Quelle: Archiv MG - BRD DEMOKRATISCHES-LEBEN WAHLEN - Wählen ist verkehrt!


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UNSERE MEINUNG

Am vorvergangenen Sonntag hat das Volk von NRW wieder einmal die regionale Staatsgewalt von sich ausgehen lassen, wie es im Grund- gesetz und im Sozialkundelehrbuch steht: es hat gewählt. Wahlakt und -ergebnis sind, wie immer, sehr einfältig: der eine darf ma- chen, was sonst der andere gemacht hätte, und nicht umgekehrt. Doch dieses schlichte Resultat: daß das Volk einem der politi- schen Konkurrenten freie Hand gegeben hat zur Ausübung der Staatsgewalt, macht zwar den Effekt, aber nicht den erhabenen Reiz demokratischer Wahlen aus. Gerade weil tatsächlich über nichts anderes entschieden worden ist, geht angesichts des ferti- gen Ergebnisses unter interessierter Anteilnahme des soeben ge- wählt habenden Volkes eine sehr schlaue öffentliche Debatte dar- über los, w i e dieses Ergebnis wohl g e m e i n t war. Jede Seite hat eine D e u t u n g parat, die so tut, als wäre das wählende Volk ein kollektiver Jemand, der sich über die Ideolo- gien der Parteien feinsinnige, Gedanken gemacht und danach "sein Urteil gesprochen" hätte. Der Verlierer fühlt sich "vom Wähler beauftragt, gute und harte Opposition zu machen", entnimmt seiner Niederlage also ein demokratisches Argument für seinen Anspruch auf den Fraktionsvorsitz und für jede Intrige, die ihm auf diesem Posten in Zukunft einfallen wird. Der Wahlsieger nimmt sich die Freiheit, seinem Volk in tiefer Dankbarkeit mitzuteilen, daß es ihn ganz außerordentlich liebt, präsentiert also in netter Form seinen Erfolg allen seinen Untertassen als demokratisches Argu- ment dafür, daß er auch weiterhin bedingungslos über sie ent- scheiden darf. Die FDP sieht sich "zwischen den Machtblöcken auf- gerieben", interpretiert also ihr Defizit von 1700 Stimmen als Beweis dafür, daß die anderen z u v i e l e Stimmen bekommen haben, und macht so aus ihrem Mißerfolg ein Mißverständnis "des" Wählers und damit ein demokratisches Argument dafür, ihr das nächste Mal die Stimme zu geben. Sozialforscher mit und ohne Par- teiauftrag fallen über das Ergebnis her und schwelgen in tiefsin- nigen Ausmalungen der Tautologie, daß wieder einmal genau die Leute, die CDU, SPD oder FDP gewählt haben, und keine anderen die Wählerschaft dieser Parteien gebildet haben, auch wenn sie früher anders oder bislang noch gar nicht gewählt haben. Und alle diese Deutungen lösen sich auf in ein neugieriges, hoffnungsfrohes oder sorgenvolles Kalkül der Bundestagswahlchancen; ein Kalkül, das auf der Sicheren deutschen Wähler bei einer Wahlentscheidung nichts tiefer beeindruckt als die schon errungenen und die mut- maßlichen Wahlerfolge ihrer Kandidaten. Das geehrte Volk, dem in so verrückter Umkehrung das erzielte Wahlergebnis als Argument dafür unterbreitet wird, daß es so und nicht anders ausgefallen ist und daß es daher mit dem Fortgang des staatlichen Gewaltgeschäfts auf alle Fälle seine Richtigkeit hat, ist gut genug demokratisch erzogen, um sich weder durch den feierlichen Wahlsonntag noch durch dessen nachträgliche Deutung verarscht zu fühlen, sondern macht beides mit in dem gar nicht kritischen Bewußtsein, daß so offenbar demokratische Freiheit geht. Ein Vorbild demokratischer Wohlerzogenheit, wie sie z w i- s c h e n den nationalen Wahlsonntagen gefragt ist, haben am Himmelfahrtstag auch Deutschlands Sportler gegeben. Zwar stand für jeden mitdenkenden deutschen Staatsbürger bereits mit Carters Boykottempfehlung fest, daß aus den olympischen Spielen diesmal für westdeutsche Könner nichts wird; und das Zögern der Regie- rung, darauf einzugehen, bis hin zum schließlichen Bundestagsvo- tum für den Boykott war, für jedermann ersichtlich, nicht mehr und nicht weniger als ein gekonntes Manöver, um die Unterwürfig- keit gegenüber dem amerikanischen Begehren zu einem Festakt bun- desdeutscher Souveränität zu machen - zu machen, wohlgemerkt, nicht etwa bloß so erscheinen zu lassen. In der Sache stand also alles fest - in der Demokratie kommt es aber eben ganz darauf an, wie die Betroffenen sich die getroffenen Entscheidungen zu Herzen nehmen. Und da braucht die Selbstverwaltung des bundesdeutschen Sportgeschehens sich keine Versäumnisse vorwerfen zu lassen. Un- ter Verwendung der einschlägigen Heucheleien - Sport als überpo- litische Völkerverständigung (Daume) gegen Sport als Akt staats- bürgerlicher Verantwortung (Weyer) - wurde eine Debatte um pro und contra geführt, als wäre das Ende noch offen. Die Entschei- dungsfreiheit, die die Bundesregierung dem NOK gelassen hat in der Gewißheit, sich beim Addieren der feststehenden Ja- und Nein- Stimmen nicht verzählt zu haben, wurde ausgiebig genutzt. Und die Öffentlichkeit hat mitgespielt und durch mahnende Kommentare und spannende Berichterstattung geholfen, den Gehorsamsakt des deut- schen Sportlertums erzdemokratisch als Demonstration seiner un- eingeschränkten Autonomie über die Bühne gehen zulassen. So sieht demokratisches Verantwortungsbewußtsein in schweren Zeiten aus. Ein schöner Sieg der Freiheit! Ein Hinweis, Die Redaktion der MSZ hat das alles natürlich mal wieder schon vorher gewußt. Nachzulesen in der ersten Nummer im neuen Format (11. Jahrgang, Nr. 2) unter den vielsagenden Titeln: Olympiaboy- kott - Siegen heißt diesmal nicht dabei sein, und Landtagswahlen in BW und NRW - BRD-Primaries zurück