Quelle: Archiv MG - BRD RECHTSSTAAT ALLGEMEIN - Eine humanitäre Errungenschaft?
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VERHINDERT DAS STRAFRECHT VERBRECHEN?
Kaum wurde eine Oma überfallen, wird der Ruf nach strikter Anwen-
dung des Strafrechts laut. Ganz unbeteiligte Zeitungsleser ent-
nehmen dem Fall, daß es unsicher geworden sei, sich auf die
Straße zu begeben, und rufen nach der Staatsgewalt gegen den Tä-
ter in der Überzeugung, daß nur so ihr Schutz vor dem bösen Nach-
barn, der ihnen ans Leder will, garantiert sei. Ein solcher Rufer
nach der Gewalt des Rechts täuscht sich gleich doppelt: erstens
in seinem Adressaten, der Staatsgewalt, der er unterstellt, sie
habe sich die Aufgabe gestellt, Verbrechen zu
v e r h i n d e r n, und zweitens in dem Glauben, dies sei für
i h n, seinen Schutz vor Verbrechen da.
Daß das Strafrecht nicht der Verhinderung des Verbrechens dient,
kann man schon daran ersehen: die Verbrechen, die geschehen, pas-
sieren nicht im rechtsfreien Raum; sie werden ja nicht verübt,
weil es das Strafrecht nicht gäbe. Vielmehr gibt es das Straf-
recht, und daneben und gleichzeitig geschehen Raubmord, Vergewal-
tigung, Kindesmißhandlung und was sonst noch zum zwar verpönten
aber gewohnten Repertoir an Umgangsformen gehört, die Bürger mit-
einander pflegen.
Darüber, daß derartige Gepflogenheiten zum Alltag der von ihm be-
aufsichtigten Gesellschaft gehören, ist sich gerade der Staat am
sichersten. In seinem Strafrecht malt er ein regelrechtes
Sittengemälde davon. Jeder strafrechtlich erfaßte Tatbestand be-
ruht auf der Gewißheit, daß die Tat laufend begangen wird.
Daß das Strafrecht das Verbrechen unterstellt, von seinem Vorhan-
densein ausgeht, zeigt sich auch am Zeitpunkt seiner Anwendung.
Schließlich tritt es immer dann in Aktion, wenn der Mord , der
angeblich verhindert werden sollte, bereits geschehen ist. An der
Wirksamkeit eines Sicherheitsgurts, den man anlegt, wenn man be-
reits mit dem Kopf durch die Frontscheibe gegangen ist, hätte man
schließlich auch berechtigte Zweifel.
Nun mag man einwenden, daß in diesen Fällen, in denen das Verbre-
chen geschehen ist, das Strafrecht sein Ziel gerade nicht er-
reicht habe. Wenn das Strafrecht schon nicht die Verbrechen
verhindert, die geschehen, dann vielleicht diejenigen, die
n i c h t geschehen? Hat vielleicht die Strafandrohung den bra-
ven Teil der Menschheit von Mord & Totschlag abgeschreckt?
Strafrecht = Abschreckung?
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Die Abschreckungsvorstellung ist in einer Hinsicht recht gestän-
dig. In der Ordnung, die das Recht eingerichtet hat, gibt es of-
fensichtlich keinen anderen Grund, sich an die "Regeln" zu hal-
ten, als die Gewalt des Staates, die mit Strafe droht. Wo die
Vermeidung eines Schadens d e r Grund für Rechtstreue ist, da
gibt es einen g u t e n Grund zum Mitmachen für die Mehrzahl
offensichtlich nicht. Wie auch! Die Beziehungen der Leute in der
bürgerlichen Ordnung sind solcherart, daß sie eher ständig Gründe
haben, einander zu schaden und an die Gurgel zu fahren. Entgegen
anderslautenden Gerüchten ist dies ein Zustand, der nicht vom
Wolf im Menschen herrührt, sondern vom Staat und seinem Rechtswe-
sen selbst e r z e u g t ist.
Das Recht schützt das Privateigentum. Vor wem? Erstens vor den
anderen Privateigentümern, denen es auferlegt, nur über eine Ge-
genleistung sich fremdes Eigentum anzueignen, zweitens und vor
allem aber vor denjenigen, die keins haben. Die müssen dadurch so
tun, als hätten sie ein Stück Eigentum zu verkaufen: ihre Ar-
beitskraft. Die verkaufen sie dann an die, die was damit anfangen
können, die Eigentümer von Produktionsmitteln, die dann auch ge-
rechterweise die Früchte ihres Einkaufs ernten. Die Eigentumslo-
sen dagegen stehen vor der Lebensperspektive, sich ihre Gesund-
heit verschleißen zu lassen für einen Lohn, der nicht nur keine
große Sprünge erlaubt, sondern auch die Notwendigkeit, sich für
andere dienstbar zu machen, verewigt. So läuft ein rechtschaffe-
nes und gesetzestreues Leben für die meisten auf einigen Verzicht
hinaus, weil die Rechtsordnung das Kapital ermächtigt, seine In-
teressen gegen die der Arbeiter durchzusetzen. Kein Wunder, daß
bei denen, die zu nichts kommen, der Wunsch nach einer Korrektur
dieses Ergebnisses wach wird. Wer auf gesetzestreuem Weg ständig
Mißerfolge einfährt, diese Mißerfolge speziell in seinem Fall für
ungerecht befindet, der macht sich schon mal daran, die Wirkungen
der Eigentumsordnung durch Rechtsbruch zu korrigieren. Es ist
also die das Eigentum schützende Rechtsordnung selbst, die die
"kriminelle Energie" bei denen erzeugt, die sie dann verfolgt!
Dies gilt selbst noch im allerprivatesten Bereich, wo niemand es
so schnell erwartet. Wo das Eherecht die Zuneigung zweier Perso-
nen zu einem Verhältnis von Pflichten ausgestaltet, da ist so
viel sicher, daß - Zuneigung hin oder her - die Familie der Zwang
ist, mit den in der Regel bescheidenen finanziellen Mitteln und
dafür viel unentgeltlichem Einsatz sich gegenseitig und den Nach-
wuchs über die Runden zu bringen. Wer die Härten der Not-
gemeinschaft Familie, die das Eherecht mit seinen Verpflichtun-
gen, füreinander aufzukommen, einbrockt, nicht dem Staat, sondern
dem Ehepartner anlastet, der ist schon mitten im Ehekrieg. Da be-
kriegen sich R e c h t s ansprüche auf gewisse Pflichten der an-
deren Seite, und da es sich zudem um so hohe Güter wie Bratkar-
toffeln, Glück und Liebe geht, fliegen immer wieder die Fetzen.
Die Reihe der Beispiele ließe sich durch alle Sparten des Rechts
verlängern. Überall ist es das Recht, das den idyllischen Zustand
erst in Kraft setzt, in dem es zu den ersten Selbstverständlich-
keiten gehört, daß man für materiellen und anderen Erfolg über
Leichen geht. Vom Staat, der mit seinem Bürgerlichen Gesetzbuch
also selbst die Gründe für das Verbrechen in die Welt setzt,
Schutz davor zu erwarten, das hieße doch wohl den Bock zum Gärt-
ner machen!
Mit seinem Strafrecht tut der Staat etwas ganz anderes: Mit der
Androhung von Strafe sorgt er dafür, daß der Rechtsbruch zwecks
Korrektur erlittener "Schicksale" zur A u s n a h m e degra-
diert wird. Gemütlicher wird die Welt dadurch nicht. Denn erstens
sind alle r e c h t m ä ß i g e n Schädigungen des guten Nach-
barn weiterhin erlaubt - Stichwort Gift am Arbeitsplatz, Entlas-
sungen... Und zweitens ist bei unrechtmäßig angefallenen Opfern
W i e d e r g u t m a c h u n g nicht bezweckt.
Auf die S t r a f e verzichtet allerdings kein Staat: die Schä-
digung des Opfers e r g ä n z t er um diejenige des Täters.
Der Zweck der Strafe
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Der diesbezügliche Irrtum der Abschreckungstheorie besteht in dem
Glauben, die Strafe würde an Bürger A vollstreckt, d a m i t
Bürger B nicht straffällig werde. Eine durchaus bezweckte
W i r k u n g der Strafe wird da nämlich mit deren Z w e c k
verwechselt. Das Wissen um die Bestrafung anderer hat ja schon
Bürger A nicht vor dem Rechtsbruch abgehalten. Und eine Rückfall-
quote von 80% zeigt, daß nicht einmal diejenigen, an denen die
Strafe vollstreckt wird, durch sie abgeschreckt werden. Das ver-
unsichert den Rechtsstaat jedoch in keiner Weise. Was er will und
braucht, ist der Respekt der Bürger vor seinem Monopolanspruch
aufs gewaltsame Regeln der gesellschaftlichen Gegensätze. Und den
stellt die Staatsgewalt genauso unverdrossen wieder her, wie er
versagt wird: Sie läßt den Rechtsbrecher büßen. Am Täter wird
geahndet, daß er es wagte, sich ü b e r das Recht zu stellen.
Nun wird er mit Freiheitsentzug und Vermögensschäden unter es ge-
beugt und damit die Gültigkeit des Rechts wiederhergestellt. Die
B r e c h u n g d e s g e s e t z e s u n t r e u e n
W i l l e n s ist der Zweck der Strafe.
Man sieht: Der S c h a d e n, der da "geheilt" werden soll, ist
nicht der, der einem B ü r g e r widerfahren ist, sondern ein
sehr viel prinzipiellerer. Wenn V e r b r e c h e n bestraft
werden, reagiert der S t a a t als Betroffener. Das Unrecht,
das er beseitigt, hat mit dem Schaden an Leben, Gesundheit, Ei-
gentum eines Bürgers nur so viel zu tun, daß der Staat daran eine
Verletzung s e i n e s A n s p r u c h s a u f
G e h o r s a m entdeckt und ahndet.
Und das war's dann auch schon: Das Opfer ist tot und wird nicht
wieder lebendig, die geklaute Handtasche kommt nicht dadurch wie-
der zurück, daß der Räuber in den Knast wandert - der Schaden der
Bürger wird also nirgends behoben, aber mit der Strafe am Täter
klargestellt, daß die Vorschriften, mit denen der Staat die Ge-
gensätze seiner Klassengesellschaft aufrechterhält, g e l t e n.
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