Quelle: Archiv MG - BRD SOZIALPOLITIK ALLGEMEIN - Die Verwaltung der Armut
zurückWIE WIRD MAN EIN SOZIALFALL?
Man nehme: 1. Ein E i n k o m m e n a u s u n s e l b s t ä n d i g e r A r b e i t. Das garantiert nämlich zumeist durch seine Höhe im Verhältnis zu den Lebensnotwendigkeiten, denen ein Einkommensbe- zieher nachkommt, d.h. genauer im Verhältnis zu den Preisen, die dafür zu entrichten sind, daß es Monat für Monat, Jahr für Jahr a u f g e b r a u c h t wird. Man nehme: 2. Einen W e c h s e l f a l l d e s L e b e n s. Die ereig- nen sich so gesetzmäßig wie das Amen in der Kirche. Das Wechsel- hafte an ihnen besteht bloß darin, daß nicht vorher feststeht, wen es wann wie trifft. Z.B. die vielfältigen Gründe, die einen Anwender unselbstständi- ger Arbeit dazu veranlassen, das Arbeitsverhältnis und damit das Einkommen zu beenden, Betriebsauflösung, Pleite, Verlagerung, Ra- tionalisierung. Oder die Wechselfälle machen den Einkommensbezie- her für seinen Anwender untauglich: die übermäßige Entwicklung körperlicher Gebrechen, Invalidität oder schlicht das Alter. Oder der Wechselfall tritt schon gleich in der Jugend ein, und es kommt gar kein Arbeitsverhältnis zustande. Oder: Eine besondere Art unselbstständigen Einkommens wird gekündigt, eine Ehe geht in die Brüche, und der bislang nicht geldverdienende Teil wird frei- gestellt. Diese beiden Zutaten genügen schon völlig für die Karriere nach unten, auch wenn gewisse Sorten von Vermögen vorhanden sind. Die verflüchtigen sich nämlich schnell, wenn sie bloß für den Lebens- unterhalt herangezogen werden, was im übrigen von der staatlichen Armutsbetreuung auch so vorgesehen ist. Wenn 1. und 2. zusammenkommen, befindet man sich in einem soge- nannten sozialen Netz, das sich, wie der Name schon sagt, durch die absichtsvoll freigelassenen Löcher, durch seine Durchlässig- keit auszeichnet. Als Karrierenhilfe hat das soziale Netz die fortschreitende Abnahme von Geldzuwendungen installiert. Säuber- lich werden die Anspruchsberechtigten überprüft und befristet, damit der betreffende sich möglichst bald wieder selber hilft oder zumindest anderen, in diesem Falle "uns allen", nicht zur Last fällt. Andererseits werden auch Arbeitslose nicht gleich in den Pauperismus entlassen, sondern je nach Dauer ihres vorherigen Dienstes dürfen sie noch eine Weile in der staatlich verwalteten Reservearmee auf Abruf bereitstehen. Man nehme 3. Die P e r s ö n l i c h k e i t. Die hat auch ihr Recht, denn wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft. Einige Tugenden des Zusammenreißens sind schon verlangt, um in den Genuß von 1. zu kommen. Je nachdem wie der Einkommensbezieher diesen seinen Part erledigt, kann er sich aktiv am Zustandekommen von 2. beteiligen. Schon mit ein paar durchgesoffenen Nächten, mit einer übertriebenen Empfänglichkeit für Krankheiten, mit leicht nach oben vom Betriebsdurchschnitt abweichenden Fehlzeiten kann man sich auszeichnen. Ein vernachlässigtes Äußeres oder andere Wei- sen, sich gehen zu lassen, leisten, an der richtigen Stelle und zum richtigen Zeitpunkt vorgebracht, denselben Dienst. Oder auch das mutwillige Aufs-Spiel-Setzen der Vorteile einer geregelten Ehe. Dieselbe freiheitliche Beteiligung bleibt aber auch gewährlei- stet, wenn die Stufe des Sozialfalls schon erreicht ist. Man k a n n nämlich mit diesem Umstand so verfahren, daß man hart- näckig allen Gelegenheiten hinterherrennt, ihn wieder zu verlas- sen. Man k a n n durch eiserne Disziplin - im Umgang mit den paar Kröten -, durch die Vermeidung unangenehm schäbigen Auftre- tens und mit viel Eigeninitiative beim Suchen nach und Ausprobie- ren von Gelegenheiten wieder zu 1. zurückkehren - soweit es die sogenannten Gelegenheiten gibt. Man kann aber ebensogut einige dieser Leistungen vermissen las- sen, zumal wenn die Gelegenheiten ausbleiben. Man kann darüber hinaus die Prozeduren des sozialen Netzes, Anmeldefristen, Formu- lare, Nachweise etc. als Mittel zum weiteren Aufstieg nach unten einsetzen, indem man sie nicht kennt oder verschlampt oder ein- fach nicht erfüllt. Man kann sich dann auch noch die Gunst seiner Angehörigen verscherzen, indem man sich in unangenehmer Weise auf sie angewiesen zeigt. Man kann schließlich auch noch den Stand- punkt leben, daß einem sowieso alles scheißegal ist. Dies alles ist nicht zuletzt eine Frage des persönlichen Ge- schmacks. Ob man über Jahre hinweg unauffällig dahinlebt und an den fälligen Terminen auf den verschiedenen Ämtern höflichst um seine Zuteilung ansteht, oder ob man die penetranteren, in den südlichen Ländern mehr ausgeprägten demonstrativen Weisen des Armseins pflegt und daraus sogar auf öffentlichen Plätzen eine Methode des Gelderwerbs zu machen sucht. Allerdings auch eine Frage des Geschmacks der öffentlichen Behörden, denn eine Verun- zierung des Stadtbildes muß ja auch nicht unbedingt sein. zurück