selbsthilfegruppen als
Unvermögen, die Hilfen ordentlich an den Mann zu bringen, und
deshalb entwickeln sie eine Menge Phantasie darin, wie man denn
trotz und mit diesen Trostlosigkeiten über die Runden kommt:
- linke Selbsthilfegruppen fangen an, aus ihrer Not ein Le-
bensprogramm zu machen: alternative Wohn-, Arbeits- und Therapie-
formen, in denen ganz "autonom" das gleiche gemacht wird, was
früher als "aufgezwungen" galt, sind schon deshalb ganz toll,
weil man selbst darauf gekommen ist. Dem Staat wird vorgelebt,
daß man gar nicht zum Ausschuß gehört - und man erst recht nicht
auf ihn angewiesen ist;
- praxisorientierte Selbsthilfegruppen entdecken "Lücken im so-
zialen Netz", die durch tatkräftiges Zupacken geschlossen werden
können. "Präventive Gesundheitsvorsorge", "Selbsthilfe von Herz-
kranken" und "Patienten-Hilfe" wird dort praktiziert, und das
Hauptproblem der Gruppenabende besteht in der heißen Frage, ob
man das ganze mit oder ohne "Professionelle" betreiben soll;
- christliche und fürsorgerisch orientierte Selbsthilfegruppen
halten das ganze für einen gelungenen Werbegag und interpretieren
ihre nachbarschaftlichen und caritasmäßigen Hilfsaktionen als
Ausdruck dieser neu entstandenen "Bewegung"... Wenn Ulis Tante
der Oma die -Kohlen aus dem Keller holt, dann hat sie nicht nur
eine gute Tat getan, sondern ist zudem sich selbst den Beweis ih-
rer Nützlichkeit für die Gemeinschaft nicht schuldig geblieben.
Motto: Wer anderen hilft, der hilft sich selbst am meisten.
Allen gemeinsam ist das selbstgeschaffene Problem, s i c h
s e l b s t verändern zu müssen - und sei es, daß man einfach
aktiv wird - wenn es wieder aufwärts gehen soll. Den Staat als
Verursacher der ganzen Misere sieht man dann auch mit ganz ande-
ren Augen: um nämlich selbst aktiv etwas auf die Beine stellen zu
können, ist man auf ihn - und seine Gelder - angewiesen und des-
halb fällt jeder Selbsthilfegruppe spätestens nach dem dritten
Gruppentreffen Vater Staat wieder ein - diesmal nicht als büro-
kratischer Moloch, sondern als positive Bedingung für die
"Ressourcen", die man zur Fortsetzung der Arbeit dringend
braucht.
Das "Qualitative" und "Menschliche", das die Gruppen an ihrer
Selbsthilfe so schätzen, ist als Angebot eine Sache, die sich
auch eine Kohl-Mannschaft unter dem Gesichtspunkt
k o s t e n d ä m p f e n d e r E f f e k t e für die Sozial-
ausgaben durch den Kopf gehen läßt. Die Anerkennung, die die
Selbsthilfegruppen landauf, landab ernten, macht diese allerdings
nicht darin irre, sich weiter - jetzt als staatlich geförderter
Verein - als Alternative mit g r u n d s ä t z l i c h anderer
Perspektive vorzukommen:
nicht vom Staat für seine Sozialpolitik in Anspruch genommen zu
werden, sondern den Staat für ihre Selbsthilfe in Anspruch zu
nehmen - und wie weit man bei beidem gehen darf, ohne sein Ge-
sicht zu verlieren - das schafft Stoff für heiße Diskussionen auf
den nächsten zehn Gruppentreffen.
Staatliche Selbsthilfe: das Gleiche, aber anders
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So weit liegen sie p r a k t i s c h also gar nicht auseinan-
der, die staatlichen Selbsthilfe-Fans, die die Armut den Leuten
als ihr Problem aufbürden, und die selbstaktiven Kritiker der
Fremdhilfe: Wenn die Politik die Leute darauf festlegt, nur dann
taugliche Mitglieder der Gesellschaft zu sein, wenn sie sich
nützlich machen (können), behaupten Selbsthilfegruppen, daß diese
Nützlichkeit in der Not sich erst richtig bewährt.
"Nur wenn verstärkt Menschen Menschen helfen, wächst die Qualität
unseres Gemeinwesens", meint der Bundeskanzler und ruft zu einer
Aktion "gegenseitiger Hilfe" auf.
Selbsthilfegruppen als V o r b i l d für die staatliche Verar-
mung der Leute - auch diese schäbige Rolle wird die Selbsthelfer
kaum von ihrem Idealismus abbringen, daß ihre Ziele deshalb ganz
andere sind, weil es doch auf wahre H i l f e ankommt. So stört
keiner den anderen: die Selbsthilfegruppen lassen in ihrer Kritik
nicht nach, daß die "Umkehr" in der Sozialpolitik nicht radikal
genug vollzogen wird, und der Staat bemüht sich nach Kräften,
seine "Fremdhilfe" auf ein Maß zu reduzieren, daß Selbsthilfe
sich ganz von allein einstellen
wird.
Zitate aus: Ilona Kickbusch/Alf Trojahn: Gemeinsam sind wir stär-
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