Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK ALLGEMEIN - Die Verwaltung der Armut


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       Münchner Hochschulzeitung, 25.03.1982
       Sonderausgabe Sozialwesen
       
       Der Sozialstaat über sich:
       

EINDEUTIGE KLARSTELLUNGEN

Ein in die BRD übergesiedelter und wieder in die SU zurückgekehr- ter Sowjetbürger hat kürzlich in der deutschsprachigen Moskauer Wochenzeitschrift "Neues Leben" einen Artikel über die Realität des bundesdeutschen Sozialstaats veröffentlicht. Der Beweiszweck war klar ausgesprochen: "Ich habe an meine Landsleute in Issyk geschrieben: 'Glaubt nicht den Märchen von der 'freien Welt', schätzt alles, was die Heimat euch gegeben hat.'" Schlagender noch als seine Charakterisierung hiesiger Zustände, für die er sich keine Lügen ausdenken mußte, macht das Dementi der zuständigen Stellen der BRD, denen Herr Neubauer unterstellt war, klar, worauf es im Westen, wenn es schon nicht auf ein ange- nehmes Leben geht, beim freien Bürger anzukommen hat. 1. Korrektur: Alles gelogen! ---------------------------- Alexander Neubauer war ein anständiger Bürger: "Mitarbeiter der Durchgangsstelle, die ständig mit dem Ehepaar Neubauer Kontakt hatten, glauben dem Bericht nicht. 'Herr Neu- bauer hat sich während seines Aufenthalts vom Juli 1979 bis zum 22. Mai 1981 niemals über etwas beschwert', sagte eine leitende Angestellte in der Wohnungsvermittlung. Er sei außerordentlich gewissenhaft gewesen und habe vor seiner Abreise noch die Lager- leitung darum gebeten, daß die städtischen Werke seinen Stromver- brauch abrechneten. Die quittierte Rechnung fand der Hausmeister in der Wohnung des Ehepaares. Sie liegt heute bei den Akten." Ein solcher Mensch kann doch unmöglich so undankbar gewesen sein, die Segnungen des Sozialstaats nicht widerspruchslos hinzunehmen und sich bei einem anderen Staat zu beklagen. Jeden Tag beschwe- ren sich bundesdeutsche Politiker über das Ärgernis, daß die "Sozialfälle" überhaupt leben wollen und dem Staat dadurch zur Last fallen, jeden Tag erlassen sie Bestimmungen, die den für un- nütz Erklärten die Existenz erschweren. Konstatiert ein Rußland- deutscher in einer Zeitschrift des feindlichen Staats die von Po- litikern in Gang gesetzte Not, führen sich die zuständigen Sozi- alstaatsbeamten zu einem Dementi veranlaßt, veranstalten eine Pseudo-Suche danach, weshalb denn wohl wer solche Behauptungen in die Welt gesetzt hat. Na klar: Wenn einer aus dem Osten eine Be- schwerde anmeldet, beweist die Beschwerde nur das Gegenteil. Ar- mut in der BRD? Wenn da nicht das Politbüro dahintersteckt! 2. Korrektur: Alles stimmt! --------------------------- Minutios wird Herrn A. Neubauer recht gegeben - im festen Bewuß- sein, daß alles seine Ordnung hatte, weil es ordnungsgemaß zugegangen ist. Jawohl, es gab einen Alexander Neubauer, der "wegen verschiedener Krankheiten nicht voll leistungsfähig" war und dessen "Verwendung im Büro" an mangelnden Sprachkenntnissen scheiterte. In die Diktion der zuständigen Sozialverwaltung geht die zweckmäßige Behandlung der Bürger durch Vater Staat als Selbstverständlichkeit ein: Jawohl, wer krank ist, ist dem Staat ein Ärgernis, weil er nicht arbeitsfähig ist, und das ist in ei- ner Gesellschaft, in der es auf die Benützbarkeit ankommt, ein Pech, mit dem jeder selbst fertig zu werden hat. Und Wer kein Geld hat, wird zur Kasse gebeten - so lange es geht: "Das Ehepaar Neubauer habe in dem 1960 errichteten Übergangswohn- heim II gewohnt. Es sei bekannt, daß im Sozialfall dort keine Miete gezahlt werden müssen. Für sein 24 qm großes Zimmer und die Küche habe Alexander Neubauer 186 DM monatlich gezahlt sowie Ge- bühren für das Inventar." Und sobald es geht: "Emma und ich erhielten eine Beihilfe (als Arbeitslose) - je 523 DM. Man warnte uns aber gleich: Sobald ich Arbeit gefunden habe, muß ich dieses Geld zurückzahlen." Beschwerden über die staatliche Behandlung unzufriedener freier Bürger sind überflüssig, weil die Gewaltausübung rechtmäßig vor sich geht: "Ich habe in diesen langen, düsteren Monaten viel gesehen, Streiks und Demonstrationen. Ich habe gesehen, wie man auf Men- schen einschlug, die für sich das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein forderten. Ich habe gesehen, wie junge Menschen in den Vierteln der Reichen leerstehende Wohnungen, die sie wegen der horrenden Mieten nicht bezahlen konnten, besetzten und wie man sie mit Tränengas und Gummiknüppeln wieder aus diesen Wohnungen vertrieb." (A. Neubauer) Im Polizeipräsidium für Mittelfranken werden die Schilderungen, daß man in Nürnberg besetzte Häuser 'in den Vierteln der Reichen' mit 'Tränengas und Gummiknüppeln' geräumt habe, als 'völlig abwe- gig' zurückgewiesen. Ein Sprecher sagte auf Anfrage, es hätten während des Aufenthalts der Familie Neubauer überhaupt nur zwei Hausräumungen ... stattgefunden. Dabei seien die Hausbesetzer von Polizeibeamten aus den Häusern getragen worden. Tränengas sei nicht ein einziges Mal verwendet worden." 3. Korrektur: Kein Grund zur Aufregung -------------------------------------- "Nicht verschweigt man bei den Mitarbeitern der Durchgangsstelle, daß es bei vielen Aussiedlern Integrationsprobleme gibt. Dies treffe vor allem auf Ältere zu." Das ist "bei uns" nämlich lässig drin: Ein "Sozialfall" hat seine Anerkennung. Er hat "Integrationsprobleme" - eine saubere Aus- kunft darüber, daß man sich abzufinden hat mit dem, was einem zu- gemutet wird. Dafür werden die Schwierigkeiten, die einem in den Weg gelegt werden, auch gehörig gewürdigt, eben als "Problem". Bildberichte vom "miserablen Zustand" von Sozialwohnungen, Aus- ländersammellagern und dergleichen mehr - aber immer. zurück