Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK ALLGEMEIN - Die Verwaltung der Armut
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Münchner Hochschulzeitung, 23.06.1981
Sonderausgabe Sozialwesen
Jürgen Roth: Armut in der Bundesrepublik
ARMUTSZEUGNIS FÜR DIE BRD
Während die Apologeten des "überstrapazierten Sozialstaates" Ar-
mut in der Wohlstandgesellschaft BRD nur noch als Randphänomen
auszumachen vermögen, tritt ROTH den Beweis dafür an, daß Armut
bis weit in die Phalanx angeblicher Wohlstandsbürger reiche. Daß
beide Lager mit ihrem Streit um das Ausmaß der Armut von der
wirklichen Armut in diesem Lande nichts wissen wollen, offenbart
gerade der kritische ROTH, der glaubt, seinem Staat mit seiner
(nicht zufällig bestsellerträchtigen) Philippika über die Armut
einen wuchtigen Nasenstüber versetzt zu haben.
Welche Maßeinheit hat die Armut?
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Mit facts & figures enthüllt ROTH dem Sozialstaat, daß seine Zah-
len aus der offiziellen Statistik eine andere "Interpretation"
brauchen, mehr noch aber, daß die offiziellen Armutsziffern ge-
schönt seien, da das Statistische Bundesamt unzureichende Meßin-
strumente verwende.
"Will man Armut messen, muß man verschiedene Indikatoren wählen"
doziert ROTH und will diesen Spruch nicht als Kritik an der Ar-
mutsforschung verstanden wissen denn e r w i l l m e s s e n.
Dabei könnte ihm doch am zweiten Teil seines Satzes auffallen
("wählen"!), daß man mit dem Messen der Armut dabei ist, festzu-
legen, was das E x i s t e n z m i n i m u m sein soll, welche
Einschränkungen die Menschen demnach als Nicht-Armut hinzunehmen
haben und ab wann sie sich zu Recht über "zu wenig" aufregen dür-
fen. Der Streit der Armutsforscher geht daher - wie Renate MER-
KLEIN in ihrer SPIEGEL-Serie über "soziale Gerechtigkeit und ihre
Folge" genüßlich vorrechnet - über die Indikatoren, die anerkann-
termaßen Armut signalisieren. ROTH gehört in diesem Streit zur
Fraktion fortschrittlicher Forscher, die die Armutsgrenze mög-
lichst weit oben ansetzen und möglichst viele Faktoren berück-
sichtigt sehen wollen Wo der Deutsche Verein für öffentliche und
private Fürsorge im Auftrag der Bundesregierung mit dem mickrigen
Warenkorb für Sozialhilfeempfänger die offizielle Armutsgrenze
exakt knapp unterhalb des E i n k o m m e n s eines Hilfsarbei-
ters festlegt, damit die Armut eines Unqualifizierten für den So-
zialhilfeempfänger auch weiterhin ein Anreiz also Zwang zur Ar-
beit bleibt, redet Jürgen ROTH mit den Staatsexperten darüber,
daß der Indikator "Einkommen" zu e i n d i m e n s i o n a l
sei. Neben einem a u ß e r o r d e n t l i c h niedrigen Ein-
kommen möchte er eine Reihe zusätzlicher außerordentlicher Um-
stände einbeziehen, und wirft sich damit zum Richter darüber auf,
was als selbstverständlich akzeptierter Standard dessen gelten
soll, was man eben auszuhalten hat. Da müssen hohe Mieten zu ei-
nem niedrigen Einkommen hinzutreten (als wäre die Höhe einer
Miete nicht durch das niedrige Einkommen untragbar), die Familie
muß kinderreich sein Herbert QUANDT hat 6!), das Wohnviertel und
die Wohnung in einem gesundheitsschädigenden Zustand sein (also
das Geld zum Umzug fehlen), physische oder psychische Krankheiten
und Invalidität (Richard OETKER!) mindestens aber
Arbeitslosigkeit (also zu niedriges Arbeitslosen g e l d) oder
hohes Alter bei niedriger (sic!) Rente gegeben sein, damit das
ganz normale Leben der arbeitenden Massen von seinen
A u s w ü c h s e n zu trennen ist die bei ROTH immer nur dann
auftreten, wenn sich eine Reihe ungünstiger Bedingungen verket-
tet.
ROTH hebt sich von der Mafia hochbezahlter Armutsgrenzenfestleger
nicht nur dadurch ab, daß er Kreise, die bei anderen noch zur
Klasse der Überflußgesellsehaftsmitglieder zählen, zu den "Armen"
rechnen möchte; seine kritische Qualität bewährt er darin, daß
bei ihm der Grund der Armut - die Arbeit - immerhin vorkommt:
"Das Bild der Armut ist nicht nur durch das Fehlen materieller
Mittel sondern auch durch die Stellung im Produktionsprozeß be-
stimmt, unerträgliche, unzumutbare Arbeitsbedingungen, Überar-
beit, Frauenmitarbeit..."
Doch auch die Sphäre der Ausbeutung verwandelt sich vor seinem
messenden Blick: Die Frage nach dem Maß der Unerträglichkeit und
Unzumutbarkeit legt mit den Indikatoren immer auch zugleich den
Bereich der Mühen fest, die zu ertragen, daher zumutbar sind; die
Suche nach den Grenzen der Ü b e r arbeit stört sich an der
N o r m a l arbeit wenig, und wenn die Arbeit für die Frauen un-
zuträglich ist, wird sie den Männern kaum besser bekommen.
Der mit Hilfe zusätzlicher Indikatoren und mittels einer höheren
Bemessungsgrenze von ROTH aufgedeckte Skandal liegt daher auf der
Hand: Während die offizielle Armenstatistik nur 3,5% der Bevölke-
rung (über 2 Millionen) als arm, da sozialhilfeberechtigt aner-
kennt, findet der kritische Statistiker 26% Arme. ("Mehr als 14
Millionen Menschen ... leben heute in der BRD in Armut.") Die üb-
rigen, also diejenigen, die aus seinem Indikatorenraster heraus-
fallen, weil sie ein Einkommen beziehen, mit dem sie (nicht aber
der Erfolgsautor) auszukommen haben, weil sie über Facharbeiter-
qualifikation verfügen und in ihrer Wohnung auch noch ein Bad ha-
ben, leben für ROTH in respektablem Wohlstand. Daß deren Lebens-
standard nur über den Vergleich mit dem weitschweifig beschriebe-
nen und anderweitig vorhandenen Elend als Wohlstand firmieren
kann, sieht man schon daran daß auch eine Facharbeiterqualifika-
tion nicht vor lebenslanger Fabrikarbeitsmühe schützt und noch
niemanden davor bewahrt hat, im Zuge von Rationalisierungen,
Krankheit oder Invalidität arbeitslos zu werden und damit in das
soziale Milieu abzusteigen, in dem ROTH die Armut in der BRD
andedeln will. Gerade seine ausgiebige Beschäftigung mit der Lage
der arbeitenden Klasse in Deutschland hätte dem Autor die Augen
dafür öffnen können, worin in einem modernen, florierenden Kapi-
talismus die Armut besteht: im Zwang, ein Leben lang (sei es als
Fach- oder sonstiger Arbeiter) eine Arbeit zu verrichten, von der
ein Schriftsteller sehr wohl weiß, warum er sie nicht macht.
Die "Krise des Sozialstaates"
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Mit seinen "Untersuchungen und Reportagen" mit dem Skandal der 14
Millionen Armen, will ROTH den verantwortlichen Politikern die
"Blindheit" nehmen, als wüßten die nicht ganz genau, daß der
Reichtum dieses Staates auf der Armut seiner Bürger beruht, die
sie zwingt, fleißig zu arbeiten. Ein Sozialforscher mag sich ein-
bilden zwei Drittel der "Arbeitnehmer" seien nicht arm und die
Sozialgesetze seien für das restliche Drittel eine "unzureichende
Hilfe", Sozialpolitiker wissen das besser; sie machen nämlich die
Gesetze, die genügend Zwangsvorschriften enthalten, damit die von
Sozialleistungen Bedachten weiter schön bei ihrer Arbeit bleiben
oder sich wieder einen zumutbaren (!) Arbeitsplatz suchen und
sich nicht etwa einbilden, Sozialleistungen seien etwa eine
H i l f e. Die von ROTH beklagte Senkung der Sozialleistungen,
die er für einen "Abbau an Sozialstaat" hält resultiert nicht aus
einer "Blindheit" der Politiker, sondern aus deren selbstbewußtem
Kalkül den Sozialstaat dafür einzusetzen, wofür sie ihn geschaf-
fen haben: nämlich dem Arbeitswillen der Bevölkerung nackdrück-
lich nachzu h e l f e n. Bei einer allgemeinen jahrelangen Real-
lohnsenkung der arbeitenden Bevölkerung müssen natürlich auch die
Sozialleistungen real sinken; bei 1 Million Arbeitslose muß na-
türlich der Druck, sich auch unter schlechteren Bedingungen zu
verdingen, zunehmen usw. Dies alles ist nur für jemanden ein
Widerspruch zu den "eigentlichen Aufgaben des Sozialstaates", der
dessen (z.B. im Bundessozialhilfegesetz niedergelegte) Prinzipien
nicht zur Kenntnis nehmen will (etwa: "Bei der Festsetzung der
Regelsätze ist darauf Bedacht zu nehmen, daß sie ... unter dem
... Netto-Arbeitsentgelt unterer Lohngruppen zuzügl. Kindergeld
bleiben." Paragr. 4 Regelsatzverordnung).
Weil der Sozialstaat nicht das leistet was sich ROTH einbildet,
was er leisten sollte nämlich den Arbeitslosen Arbeit verschaf-
fen, die 14 Millionen außerordentlich Armen auf das Niveau der
restlichen Bevölkerung hieven (und dabei die Superreichen auf de-
ren Standard herabdrücken), die Arbeit ordentlich humanisieren
usw. zieht der Autor durch die deutschen Lande, um in der Öffent-
lichkeit ein "Bewußtsein davon zu schaffen", daß sich der Sozial-
staat "in einer Krise" befinde. Ist ihm eigentlich noch nicht
aufgefallen, daß selten die Bevölkerung der BRD zufriedener mit
ihrem Staat war als heute? Hat er noch nie gehört, daß einer der
wenigen Kritikpunkte, die die arbeitenden Massen am Staat auszu-
setzen haben, der ist, daß er den "Faulen und Schmarotzern" viel
zu viel zukommen lasse?
ROTHs Abschaffung der Armut
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Aus einer solchen Kritik an den hiesigen Zuständen, die sich ein
besseres Ich des Sozialstaats und seiner Macher ausdenkt, um den
wirklichen Sozialstaat daran zu blamieren, folgt natürlich noch
nicht einmal die Konsequenz, die von ROTH entdeckte 26%-ige Armut
sei radikal abzuschaffen, weil die "Leute eine radikale Lösung eh
nicht mehr erleben", will er wenigstens "eine Situation herbei-
führen, wo die Leute noch etwas davon haben" - nur was er da zu
bieten hat! Der Armuts- und Elendsreporter wurde noch nicht ein-
mal rot(h), als er sich an die Ausführung seiner "realistischen
Forderungen" machte;
- Die "Erhöhung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau" ver-
schafft den Bedürftigen eine kleine, laute und immer noch teuere
Wohznung in einer trostlosen Trabantenstadt und den Haus- und
Grundbesitzern mittels staatlicher Subventionen die Gelegenheit,
mit der Armut ihrer Mieter überhaupt noch ein Geschäft machen zu
können.
- Die "Erhöhung des Sozialhilfesatzes um DM 50,-" ist eine andere
seiner "realistischen" Forderungen (auf deren Erfüllung er sicher
nicht mehr lange zu warten braucht), deren Wohltat sich aller-
dings nur jemandem erschließt, der mit DM 480,- (also künftig DM
530,-} Regelsatz auszukommen hat.
Man sieht also, was es mit ROTHs rhetorischem Kokettieren mit
"radikalen Lösungen" auf sich hat. Es gehört heutzutage zum guten
Ton von Gesellschaftskritikern wie ihres intellektuellen Publi-
kums mit dem Gedanken der Radikalität zu spielen um sich seufzend
zu "realistischen Lösungen" durchzuringen. Nur die Einbildung es
gehe nun mal nicht anderes, kann denen ein gutes Gewissen ver-
schaffen, die jetzt: oder künftig) davon leben, in intellektuel-
len Berufen ihren Beitrag zur Produktion und zur Verwaltung der
Armut zu leisten, und deshalb nebenher die Ideologie des Mitleids
mit den Opfern und von deren Unvermeidlichkeit pflegen.
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