Quelle: Archiv MG - BRD KERNENERGIE ALLGEMEIN - Von der strahlenden Gegenwart
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STRAHLEN-STAATS-SCHUTZ-WISSENSCHAFT
Über die b i o l o g i s c h e W i r k u n g der Radioaktivi-
tät wissen die damit befaßten Experten nur zu gut Bescheid:
"1. Radioaktive Strahlung kann in Körperzellen direkt oder indi-
rekt Atome und Moleküle ionisieren, d.h. Elektronen aus dem Atom-
verband abtrennen. Die dabei entstehenden Stoffe blockieren in
weiterfolgenden chemischen Reaktionen die Bildung der für die
Zellen lebenswichtigen Desoxyribonukleinsäure, die DNS-Synthese,
und führen damit den Strahlentod der Zelle herbei. ... Man unter-
scheidet somit drei Arten von Strahlenschäden: akute Schäden mit
Übelkeit, Entzündungen, Fieber, Durchfall, die zum Tode führen
können... späte Schäden in Form von Krebserkrankungen beim Be-
troffenen... die Auslösung von biologisch schädlichen Erbänderun-
gen bei späteren Generationen..." (Michalis, Handbuch d. Kerner-
gie, S. 677)
Sie wissen auch, daß solche organischen Schädigungen durchaus
nicht einfach von der inkorporierten Strahlendosis, sondern
zugleich von einer ganzen Reihe anderer Faktoren abhängen (wie
z.B. der Strahlenart, dem Weg der Strahlung, den Expositionsver-
hältnissen, der Restitutionsfähigkeit des Organismus, usw.), wes-
halb es eine verträgliche Strahlenbelastung per se nicht gibt:
"Die Wechselwirkung zwischen Dosis und Wirkung ist... komplex."
(Lc., S. 679)
"jede noch so geringe Strahlung kann aber Mutationen im Erbgut
und auch Krebs hervorrufen. Die Wahrscheinlichkeit steigt mit der
Dosis. Es gibt keinen Schwellenwert, der ungefährlich wäre."
(FAZ)
Diese Feststellungen hindern die Atom- und Strahlenfachleute al-
lerdings nicht daran, das für unmöglich Befundene dennoch zu ver-
suchen und die u n k a l k u l i e r b a r e n F o l g e n der
Strahlung mit dem Pathos größter Wissenschaftlichkeit zu
k a l k u l i e r e n, als könnten sie mit Hilfe von Wahrschein-
lichkeitsrechnungen, passend gewählten Vergleichen und anderen
Instrumenten der E i n s c h ä t z u n g den längst bekannten
G r u n d des 'Strahlenrisikos' zum Verschwinden bringen.
Die erste Glanzleistung in dieser Hinsicht ist den beteiligten
Naturwirten mit der Schaffung einer Maßeinheit für biologisch
wirksame Strahlenmengen gelungen, dem sogenannten rem (radiation
bzw. rd bzw. Röntgen equivalent man; so genau kommt's, wie man
den bei verschiedenen Autoren verschiedenen BezugsgrÖßen ansieht,
offenbar nicht darauf an!):
"Die in der Einheit rem (rd equivalent man) gemessene Äquivalent-
dosis (H) ist die Energiedosis (D) unter Berücksichtigung des Be-
wertungsfaktors (q), also 1 rem = 1 rd . q." (Michaelis, S. 677)
Die Kombination e i n e r Bestimmungsgröße der Strahlung - der
absorbierten Energie -, der für sich keine spezifische biologi-
sche Wirkung entspricht (weshalb sie, siehe oben, auch unbescha-
det gegen ganz andere Größen wie z.B. die Ionendosis ausgetauscht
werden kann, für die dasselbe gilt), mit einem "Erfahrungswert" Q
bzw. q (S. 676), der anhand beobachteter Strahlenschäden die
d u r c h s c h n i t t l i c h e Beteiligung verschiedener und
verschieden wirkender Strahlenarten als Ausdruck ihrer "relativen
biologischen Wirksamkeit" "bewertet", die leider keiner spezifi-
schen Eigenschaft der Strahlung zugeordnet werden kann - weil sie
außerhalb der Statistik gar nicht existiert -, m i ß t natür-
lich auch nichts. Die famose "Maßeinheit" erlaubt aber immerhin,
wenn schon keine z w i n g e n d e n, so doch zumindest i m
D u r c h s c h n i t t w a h r s c h e i n l i c h e Schlüsse
von der verabreichten Strahlendosis auf die vermutliche Wirkung
zu ziehen. Davon mögen diejenigen, die - wie bei Durchschnitts-
rechnungen so üblich - aus den Durchschnittsannahmen herausfal-
len, nichts haben; nur interessiert sich jemand, der ausdrücklich
die Belast b a r k e i t des Menschen durch radioaktive Strah-
lung herauskriegen will, sowieso nicht dafür, solche Belastungen
in jedem Fall auszuschalten.
Der U m g a n g der Strahlen'schützer' mit der einmal ge- bzw.
erfundenen Einheit 'rem' macht diesen Standpunkt denn auch hin-
reichend deutlich: Sie fragen sich, bei wieviel rem wohl wieviel
Strahlenschäden zu erwarten sind, womit sie die angeblich gemes-
sene Schäd l i c h k e i t der Strahlung - die in 'rem' doch
schon ausgedrückt sein soll - noch einmal von der tatsächlich
feststellbaren Schäd i g u n g unterscheiden und ihren Willen
zum Ausdruck bringen, zur Beurteilung der Strahlenfolgen ein für
allemal kein anderes Kriterium als ihr (na, für wen?) zumutbares
Ausmaß gelten zu lassen. Mit derselben Logik, die ihnen zunächst
den Unterschied von Ursache und Wirkung plausibel machte -"weil"
die Verstrahlung nicht in jedem Fall eine Erkrankung nach sich zu
ziehen braucht, muß man sich statt nach der Wirkung nach der
"Durchschnittswirksamkeit" der Strahlung erkundigen -, tut jetzt
die I d e n t i t ä t von Wirkung und Ursache gute Dienste -
und aus dem statistischen Anfall eindeutig auf Strahleneinwirkung
zurückführbarer Krebstoter (gering) läßt sich messerscharf ein
wohl ebenso geringes Gefährdungs'potential' der Radioaktivität
erschließen. Obwohl hier dasselbe wie anfangs gilt - eine festge-
stellte Durchschnittswirkung sagt über die Ursache dieser Wirkung
und damit auch über künftige Risiken überhaupt nichts aus -,
nehmen sie ihre rückwärtsgewandte Spekulation als feststehende
Tatsache und leiten daraus ihre Hochrechnungen auf die Zukunft
ab:
"Die Internationale Strahlenschutzkomon (ICRP) geht davon aus
(!), daß ein (zusätzliches) 'rem' bei einer Million bestrahlter
Personen 100 (zusätzliche) Krebstote verursacht." Fußnote des Au-
tors: "Der Referenzwert (!) des ICRP (1977) ist nunmehr 125. Für
die deutsche Bevölkerung liegt der 'Erwartungsbereich' gemäß der
Dt. Risikostudie zwischen 80 und 200.... National Academy of
Sciences (NAS)... 77 bis 226 zusätzliche Krebstodesfälle."
(Michaelis, S. 697)
Was tut's, daß jeder auf ein anderes Ergebnis kommt; Notwendig-
keit darf man bei einer reinen Wahrscheinlichkeitsrechnung eh
nicht erwarten, und der Raum, den die Herren Strahlendemoskopen
dem Z u f a l l vorbehalten, ist doch wahrlich eng bemessen!
Für Leute, denen sowohl rem wie Stochastik böhmische Dörfer sind,
halten die Fachleute schließlich ihr dümmstes und brutalstes Be-
ruhigungsgeschütz parat, eine Unzahl der originellsten
V e r g l e i c h e. Hier kommt es allein auf den 'schlagenden'
Maßstab an, und das Prinzip solchen Verfahrens kann gleich selbst
als Werbemittel eingesetzt werden:
"Ionisierenden Strahlen kann man nicht entgehen. Man kann aber
übertriebener Angst vor der unsichtbaren (!) Gefährdung entge-
genwirken. wenn man sich die alltägliche, nicht durch kerntechni-
sche Unfälle (!) hervorgerufene Strahlenbelastung vergegenwär-
tigt." (FAZ)
Abgesehen davon, daß die nicht außergewöhnliche Verstrahlung
durch AKWs hier gemütlich unter die sowieso "alltäglichen" Bela-
stungen gerechnet wird: Aus der Feststellung, daß die
"natürliche" und "zivilisationsbedingte" Strahlenbelastung für
sich schon hoch genug ist, nicht etwa die Notwendigkeit ihrer Re-
duzierung, sondern im Gegenteil zu schlußfolgern, daß sie dann
ruhig noch ein bißchen h ö h e r sein könnte, ist schon eine
seltene Unverfrorenheit.
Noch besser der Vergleich des Herrn Michaelis zwischen den Um-
weltrisiken von Kohle- und Kernkraftwerken:
"Kohlekraftwerke emittieren mit ihrer Flugasche auch Radioaktivi-
tät. Dies ist seit langem bekannt." (Daschauher!) "Das sie damit
die Umgebung aber mehr - fast 100mal so stark - belasten als
Kernkraftwerke, ist das überraschende Ergebnis einer Anfang Fe-
bruar 1978 bekanntgegebenen Untersuchung." (Lc., S. 788)
Und überhaupt sind die traditionellen Kraftwerke republikbekannte
Luft- und Bodenverpester mit entweder lumpigen oder sündhaft teu-
ren Reinigungssystemen... Die Rückrichtslosigkeit des Staats auf
einem Gebiet scheint eben nichts anderes beweisen zu können, als
daß dieselbe Rücksichtslosigkeit dann auf anderen erst recht an-
gebracht ist. Auch die vertrauten Toten an deutschen Arbeitsplät-
zen -
"Bundeskanzler H. Schmidt" (auf dem Sektor des politischen Zynis-
mus sicher ein zitierenswerter Experte) "wies am 4. Juli 1979...
auf die 15.500 Bergleute hin, die zwischen 1949 und 1978 in den
deutschen Steinkohlerevieren ihr Leben verloren..." (S. 796) -
sprechen unwiderleglich für die Lebensqualität der Energiear-
beitsplätze der Zukunft. Da kommt Freude auf, und die Wahl der
richtigen Neger reißt den Fachmann zum vorläufigen Höhepunkt der
Vergleicherei hin. Worin besteht nämlich ein unstrittiger Plus-
punkt der strahlenden Energie z.B. gegenüber der Solarenergie?
"Rüstet man 10.000 Häuser mit thermischen Sonnenkollektoren für
die partielle Raumheizung aus und läßt man sie nur zweimal im
Jahr säubern, so ergeben sich jährlich 20.000 Arbeiten auf den
Dächern. Die Zahl der zu erwartenden Unfälle ist auch dann schon
recht hoch, wenn diese Arbeiten von Fachleuten ausgeführt werden.
Dies zeigen die Unfallstatistiken des Dachdeckerhandwerks. Nicht
fachlich vorgebildete und ausgerüstete Privatleute wären bei sol-
chen Arbeiten vor allem auf verschneiten Dächern weit mehr ge-
fährdet..." (S. 796)
Wie die Statistik dahingegen umgekehrt lehrt, ist auf radioakti-
ven Strahlen bisher noch niemand, auch kein Privatmann im Winter,
ausgerutscht...
Die Bemühung, Strahlenwirkungen erstens zur Dämpfung "über-
triebener Ängste" und zweitens zur Hochrechnung der allenfalls
einzukalkulierenden Opfer in ihrem wahrscheinlichen und
vergleichsweisen Umfang abzuschätzen, geht eben so wenig von den
Betroffenen aus, daß sie ihnen auch einmal ganz dumm kommt. Sie
denkt für den Staat, dem - und nur dem bei der Durchsetzung sei-
ner energiepolitischen Ziele weder an Unruhe im Volk noch an mehr
als unvermeidlicher, Schädigung seines Menschenmaterials gelegen
ist.
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