Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK ALLGEMEIN - Die Verwaltung der Armut
zurück Dortmunder Hochschulzeitung Nr. 43, 22.05.1984EINE KRITISCHE APOLOGIE DES SOZIALSTAATES
Abschätzige Meinungen zur Realität bundesdeutscher Sozialpolitik sind bei Herrn MANN durchaus nicht verboten, es wird ihnen im Ge- genteil meist bestätigt, daß da "was dran" sei. Eine konsequente Abrechnung (wenigsten theoretisch) mit dieser Abteilung Politik in Ansehung ihres Grundes, ihres Zwecks und ihrer Konsequenzen für die Betroffenen ist allerdings weder vorgesehen noch er- wünscht. Daran, daß eine solche Argumentation nicht die Wahrheit auf ihrer Seite hätte, kann das nicht liegen. Schließlich ist es nun einmal so, daß sozialstaatliche Maßnahmen wunderschön zum Rest der Politik passen: es kann keine Rede davon sein, daß Sozi- alpolitiker andere, bessere, menschenfreundlichere politische An- liegen verfolgen als ihre Kollegen von der Abteilung Recht oder Wirtschaft. Die negativen Folgen der rechtspolitisch abgesicher- ten und wirtschaftspolitisch auf Wachstumskurs gebrachten Eigen- tumsordnung, die hierzulande existiert: all jene "sozialen Pro- blemfälle", mit denen es der Sozialstaat zu tun hat, sind als selbstverständliche Grundlage sozialpolitischen Engagements aner- kannt und eingeplant (der Sozialminister muß um seinen Arbeits- platz bestimmt nicht bangen). Und die Zielsetzung solcher Aktivi- täten hat nichts mit einer "Schadenswiedergutmachung" oder gar "Schadensvorbeugung" im Interesse der Opfer "der Wirtschaft" zu tun; vielmehr geht es bestenfalls darum, die lebendige Gundlage unseres florierenden Ausbeutungssystems, altmodisch Arbeiter- klasse genannt, tauglich zu erhalten, weshalb die "Hilfsmaßnahmen" (die die Betroffenen zudem selbst finanzieren müssen) entsprechend aussehen (vom Arbeitslosengeld läßt sich eben noch schlechter leben als vom normalen Mickerlohn, und das ist als Zwangsmittel zur Herstellung immerwährender "Disponibilität" und "Mobilität" ganz bewußt so eingerichtet!). Davon, daß auch hier noch beständig "gekürzt" und "gestrichen" wird, wenn Politiker andere Staatsausgaben für weit wichtiger be- finden, gar nicht erst zu reden. Dergleichen Klarstellungen, denen "partiell" "Grundauffassung" eines Sozialpolitiktheoretikers ab, sofern sie als ernsthafter prinzipieller Einwand gegen die übliche Hochschätzung der Sozial- politik verstanden sein wollen. Warum, darüber gibt eine "Definition" Aufschluß, die Herr MANN seiner Auffassung zugrun- delegt: "Alle Organisationen des sozialen Systems sollen im Grunde (!) den Wertbegriff 'Solidarität' verdeutlichen. Dies bedeutet: Ge- meinschaft als ein Mittel, individuelle Risiken auszugleichen, füreinander einzustehen in der Not." Nach zwei Seiten hin ist diese "Definition" von Sozialpolitik be- merkenswert. E r s t e n s wird die rührende Vorstellung ver- fochten, sozialstaatliche Einrichtungen dienten weniger knallhar- ten praktischen Kalkülen des Staats in Sachen Regelung und Ver- waltung selbstproduzierter Opfer, vielmehr handelte es sich um die institutionelle V e r k ö r p e r u n g e i n e r h u m a n i t ä r e n M o r a l, jenes Wertes 'Solidarität'. Und vor lauter Rührung über diese eigens erdachte Idylle vergißt man ganz, daß man eine Zwangs"gemeinschaft" vor sich hat (Versicherungswesen), die todsichere, weil im Wesen der Markt- wirtschaft liegende "Risiken" nicht etwa "ausgleicht", sondern deren Folgen staatsdienlich abwickelt; davon, daß selbst eine ganz ganz freiwillige und humanistisch inspirierte 'Solidarität' (wenn es so was gäbe) nur Zeugnis und Moral herrschender N o t wäre (ohne diese also höchst überflüssig), ganz zu schweigen. Z w e i t e n s hat man sich mit dem unscheinbaren, aber so fol- genreichen Wörtchen "im Grunde" gänzlich abgeschottet gegen jede Widerlegung: da kann geschehen was will und von der beschworenen Solidarität keine Spur sein - daß es "im Grunde" eben doch darum geht, bzw. gehen mußte, kann man umso vehementer trotzig vertre- ten; ein grundsätzlich anderes Urteil über den Sozialstaat ist ein für allemal ausgeschlossen, der sozialpolitische Idealismus ist wasserdicht gemacht. So kann Herr MANN die weitere Befassung mit der Realität des So- zialstaats lässig unter das Motto stellen: "Das muß man genau analysieren, was aus einer von Solidarität ge- tragenen Sache geworden ist." Ab jetzt (d.h.: auf Grundlage obiger "Definition") kann man lau- ter kritische Urteile zur Sozialpolitik produzieren - und doch ist keines davon ein wirklicher Einwand. Weil man sich zum G l a u b e n an die eigentlich guten Aufgaben der Sozialpolitik entschlossen hat, ist jeder Beleg des G e g e n t e i l s von vornherein bloß ein Beleg für V e r s ä u m n i s s e, für V e r f e h l u n g e n, für ein S c h e i t e r n, V e r s a g e n etc. Wie wenig es deshalb auch darauf ankommt, w e l c h e Art von Kritik einem da so einfällt, das zeigen die von MANN verhandelten Varianten. So wurde u.a. auch die "linke" Sozialstaatskritik vor- gestellt, die da lautet: "Der Sozialstaat dient bloß dem Erhalt des kapitalistischen Sy- stems; schaden werden nur rein r e a k t i v ausgeglichen, statt sie zu vermeiden; es gibt eine schädliche D o m i n a n z des Subsystems der Wirtschaft." Erstens sind solche Sprüche Pflichtübungen: was es mit dem "kapitalistischen System" auf sich hat, w a r u m notwendig Op- fer anfallen, w i e der Sozialstaat für den "Erhalt" sorgt, das alles ist wenig interessant. Viel wichtiger ist der Gedanke, der Sozialstaat, der doch "bloß" wegen und für den Kapitalismus ein- gerichtet ist, v e r n a c h l ä s s i g e seine Pflichten, wenn er seinem Geschäft nachgeht - weil man "eigentlich" von ihm wünscht, daß er jene "Risiken" überflüssig machen soll (als ob es ihn dann bräuchte: da müßte er ja glatt eine Revolution machen, unser Staat!). Oder noch höflicher gedacht: vielleicht steht "die Wirtschaft" zu sehr im Vordergrund und sollte sich ein wenig mehr zurückhalten mehr "Soziales" wäre schon recht (wieder: als ob es das nicht wegen "der Wirtschaft" gäbe!). Aber genauso kennt und schätzt man eine ganz andersgeartete Kritik: "Anonymität, Verrechtlichung, Bürokratie und mangelnde Transpa- renz haben dazu geführt, daß die Cleveren den Sozialstaat ausnut- zen können und die wirklich Bedürftigen nichts abkriegen." Selbst wenn man mal übersieht, daß solche Rede auch von CSU-Seite zu hören ist, wo in heuchlerischer Sorge um die "wirklich Bedürf- tigen" gegen den Sozialstaat überhaupt gewettert wird, weil er viel zu viel des Guten tut, was zum Schmarotzen führt etc. pp. Was übrigbleibt bei dieser Kritik der "Verbürokratisierung" der Sozialpolitik ist in jedem Fall die Idee, daß eigentlich schon die bestehenden Gesetze und Vorschriften völlig ausreichend sind und in Ordnung gehen. B e m ä n g e l t wird nurmehr, daß es immer wieder Leute geben soll, die gar nicht kriegen, was ihnen z u s t e h t - wegen der "Bürokratie". Der Vorwurf geht nurmehr dahin, daß die Umsetzung der Sozialpolitik U n g e r e c h t i g k e i t e n schaffe - wie derjenige, der davon verschont wird, mit seiner Sozialhilfe oder seiner Rente dasteht, das ist überhaupt nicht mehr der Rede wert. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt dazu - und das scheint Herrn MANNs Lieblingsidee zu sein -, Anklage und Ent- schuldigung gleich in eins fallen zu lassen: der Staat k ö n n e gar nicht wirklich "helfen", w e i l er "bürokratisch" und "anonym" sei. Wer diesen Übergang mitmacht und bei der "Alternative" anlandet, Selbsthilfegruppen würden es bringen, der ist so ziemlich vollständig davon weg, die m a t e r i e l l e n Zumutungen anzugreifen, denen ein "Sozialfall" staatlicherseits ausgesetzt wird, weil "Hilfe" eh nicht vorgesehen ist. Stattdes- sen kann man dann in der psychologischen Seite den eigentlichen Skandal sehen: "Anonyme" Sozialstaatsleistungen "entwürdigen" bzw. "entmündigen" den Menschen, beschädigen sein "Selbstwertgefühl" etc. Von hier aus (aber nur dann) erscheint es als naheliegender Ausweg, Eigeninitiative als Betroffene zu ent- wickeln und wechselseitige 'Solidarität' walten zu lassen. Das bringt zwar materiell noch weniger als die miese Unterstützung, die man von oben kriegt - aber die eigene soziale Moral hat man wenigstens betätigt (übrigens genau das, was den Politikern, denen der Sozialstaat zu teuer ist, recht sein kann). So kann man dann schlußendlich sogar Herrn MANNs idealistische "Definition" (siehe oben) wahrmachen: die Ideologie von der auch so humanitären Sozialpolitik retten, indem man sie s e l b e r p r a k t i z i e r t... zurück