Quelle: Archiv MG - BRD GEWERKSCHAFT ALLGEMEIN - Politik auf Kosten der Arbeiter
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"Mies, skandalös und schädlich"?
DER STREIK DER REICHSBAHNER
Mit den bundesdeutschen Verhältnissen haben die Arbeiter aus der
ehemaligen DDR auch das Streikrecht bekommen, jene großartige de-
mokratische Errungenschaft, die den neuen Kollegen von drüben 40
Jahre lang durch die SED-Herrschaft schändlich vorenthalten
wurde. Jetzt dürfen auch sie endlich streiken. Und tatsächlich:
Kürzlich haben rund 250.000 Eisenbahner dieses Recht in Anspruch
genommen und knapp zwei Tage lang Güter- und Personenfernverkehr
lahmgelegt. Die Nation reagierte geschlossen mit einem entsetzten
Aufschrei: So war die Sache mit dem Streikrecht wirklich nicht
gemeint.
Die Arbeiter bei der Reichsbahn erhalten derzeit ca. 45 Prozent
des Lohns ihrer westdeutschen Kollegen bei der Bundesbahn. Damit
bekommen die Ex-DDRler den Hungerlohn, der für die Ostzone für
die nächste Zeit vorgesehen ist. Ungefähr 70.000 von ihnen, so
die Reichsbahnleitung, sollen bis 1995 nicht einmal mehr den be-
kommen, weil diese Anzahl Arbeiter vom nun geltenden marktwirt-
schaftlichen Standpunkt der Betriebsführung aus überflüssig ist.
Billiglohn für die einen, Arbeitslosigkeit für die anderen, das
ist auch bei der Reichsbahn das unumstrittene kapitalistische
Mittel, aus dem Ostteil der Nation eine profitträchtige Zone zu
machen.
Die Eisenbahner sehen das so ähnlich. Als richtige
D e u t s c h e, die sie seit ihrem Anschluß sind, glauben sie
zwar felsenfest daran, daß auch ihnen letztlich zusteht, was die
anderen Deutschen bekommen. Gleichzeitig ist diesen neuen Kolle-
gen aber ebenso klar, daß sie wg. "Produktivität", "Leistung",
"Stasi" und überhaupt vorläufig nur Deutsche zweiter Klasse sind,
was sich zwar nicht auf dem Wahlzettel, aber dafür überdeutlich
im Geldbeutel niederschlagen muß. Dieses bescheidene Urteil über
sich haben die Ex-DDR-Arbeiter von allen entscheidenden Institu-
tionen und nicht zuletzt von den aus dem Westen importierten Ge-
werkschaften gelernt. Deren "Angleichung der Lebensbedingungen
von West und Ost" hat zur Grundlage, daß die Kapitalisierung der
Zone unbehelligt von Arbeiteransprüchen vonstatten geht. So auch
die GdED, die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands.
Die Forderungen
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haben die Zweitklassigkeit ihrer neuen Mitglieder im Osten zum
Maßstab genommen:
- 50 bis 60 Prozent des Lohns, der Eisenbahnern im Westen gezahlt
wird, sollten nach Ansicht der Gewerkschaft gut genug für die
Bahnarbeiter Marke Ost sein - ganz gerecht nach der Formel, daß
halben Deutschen eben nur der halbe Lohn zusteht. Lohnkosten, so
sieht es auch die GdED, müssen für das nationale Aufbauwerk in
der ehemaligen DDR auch bei der Reichsbahn besonders niedrig
sein. Dafür, dachte sie, sei der halbe Lohn gerade richtig. Und
wenn die Gegenseite nicht einmal den zahlen würde, dann wollte
die Gewerkschaft daran jedenfalls die Verhandlungen auch nicht
scheitern lassen.
"Priorität hat der Kündigungsschutz" (Ein Sprecher der GdED)
- Ein Kündigungsschutz, wie ihn die Eisenbahner im Westen haben,
also die Unkündbarkeit von Arbeitern, die über 40 und bereits
fünfzehn Jahre bei der Bahn sind, war die Forderung gegen die ge-
plante Entlassung von 70.000 Reichsbahnern bis 1995. Ein Schutz
vor Kündigungen war mit der Forderung nach "Kündigungsschutz" von
vornherein nicht gemeint. Mit dieser Vokabel meint die GdED viel-
mehr eine Gestaltung des akzeptierten Personalabbaus, die sie so-
zial findet:
"Nach Einschätzungen des GdED-Vorsitzenden blockieren die Gewerk-
schaftsforderungen nicht den notwendigen Personalabbau von rund
70.000 Reichsbahnern."
Sozial verträglich findet die Gewerkschaft Entlassungswellen, bei
denen sie die A u s w a h l der Opfer vornehmen darf, nachdem
die Reichsbahn vorher die Z a h l d e r O p f e r festgelegt
hatte. Wer unter 40 ist und sich die Treue des Betriebs nicht
durch 15jährige eigene Treue schon verdient hat, geht - selbst-
verständlich mit dem größten Bedauern der Gewerkschaft - aber
doch gerechterweise stempeln; irgendwer muß ja schließlich gehen,
wenn die Bilanzen der Bahn besser werden sollen. Die Art und
Weise der Abwicklung der kapitalistischen Härten, keineswegs ihre
Verhinderung war von vornherein die Forderung der Gewerkschaft.
Die Gegenseite
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ließ sich nicht lumpen. Ihr gingen selbst die erbärmlichen Forde-
rungen der GdED noch viel zu weit. Mehr Geld, das ist für Ostei-
senbahner nicht drin. Unter der neuen kapitalistischen Rechnung
macht die Reichsbahn nämlich Verluste, und für die haben selbst-
verständlich die Arbeiter geradezustehen:
"Der Präsident der Reichsbahndirektion, Günther, verteidigte ge-
stern die Verhandlungsführung der Arbeitgeberseite in der vergan-
genen Woche. Er verwies darauf, daß die Reichsbahn im laufenden
Jahr mit einem Defizit von 500 Millionen Mark rechnen müsse. Dies
sei zum einen auf den dramatischen Rückgang der Gütertransporte,
aber auch auf die gegenüber dem Vorjahr sinkende Zahl von Zugrei-
senden zurückzuführen."
Außerdem, so das Versprechen der Reichsbahn, seien für die kom-
menden Jahre Investitionen in Milliardenhöhe geplant. Das muß
doch selbst die Billiglöhner überzeugen, daß da kein Geld für sie
drin ist, wenn man ihnen schon solche Investitionen schenkt.
Die Forderung nach einer sozialen Gestaltung der anstehenden Ent-
lassungen hält die Reichsbahn für eine Zumutung: da soll eine
Gruppe der Beschäftigten einfach aus der Kalkulation mit der Ge-
sundschrumpfung herausfallen und nicht entlassen werden dürfen:
"Günther verwies darauf, daß die Reichsbahn mit der Vereinigung
Deutschlands Teil des öffentlichen Dienstes sei. Einer so
weitreichenden Forderung wie der nach einem umfassenden Kündi-
gungsschutz könne daher ohne eine Zustimmung durch die Bonner Mi-
nister für Verkehr, Finanzen und Inneres nicht nachgekommen wer-
den."
Das ist frech. Sich erst darauf berufen, daß man jetzt zum großen
Ganzen des Öffentlichen Dienstes gehört, um sich dann vom ober-
sten Chef sagen zu lassen, daß für einen Teil des Öffentlichen
Dienstes, die Reichsbahn nämlich, Extra-Gesetze gelten müssen.
Auf der einen Seite die ungemein bescheidenen Forderungen der
GdED, auf der anderen die glatte Ablehnung dieser Forderungen
durch die Reichsbahn. Unversöhnliche Standpunkte - sollte man
meinen; Deswegen jedoch ist der "durchschlagendste Arbeitskampf
seit je" n i c h t zustande gekommen.
Der Streik
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"Der Vorstand der Reichsbahn, der ein völlig desorganisiertes Un-
ternehmen vertrete, habe keinerlei Ahnung von Tarifpolitik, sagte
der GdED-Vorsitzende Rudi Schäfer in Bonn. Bei der Bundesbahn
wäre es nie zu einer derartigen Eskalation in einer Tarifausein-
andersetzung gekommen. Schäfer verwies darauf, daß es der GdED
bisher gelungen sei, ihre Mitglieder im Bereich der Bundesbahn
von Solidaritätsstreiks abzuhalten.
Hätte der Reichsbahnvorstand sich etwas mehr bewegt, statt fast
drei Wochen ungenutzt verstreichen zu lassen, könnte ein Vertrag
längst abgeschlossen sein."
Rudi Schäfer hat einen Streik organisiert, von dem er gleich vor-
weg bekanntgab, daß er ihn eigentlich für unnötig hält. Nicht die
Ablehnung seiner Forderungen, sondern die g l a t t e Ablehnung
kann eine Gewerkschaft sich nicht bieten lassen. Hätte sich die
Reichsbahnleitung nur ein wenig b e w e g t, dann wäre die GdED
zu allen Kompromissen bereit gewesen. Ist es die diplomatische
Kunst, zu verhandeln und doch so gut wie nichts herauszurücken,
die die Reichsbahnleitung noch nicht beherrscht, und auf die die
Gewerkschaft ein Recht erhebt? Wie wenig B e w e g u n g hätte
denn genügt, Herr Schäfer?
Antwort auf diese Fragen gibt die weitere Entwicklung:
Die GdED kündigte eine Urabstimmung an, und 95 Prozent der Eisen-
bahner stimmten für den Streik.
Der nahm dann allerdings eine Wendung, mit der die GdED nicht ge-
rechnet hatte. Die Reichsbahner haben nämlich den Beschluß ihrer
Gewerkschaft, sowie die Billigung des Beschlusses durch 95 Pro-
zent ihrer Mitglieder so aufgefaßt, wie er lautet: Jetzt ist
Streik, und das heißt, es wird nicht mehr gearbeitet:
"Die Bereitschaft, für den Erhalt der Arbeitsplätze zu kämpfen,
ist sehr hoch. Derzeit ist es sogar so, daß wir viele Kollegen
bremsen müssen, die an Stellen arbeiten, die nicht bestreikt wer-
den. (Ein gewisser Hans Gass von der zentralen Streikleitung)
Bahnhofsleiter Eberhard Fuchs akzeptiert nicht, daß sich bei-
spielsweise das Personal der Wartung einfach dem Streik ange-
schlossen hat, obwohl konkret festgelegt war, daß nur der Fern-
verkehr betroffen ist."
Daß aus dem Streikbeschluß ein richtiger flächendeckender Streik,
ein - wie es im Land der Tariffreiheit schon immer abwertend
heißt - "Erzwingungsstreik" wurde, war für das neue Deutschland
offenbar eine völlig unerwartete Entwicklung: die Öffentlichkeit
heulte auf. Sie witterte Verrat an der nationalen Sache, und
durch alle Medien hindurch und über alle Stammtische hinweg wurde
der schweinische "Egoismus" der Eisenbahner gegeißelt, die, statt
billig zu arbeiten oder stempeln zu gehen, sich "unser" Geld un-
ter den Nagel reißen wollten. "Ein mieser Streik" befand "Bild"
stellvertretend für alle wirklich guten Deutschen, die einen
Streik sowieso nicht leiden können und schon gar nicht, wenn er
von denen drüben gemacht wird, denen wir gerade die Segnungen der
Marktwirtschaft schenken: "Das zarte Pflänzchen der Wirtschaft
zwischen Oder und Elbe darf nicht durch einen Streik wieder ka-
puttgemacht werden."
Das hat der ebenso überraschten GdED ganz schnell eingeleuchtet.
Sie setzte den Streik ab, kaum daß er begonnen hatte, natürlich
mit einem "akzeptablen Kompromiß".
Das Ergebnis
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Der erkämpfte Kompromiß der GdED ist folgender:
- Verzicht auf Lohnerhöhungen. Statt dessen etwas zur Beruhigung
der Gemüter: 50 DM pro Kind, 300 DM Urlaubsgeld und 75 Prozent
eines Monatsgehaltes als einmalige Pauschalvergütung.
- Verzicht auf Kündigungsschutz. Stattdessen Verhandlungen über
"sozialverträglichen Personalabbau" im Januar, sowie vorerst
keine Entlassungen bis Jahresmitte 91.
Fazit
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Dieser Streik war eine harte Lektion für die Reichsbahner. Nicht
nur die Bahnverwaltung, auch sie verstehen offenbar noch nichts
von dem freiheitlichen Tarifrundentheater, das jetzt bei ihnen
Einzug halten soll: "Dieses Ergebnis hätten wir auch ohne Streik
haben können", schimpfen jetzt viele, und vergessen, daß es dann
eben nicht ein Ergebnis einer starken Gewerkschaft, sondern ein
"Lohndiktat der Arbeitgeber" gewesen wäre, welches sich eine Ge-
werkschaft nie und nimmer gefallen lassen darf. Die GdED hat
wirklich für nichts und wieder nichts streiken lassen; sie hat
keine Forderung für die Eisenbahner durchgesetzt, aber ihre
"Position als Tarifpartner, um den die Arbeitgeber nicht herum-
kommen." Die Ex-DDR Arbeiter müssen den Sinn der Streikfreiheit
lernen: Streiken ist eine brotlose Kunst; Streik darf der Gegen-
seite keinen Schaden zufügen; Streik darf die Öffentlichkeit
nicht verprellen; Streik darf nicht mutwillig aussehen. Streik
muß halbherzig, am besten punktuell, kurz und nur warnend sein.
Er soll "den Tarifpartner an den Verhandlungstisch zurückzwingen"
und sonst zu gar nichts. Er ist die Vorbereitung dazu, daß die
Gewerkschaft sich mit den Unternehmern darauf einigt, daß die
alte Scheiße für die Streikenden weitergeht wie bisher.
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