Quelle: Archiv MG - BRD DEMOKRATISCHES-LEBEN WAHLEN - Wählen ist verkehrt!
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Korrespondenz
"WÄHLEN, UM DEN NUKLEAREN KRIEG ZU VERZÖGERN"
Liebe MSZ-Mitarbeiter/innen,
so gut Eure Analyse von Wahlen und Wahlkampf in diesem System
ist, so gefährlich wäre es, daraus falsche Schlüsse zu ziehen.
Unbestritten, Wahlen wirken systemtragend und systemerhaltend,
durch sie kann man das System weder beseitigen noch verändern.
Dennoch gibt es Situationen, in denen die Teilnahme an Wahlen
überlebenswichtig werden kann. Und zu diesen Situationen gehört
die Bundestagswahl 1987.
Die wesentliche Bedrohung unserer Existenz geht von den Kriegs-
vorbereitungen der imperialistischen Staaten aus, von ihrem ge-
planten nuklearen Kreuzzug gegen den Kommunismus. Vorrangiges
Ziel unserer politischen Arbeit muß es daher sein, diesen nuklea-
ren Schlagabtausch auf dem Schlachtfeld Europa zu verhindern, mit
allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Unsere Mittel und de-
ren Wirkung beschränken sich auf die BRD und deren politische Si-
tuation und politisches Klima, beide geprägt von einer rechten
Regierung, die ihre Rolle in den Kriegsvorbereitungen nur allzu
eifrig und willig spielt, mit Blick auf ein kapitalistisches,
"wiedervereinigtes" Großdeutschland.
Wird diese rechte Bundesregierung im Januar 1987 durch Wiederwahl
bestätigt, kann und wird sie ihren innen- und außenpolitischen
Militarisierungskurs fortsetzen, wenn nicht sogar beschleunigen.
Sie wird sich in ihren Absichten getragen fühlen von einer Mehr-
heit der Arbeitnehmer dieses Landes, und kann diese Legitimation
auch im Ausland geltend machen. Kurz, eine Wiederwahl der Kohl-
Regierung würde Euroshima wahrscheinlicher machen und die Frie-
densbewegung nicht nur in der BRD möglicherweise entmutigen, auf
jeden Fall ihre Handlungsmöglichkeiten durch Polizeistaats-Metho-
den weiter einschränken.
Eine SPD-dominierte Regierung ab 1987 würde den Kriegsvorberei-
tungskurs zwar ebenfalls fortsetzen - er ist ja Teil des Systems
-, müßte ihn aber öffentlichkeits- und sozialverträglicher, damit
langsamer weiterführen. Zumal die SPD ja mit einigen Versprechun-
gen im Wort stehen wird: Verhinderung der WAA, Abzug der Erst-
schlagswaffen, Schaffung einer chemiewaffenfreien Zone, Aufhebung
der Berufsverbote und vieles mehr. Will die SPD das System nicht
endgültig entlarven und damit die Friedensbewegung politisieren
und militanter machen (das könnte eine echte Gefahr für das Sy-
stem werden!), so muß sie wenigstens einige ihrer Versprechen
auch einlösen - und damit die Kriegsvorbereitung verlangsamen.
Eine vergleichbare Situation gab es 1968/69, als die Studentenre-
volte die Herrschenden zwang, vom direkten Kriegskurs des Kalten
Krieges der Adenauer-Ära umzuschwenken auf Ostverträge und Ent-
spannung. Das Ergebnis der Bundestagswahl 1969 hat sicher nicht
das System verändert, aber es hat sehr wahrscheinlich einen Atom-
krieg hinausgezögert.
Und uns durch diesen Zeitgewinn die Chance gegeben, politisch
stärker zu werden: Die BRD heute steht trotz Berufsverboten und
Polizeistaat einer weit stärkeren linken Bewegung gegenüber als
das 1969 der Fall war.
Was hätten wir also durch einen SPD/Grünen Wahlsieg 1987 zu ge-
winnen? Zeit. Zeit, die wir dringend benötigen, um stärker zu
werden, um unsere Kampfmethoden zu verbessern, um mehr Wirkung zu
entfalten. Zeit, um dem Zusammenbruch des kapitalistischen Welt-
wirtschaftssystems und damit der Gelegenheit für eine aus sozia-
len Unruhen entstehende Revolution näherzukommen. Zeit, um unsere
Kampfbedingungen zu verbessern und unsere Möglichkeiten der
Kriegsverhinderung auszubauen, durch Agitation und Propaganda
ebenso wie durch sonstige Methoden.
Bleibt die Frage, ob ein Zeitgewinn, ein mehr oder weniger deut-
liches Hinausschieben des Atomkrieges und eine psychologische
Stärkung der Friedensbewegung durch den Wahlsieg die Teilnahme an
Wahlen rechtfertigen können. Meiner Meinung nach jedenfalls schon
- es könnte sonst genau jene eine verpaßte minimale Chance gewe-
sen sein, die den Untergang herbeiführt. Zumal eine rein taktisch
verstandene Wahlbeteiligung vermittelbar wäre und uns keinerlei
Nachteile bringen würde.
Deswegen denke ich, daß die MG in diesem Sonderfall der Bundes-
tagswahl 1987 nicht zum üblichen Wahlboykott aufrufen sollte,
sondern zur Stimmabgabe gegen die Kohl-Regierung, vielleicht zu-
gunsten der FRIEDENSLISTE, die das Problem ja ähnlich sieht und
einschätzt.
Das erschiene mir schon deshalb sinnvoll, weil die Ab- und Aus-
grenzungen der diversen linken Gruppen endlich aufhören muß - wir
alle sind lange genug auf die "Teile und Herrsche" Masche des Sy-
stems hereingefallen, haben der Zersplitterung und dem Verschleiß
der Linken durch interne Kämpfe lange genug tatenlos zugesehen.
Okay, soviel zu meiner Einschätzung der Bundestagswahl '87. Es
würde mich wirklich sehr interessieren, was Ihr dazu meint, wel-
chen Standpunkt Ihr in dieser Frage vertreten werdet - laßt von
Euch hören!
Wieder einmal die Logik vom "kleineren Übel":
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Von der Sorge um den Atomkrieg "erst einmal"
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zur Ermächtigung seiner Befehlshaber
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Lieber Wählerlin!
Im ersten Halbsatz Deines Briefes stimmst Du einem Artikel zu,
der nur eines beweist: "Wahlen sind die Ermächtigung der Herr-
schaft durch die Untertanen." Zwei Sätze weiter bist Du bei einem
eigenartigen "dennoch": Es gäbe "Situationen, in denen die Teil-
nahme an Wahlen überlebenswichtig werden kann." Ausgerechnet
dann, wenn's ums "Überleben" geht, soll es also kein Fehler, son-
dern haargenau das Richtige sein, mit dem Wahlkreuz sich selbst
als Bürger zur ohnmächtigen Manövriermasse der - vertrauensvoll
oder skeptisch, auf jeden Fall ohne Einschränkung - ermächtigten
Herrschaft zu erklären?! Dein "Überleben" bekümmert Dich so sehr,
daß Du es auf alle Fälle in die Hände einer demokratisch gewähl-
ten Obrigkeit legen willst und darauf bestehst, an dem Lotterie-
spiel teilzunehmen, ob Deine Favoriten oder deren Gegner an die
Macht kommen?!
Wir haben jedenfalls nicht gemeint, Wählen wäre nur dann ver-
kehrt, wenn sowieso nichts weiter davon abhängt. Eher schon so:
Wenn's wirklich einmal Wahlen gäbe nur so zum Spaß, ohne jeden
Zusammenhang mit dem "Überleben" und sonstigen ernsthaften Din-
gen, dann soll man ruhig daran teilnehmen, wenn man gerade keine
bessere Unterhaltung hat. Solche Wahlen gibt es allerdings nie in
der Demokratie. Die Herrschaft w i l l zu ihrer Macht auch noch
den expliziten Blankoscheck ihrer Bürger. Sie will die Sicher-
heit, daß die Gedeckelten sich anschließend wieder gedulden, bis
zur nächsten Wahl - und auch dann nur wieder beurteilen wollen,
welchen Personen und welcher Partei das Regieren am besten zu Ge-
sicht steht; um sich anschließend schon wieder zu fügen, unabhän-
gig sogar davon, ob ihr Geschmacksurteil sich durchgesetzt hat
oder in der Minderheit geblieben ist.
An den absehbaren Folgen eines CDU-Wahlsiegs ist Dir das sogar
aufgefallen: Mit der Wahl werden alle Bürger, natürlich auch die
Opposition, auf Loyalität, also auf ihre O h n m a c h t
f e s t g e l e g t. Spricht das jetzt dafür, alle oppositionel-
len Einwände in Hoffnungen zu verwandeln, die man auf alternative
Machthaber setzt? Oder für die Aussage unseres Artikels: Wahlzet-
tel sind die Garantiescheine für die Freiheit der Gewählten,
s o n s t n i c h t s - ?
Es gibt allenfalls Situationen, da ist es noch fataler als sonst,
am Zirkus um die Ausstellung dieser Garantie teilzunehmen.
Du diagnostizierst imperialistische Kriegsvorbereitungen und fol-
gerst: "Vorrangiges Ziel unserer politischen Arbeit muß es daher
sein, diesen nuklearen Schlagabtausch auf dem Schlachtfeld Europa
zu verhindern..." Mag sein. Deine nachdrückliche Zielsetzung al-
lerdings ist durch ein gar nicht heimliches "wenigstens" be-
stimmt: Wenigstens der "nukleare Kreuzzug", und zwar wenigstens
in Europa, soll wenigstens verzögert werden. Und mit dieser drei-
fachen Bescheidenheit willst Du gegen die Loyalität anstinken,
die die NATO-Macht BRD auf der einen Seite ins Bündnis einbringt,
auf der anderen Seite von ihrem Volk einkassiert?! Am Ende
möchtest Du noch die Liebe zur Heimat - wie kämest Du sonst auf
"Euroshima"? - in Anspruch nehmen, um gegen die letzten Mittel
des heimatlichen Imperialismus Einspruch einzulegen?!
Da sind die Herrschaften, die Du ein wenig behindern möchtest,
realistischer als Du. Die agitieren nämlich mit der
W a h r h e i t: Wer für die BRD, für Europa und für die Demo-
kratie ist, der muß dafür auch Opfer bringen, eine starke Rüstung
befürworten und die Entscheidung über Krieg und Frieden den je-
weils gewählten Herrschaften überlassen. Für den Effekt, daß bei
dieser Agitation keine Kritik an der Heimat und ihrer politischen
Ordnung und Zielsetzung, sondern die Parteinahme auch noch für
das äußerste Vorhaben einer imperialistischen Abrechnung mit "dem
Feind" herausschaut, verlassen sie sich darauf, daß die heiligen
Kühe BRD, Europa und Demokratie über jede Kritik erhaben sind.
Das reicht schon. Weshalb sollte denn auch ein Volk, das Deutsch-
land und das Wahlrecht großartig findet, einigen gewalttätigen
Einsatz für das Wahlrecht und die Nation abwegig finden?!
Andersherum: Ohne agitatorischen Angriff auf das politische Sub-
jekt antikommunistischer Kriegsvorbereitung, die NATO samt ihrem
selbstbewußten europäischen Frontstaat, und zwar einschließlich
seiner antikommunistischen inneren Verfassung, kommt jede Abnei-
gung gegen die letzten praktischen K o n s e q u e n z e n die-
ses "Systems" zu spät. Zumal wenn diese Abneigung praktisch gar
nicht mehr will als zu einer Wahlstimme werden immerhin also zu
einem Bekenntnis dazu, daß der politische Wille des Bürgers jen-
seits aller inhaltlichen und personellen Bedenken auf nichts so
sehr besteht wie auf dem Wahlrecht, das die NATO so machtvoll zu
verteidigen verspricht.
Noch eine Nebenbemerkung zu der Ausnahmesituation, die Du für die
Bundestagswahl '87 ausgemacht haben willst: Hast Du schon jemals
von einer Parlamentswahl gehört, geschweige denn eine mitgemacht,
zu der nicht sämtliche Parteien versichert hätten, diesmal ginge
es aber wirklich um eine "historische Weichenstellung", und Teil-
nahme sei ganz ausnahmsweise wichtig? Dein Urteil "diesmal über-
lebenswichtig" wiederholt in der Sache nur den fadesten Wahlwer-
bungstrick aller Parteien, die sich zur Wahl stellen: Das Ge-
schrei von wegen "Schicksalswahl" soll links wie rechts die Müden
munter machen.
Klar, D u m e i n s t es anders. Du hast eine ganz andere
"Überlebensfrage" im Auge als die, die von den konkurrierenden
Parteien an die Wand gemalt wird. Aber: Wie soll denn die Alter-
native, vor der D u die Republik siehst, bei irgendeiner der
Parteien gut aufgehoben sein, die für Wahlzwecke eine ganz an-
dere, viel banalere, nur taktisch gemeinte Alternative aufmachen
und untereinander auskämpfen?!
Du hoffst auf die SPD - und brauchst dafür drei falsche Schlüsse.
- "...öffentlichkeits- und sozialverträglicher, damit lang-
samer..." Wie kommst Du auf dieses "damit"? Eine Politik soll
l a n g s a m vom Fleck kommen, weil Öffentlichkeit und Gesell-
schaft sie in Ordnung finden?
- Umgekehrt wäre Dein Einfall auch nicht besser: '... langsamer,
damit verträglicher...' Denn Deine Prämisse selbst stimmt nicht.
Mit welcher Öffentlichkeit, welchem "sozial-" verträgt sich der
christliche Revanchismus denn n i c h t? Unter dem Titel
"politisches Klima" ist doch Dir selber aufgefallen, daß in einer
Demokratie auch noch die Popularisierung von Maßstäben, politi-
schen Stimmungen und nationalem Anspruchsdenken von oben nach un-
ten geht und daß die "Wende"-Regierung sich insoweit bestens ver-
ankert hat in ihrer Öffentlichkeit.
- Was die SPD tatsächlich gepachtet hat - bis Heiner Geißler es
ihr vielleicht auch noch streitig macht -, das ist der Gebrauch
der soziologischen Vokabel "öffentlichkeits- und sozialverträg-
lich" als Ehrentitel ihrer Politik (Rau sagt "Versöhnen statt
Spalten" dazu). Zur Sozialdemokratie gehört als klassisches Güte-
siegel die Selbstdarstellung mit Hilfe der fortwährenden Versi-
cherung, ihre Vorhaben wären von lauter Rücksichtnahme aufs ge-
plagte Volk diktiert, und leider, leider könnte sie nicht anders.
Ist das nicht verräterisch genug?!
Du willst die SPD auf einige "Wahlversprechungen" festlegen, so
als wäre deren eindeutige Doppeldeutigkeit Dir nicht bekannt:
- "Verhinderung der WAA": Statt dessen kündigt die SPD eine bes-
sere "Lösung des Entsorgungsproblems" an, ohne "Einstieg in eine
private (!), groß(!)industrielle Plutoniumwirtschaft" und "im eu-
ropäischen Rahmen". Wie verstehst Du das?
- "Abzug der Erstschlagswaffen": Erstens will sie darüber "neu
verhandeln"; zweitens ist das mit dem Erstschlag auch für SPD-Ex-
perten eine Definitionsfrage; drittens haben schon immer die je-
weils neuesten Rüstungsinitiativen die nationalbewußten SPD-Be-
denken gegen die vorherigen hinfällig gemacht.
- "Schaffung einer chemiewaffenfreien Zone": Glaubst Du im Ernst,
diese abrüstungspolitische Spielerei wäre dazu angetan, auch bloß
den Einsatz dieser Waffengattung im Kriegsfall auch nur zu verzö-
gern, wenn es den Befehlshabern darauf ankommt? Gefällt Dir das
SPD-Ideal einer Humanisierung der Waffenwelt?
- "Aufhebung der Berufsverbote": Ist Dir noch nicht aufgefallen,
daß dieses SPD-Instrument kaum noch angewandt zu werden braucht,
weil kein Linker mehr die alte Idee eines "Marschs durch die In-
stitutionen" zum Zwecke ihrer Veränderung mehr vertritt und über-
haupt die Anpassungsfreude die buntesten Blüten treibt?!
Du selber glaubst nicht an die Ehrlichkeit dieser Wahl-
"versprechen", sondern legst Dir eine SPD-Taktik zurecht, von der
Rau und Co nach einem Wahlsieg nicht abrücken könnten, weil die
politpsychologischen Folgen sonst zu einer "echten Gefahr für das
System werden" könnten. Für diese verdrechselte Wahlempfehlung
brauchst Du wieder etliche Denkfehler:
- W e n n es die Taktik der SPD wäre, die "endgültige Entlarvung
des Systems" sowie die "Politisierung" und ein "Militant-Werden
der Friedensbewegung" durch Gesten des Entgegenkommens zu verhin-
dern - übrigens ohne den "Kriegsvorbereitungskurs" aufzugeben,
wie Du selber meinst -: Wäre ein Erfolg dieser Taktik denn wün-
schenswert?! Meinst Du, die Herrschaft einer Partei, die mit je-
der Heuchelei für die Beschwichtigung der "Friedensbewegung" und
für eine freundliche "Larvierung" "des Systems" eintritt und da-
mit die Friedensfreunde als Wahlstimmvieh einfängt, wäre eine
günstige Bedingung, um g e g e n die maßgeblichen nationalen
Zwecke vorzugehen?!
- Deiner Meinung nach müßte ein reaktionärer Wahlsieg "die Frie-
densbewegung" "entmutigen", ein sozialdemokratischer Wähler-
"Betrug" - also dieselbe Politik, in andere ideologische Phrasen
eingepackt - sie "militanter machen". Wie paßt das zusammen? Wenn
das mit dem "Entmutigen" stimmt, dann wegen der fatalen Schwäche
einer "Friedensbewegung", die sich mit ihrer Opposition nicht auf
die zu bekämpfende Politik stürzt, sondern von dem Erfolg abhän-
gig macht, den ausgerechnet eine Partei erringt, die sich heuch-
lerisch ihrer Parolen bedient. Dann ist aber erst recht unerfind-
lich, wie dieselben Leute militant werden sollten, wenn sie mer-
ken - falls sie es überhaupt merken! -, daß der SPD-Erfolg ge-
nauso eine Niederlage für ihr Anliegen bedeutet wie ein Wahlsieg
der Rechten.
Umgekehrt: Du traust der "Friedensbewegung" eine Systemgefährdung
zu, falls ein sozialdemokratischer Polizeiminister ihre Auftritte
umzingeln läßt und SPDler die Bundeswehr so konstruktiv betreuen,
wie sie es zwischen '69 und '82 getan haben. Was hindert diese
"Bewegung" eigentlich an systemgefährdender Unruhe, wenn doch die
regierenden Politchristen erst gar keinen Zweifel über die fäl-
lige Auseinandersetzung aufkommen lassen? Wenn Dir jetzt die
H o f f n u n g a u f d i e S P D einfällt - dann könntest Du
merken, wie Opposition und demokratisches Wahl recht sich zuein-
ander verhalten!
- Es ist allerdings bereits verkehrt, die SPD-Politik als Taktik
zur Vermeidung von womöglich systemgefährdender Opposition zu in-
terpretieren. Es ist das ein uralter Kunstgriff der Sozialdemo-
kratie, die Gefahr massenhafter Unbotmäßigkeit für den Fall zu
beschwören, daß nicht sie die Staats-"Notwendigkeiten" verant-
wortlich durchsetzen darf. So wirbt die SPD um die Wahlstimme al-
ler raffinierteren Freunde von "law and order" sowie um das
staatsbürgerliche Gewissen, das keine schlimmere Gefahr kennt als
womöglich nachlassenden staatsbürgerlichen Gehorsam!
- Von so etwas kann schließlich im Ernst nicht die Rede sein.
Keine Oppositions-"Bewegung", schon gar nicht die eine Zeit lang
öffentlich beachteten Friedensfreunde, haben je mit Aussicht
(oder auch nur der Absicht) auf Wirkung ernsthaft mit der Aufkün-
digung ihres alltäglichen Mitmachens gedroht. Das Äußerste, wozu
"Systemgegner" sich hierzulande noch versteigen, ist der Ent-
schluß, eine Alternative - z u r W a h l zu stellen. So steht
für den Fall, daß die SPD mit ihrer Heuchelei tatsächlich ein
paar Wähler verprellen sollte, die Alternative zum "Militant-Wer-
den" schon bereit: die Grünen als SPD mit dem gewinnenderen treu-
herzigen Augenaufschlag. Du selbst bist ein Beispiel für diese
hartgesottene Treue zum Wahlrecht als einzig zulässigem Weg poli-
tischer "Veränderung". Wie sollte da das System in Gefahr gera-
ten?!
Übrigens glaubst Du selber gar nicht an Deine Konstruktion. Dir
ist doch nicht zufällig ein "endgültig" in Deine Spekulation auf
ausnutzbare SPD-Spekulationen hineingeraten: "Will die SPD das
System nicht endgültig entlarven..." Wem die Jahre 1967-69 bis
'82 nicht gereicht haben, um zu merken, worauf es der bundesdeut-
schen Sozialdemokratie ankommt, dem kann es gar nicht wie Schup-
pen von den Augen fallen, wenn die SPD nach einem Wahlsieg ihre
"Wahlversprechen" mit bewährter und bestätigter Heuchelei in die
Tat umsetzt...
Du berufst Dich auf Studenten-"Revolte" und die erste Brandt-Wahl
als Vorbilder für heute. Abgesehen davon, daß die '68-Studenten
unvergleichlich mehr hergemacht haben als heutige "Bewegungen" -
und zwar weil sie das außer- und antiparlamentarische Opponieren
ein bißchen praktisch genommen haben -, ist Dir da eine Verwechs-
lung unterlaufen: "Entspannung" war damals längst der offiziell
angesagte neue Standpunkt des Westens im Kampf gegen den Kommu-
nismus; "die Herrschenden" hatten, nicht zufällig im Verlauf des
Vietnam-Krieges, den Übergang zur Verhandlungsoffensive gemacht.
D a s mitsamt der v o n o b e n ausgegebenen Devise "Mehr De-
mokratie wagen (!)" hat für ein paar bewegtere Jahre gesorgt -
ohne den Machern in Bonn einen "Zwang" anzutun. Die Notstandsge-
setze sind damals immerhin in Kraft getreten; mit SPD-Zustimmung
übrigens, und obwohl sogar der DGB ein wenig dagegen war. An den
anschließenden 13 Jahren SPD-Regierung muß Dir Wesentliches ent-
gangen sein. Immerhin ist in dieser Periode die Bundeswehr das
geworden, wofür sie Wörner heute rühmt; außer viel Kapital ist
eine flotte Reservearmee akkumuliert worden. Und welche außen-,
friedens- und entwicklungspolitischen Großtaten, glaubst Du ei-
gentlich, hätten den "Krieg verzögert"? Die Maßnahmen der SPD-Re-
gierung jedenfalls haben Kredit und Hunger so massenhaft über die
Welt verteilt, daß heute die Bundesrepublik zu den verantwor-
tungsvollsten Betreuern einer festgefügten imperialistischen
Weltordnung gehört - durchaus kriegsvorbereitende Leistungen
also.
Gespannt sind wir übrigens auf eine Adresse, unter der wir die
von Dir entdeckte "weit stärkere linke Bewegung als 1969" errei-
chen könnten. Vielleicht teilst Du sie bei Gelegenheit mit - und
löst dabei gleich einen kleinen Nebenwiderspruch auf: Wenn "die
Linke" heute schon so "weit stärker" ist, wieso soll sie dann
nicht gleich, ohne Umwege über die SPD, die zur Wahl gerufenen
Massen für i h r e Standpunkte begeistern?!
Du meinst, die Linke brauche Z e i t; und die, wenn schon sonst
nichts, wäre "durch einen SPD/Grünen-Wahlsieg 1987 zu gewinnen."
Zeit wofür? Darauf hast Du verschiedene Antworten, die alle nicht
recht hinhauen:
- "um stärker zu werden". Das ist banal; alles, was noch nicht
ist, braucht seine Zeit. Ebenso banal unsere Antwort: Deswegen
muß man die "Zeit" n u t z e n. Und nicht damit vertun, durch
Unterstützung einer falschen Politik vielleicht ein bißchen Zeit
zu gewinnen - die man dann wieder darauf verwenden muß, SPD und
Grüne stärker zu machen statt selber stärker zu werden... bis es
endgültig zu spät ist.
- "um unsere Kampfmethoden/Kampfbedingungen zu verbessern". Bitte
schlag' eine bessere Kampfmethode vor als die paar, die wir an-
wenden: Sie wird ohne Verzögerung übernommen. Das Gegenteil einer
Kampfmethode ist es allerdings, sich um allerlei Bedingungen des
Kämpfens zu kümmern. Welche Bedingung könnte denn den
E r f o l g kommunistischer Agitation begünstigen? Möchtest Du
sie Dir erst e r l a u b e n lassen? von Grünen und Sozialdemo-
kraten womöglich? Oder um öffentliches Gehör betteln, bevor die
Kritik selbst zur Sprache kommt? Das "Klima" für Opposition zu
verbessern, ohne Opposition zu üben? Tut uns leid: "Bedingungen
verbessern" heißt allemal bloß: n i c h t z u r S a c h e
k o m m e n! Mit der Zeit und dem Aufwand, die Du darauf verwen-
dest, andere Leute vom diesmal relativ nützlichen Gang zur Urne
zu überzeugen, könntest Du auch etwas anderes anstellen. Statt
Dir und anderen vorzumachen, daß Wählen vorläufig eine einzige
Herstellung von Kampf b e d i n g u n g e n sei, könntest Du ja
ebensogut ein paar Leuten die N o t w e n d i g k e i t des
Kampfes klarmachen.
- "um dem Zusammenbruch... und damit der Gelegenheit... näherzu-
kommen". Welcher Vogel hat Dir denn den Zeitpunkt verraten, an
dem "das kapitalistische Weltwirtschaftssystem zusammenbricht"?
Oder meinst Du nur eine internationale Zahlungskrise und möchtest
deren Ausbruch in Ruhe abwarten? Dann hast Du mit Sicherheit Zeit
genug, um Dir die Flause aus dem Kopf zu schlagen, so etwas wäre
eine gute "Gelegenheit für eine Revolution". Was meinst Du wohl,
was demokratische, an wohlabgewogenes W ä h l e n gewöhnte Bür-
ger tun, wenn eine Weltwirtschaftskrise sie "sozial unruhig"
macht? Wer immer nur in Alternativen der besseren oder schlechte-
ren H e r r s c h a f t denkt, dem fällt natürlich dann erst
recht nur eine "Alternative" ein: eine Herrschaft, die n o c h
s o u v e r ä n e r regiert. Das ist die wirkliche demokratische
Logik, nach der einst Hitler an die Macht gekommen ist und nach
der neulich noch Helmut Schmidts Propaganda der "schweren Zei-
ten", die mehr Verzicht verlangen, den Boden bereitet hat für
Helmut Kohls "Wende" zur aller-christlichen Verzichts- und Unter-
werfungsdoktrin.
Diese fatale Logik befördert jeder, der sich ausgerechnet dann,
wenn er "die Lage" für bedenklich hält, nur um so dringlicher
nach anderen regierenden Herren sehnt!
Was im übrigen die Krise betrifft, auf die Du Deine Hoffnungen
setzt, so müßte Dir zumindest der eine Zusammenhang zum Atomkrieg
auffallen, den Du fürchtest und hinauszögern möchtest: Es sind
dieselben Mächte, die die Weltwirtschaftsordnung garantieren und
für die Sicherheit dieser Ordnung den Atomkrieg durchplanen und
vorbereiten und d a f ü r wiederum den Kreditüberbau der Welt-
wirtschaft strapazieren u n d sehr souverän konsolidieren. Wel-
che Argumente und Anhaltspunkte hast Du dafür, daß irgendwann die
Ökonomie der Politik ihre Dienste versagt? Oder daß die Politik
ihrer Ökonomie nicht mehr den Dienst leistet, ihren Bestand mit
Gewalt sicherzustellen?
Du möchtest eine Wahlbeteiligung "rechtfertigen" - fast möchte
man ergänzen: wider besseres Wissen -, nämlich mit dem
"Argument": E i g e n t l i c h gehörte etwas anderes getan.
Und es scheint so, daß Du deswegen mit Wählen oder Nicht-Wählen
tatsächlich ein moralisches Problem hast.
- Deine Theorie von der "verpaßten minimalen Chance, die den Un-
tergang herbeiführt", ist jedenfalls ein Moralismus, und zwar von
der lächerlichen, mehr geschichtstheologischen als "linken"
Sorte. Du fragst ja gar nicht mehr, wie den Kriegsvorbereitern
das Handwerk zu legen ist, sondern willst nur noch erreichen, daß
Du Dir keine Vorwürfe zu machen brauchst! D a f ü r genügt Dir
dann - logischerweise eine "minimale Chance", die Du andererseits
zu einem gewaltigen Hammer aufpustest: Davon soll es am Ende ab-
hängen, ob der "Untergang" stattfindet?! Nach der Logik kannst Du
genausogut dem Präsident Reagan einen netten Brief schreiben:
Chance minimal; aber wehe, sie wird verpaßt!
- In die Moralecke gehört auch Deine seltsame Ermunterung, wir
sollten doch "in diesem Sonderfall" einmal quasi ein Auge zudrüc-
ken und einen Wahlaufruf vom Stapel lassen; sein "rein takti-
scher" Zweck wäre doch Entschuldigung genug, so daß wir uns
nichts zu vergeben bräuchten. Da tust Du glatt so, als hätten wir
das Nicht-Wählen zu einem K r i t e r i u m f ü r l i n k e
S a u b e r k e i t erklärt! Stell Dir vor: Wir haben gar kein
Gewissensproblem mit der Wahl; wir haben bloß noch keinen Ge-
sichtspunkt entdeckt, unter dem beim Wählen je etwas anderes her-
auskäme als "die Ermächtigung der Herrschaft durch die Unterta-
nen". Dagegen sind vor allem die raffinierten Überlegungen kein
Gegenbeweis, mit denen wir "rein taktisch" zu diesem Unterwer-
fungsakt aufrufen sollen - s o l c h e Überlegungen macht sich
sowieso jeder Wähler; die FDP kriegt z.B. überhaupt keine anderen
Stimmen als "rein taktische"; und von den erlesensten Abwägungen
bleibt am Ende doch immer nur ein Kreuzchen, das sich der Wahl-
sieger dann auch noch im Sinne seiner Vorhaben zu-
recht i n t e r p r e t i e r t. Ein für allemal: Wir halten
Wählen nicht für unmoralisch, sondern für einen selten bescheuer-
ten Unterwerfungsakt. A u c h "in diesem Sonderfall der Bundes-
tagswahl 1987"!
- Dein dritter Moralismus ist die Mahnung zur E i n h e i t
"der diversen linken Gruppen". Verstehen wir Dich richtig: Statt
durch Wahlboykott-Aufrufe "der Zersplitterung der Linken" Vor-
schub zu leisten, sollen wir "vielleicht" die Wahl der Friedens-
liste empfehlen?! Nun ist es ja sehr großzügig, daß Du uns nicht
gleich die Agitation für Johannes Rau zumuten möchtest; konse-
quent bist Du da aber nicht: Was könnten denn Wahlstimmen für die
Friedensliste zum "SPD/Grünen-Wahlsieg" beitragen, den Du für so
überlebenswichtig hältst? Wenn schon, dann SPD - sonst hast Du
doch wieder eine Deinem Ziel abträgliche "Ab- und Ausgrenzung"
eingeführt, oder?
Das ist eben der Haken an Deinem Einheitsappell: Er ist aus einem
Opportunismus des Erfolgs geboren, der schon gar nicht mehr
fragt, welcher Sache denn überhaupt zum Erfolg verholfen werden
soll; es genügt statt dessen schon ein noch so fadenscheiniges
"besser als..." Und dieser untertänigen Abwägung sollen wir uns
anschließen, weil wir sonst den Erfolg des obrigkeitlichen "Teile
und Herrsche" auf dem Gewissen hätten. Weshalb bist Du denn nicht
auf die Idee gekommen, die Friedensliste oder gleich die Grünen
zur Einheit mit der MG aufzurufen? Siehst Du, da merkst Du gleich
die inhaltliche Unvereinbarkeit des parlamentarischen Opportunis-
mus mit kommunistischer Kritik. Und wir sollen davon absehen,
bloß weil Rau und Schily nicht der Kohl sind?!
Wir wissen nicht, was Dir an unserem Wahl-Artikel gefallen hat;
aber es muß ein Mißverständnis gewesen sein. Der Artikel kriti-
siert nämlich genau die Sorte a b s t r a k t e n
D e n k e n s, die Du an den Tag legst: Du begutachtest einige
K o n s e q u e n z e n demokratischer Herrschaft hierzulande
und ignorierst gleichzeitig, daß es sich bei der Atompolitik, den
Kriegsvorbereitungen usw. um Werke und Wirkungen demokratischer
H e r r s c h a f t handelt. Politiker lassen sich im Wahlakt
ihrer Bürger ihre Handlungs f r e i h e i t bestätigen wie auch
die von ihnen definierten Maßstäbe des nationalen Erfolgs, nach
denen sie ihre anerkannte Freiheit zu nutzen versprechen - das
weißt Du, möchtest aber unverdrossen die Wahl als Chance des Bür-
gers, gar noch jedes einzelnen, auffassen, die Politiker in ihrer
zielstrebig genutzten Freiheit zu b e h i n d e r n. Du kennst
die Alternative, die das Wählen-Dürfen Dir eröffnet - und deutest
sie unerschütterlich um in das Angebot, Deine ganz andere Alter-
native auf die politische Tagesordnung zu setzen. Du weißt sogar,
daß das ein haltloses Wunschdenken ist - und hältst mit der be-
scheidenen Mutmaßung daran fest, wenigstens "minimal" wären Wah-
len Deine Chance.
So lieferst Du selber ein einziges Beispiel dafür, wie
e n t t ä u s c h t e Wähler es fertigbringen, ihrem System
durch dick und dünn d i e T r e u e zu halten.
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