Quelle: Archiv MG - BRD DEMOKRATISCHES-LEBEN SPD - Von den noch besseren Deutschen
zurück Herbert WehnerIDEALIST UND REALIST EINES SOZIALDEMOKRATISCHEN DEUTSCHEN ARBEITERSTAATS
Jetzt, nach dem politischen Abgang des Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten, sind die Nachrufe auf Herbert Wehner voll des Lobs. Ziemlich vorbei sind die neben der Anerkennung, die der po- litische Erfolg des "neben und nach Adenauer bedeutendsten Staatsmannes der Bundesrepublik Deutschland" von selbst nach sich zog - immer wieder angebrachten Zweifel, was denn mit dem Men- schen und Politiker Wehner wirklich los sei: War er ein "Techniker der Macht nur um der Macht willen"? Dieser dumme Verdacht ward immer wieder gehört, als wollten Poli- tiker kommandieren gleichgültig gegen die Kommandos, die sie ge- ben und als würde einen Wehner von seinen Berufsgenossen unter- scheiden, daß er mehr nach der Macht strebte als sie. Aber da Herbert Wehner einige Wandlungen angestellt hat, vom Kommunisten zum obersten Funktionär einer ordentlichen Volkspartei zumal, da er seine Parlamentspflichten bitter ernst nahm und keine Sitzung versäumte, auch in seinen berühmten Polemiken mit seiner ganzen Person dahinterstand, so daß er oft taktische Rücksichten fallen ließ, war das Anlaß genug zu sich zweifelnd gebenden Verdächti- gungen. Man erklärte eine Haltung, an der der persönliche Vorteil nicht zu entdecken ist, zu einem für einen Politiker unmöglichen Ding. Man spekulierte, ob nicht gerade die so hervorstechende un- taktische Seite an Wehners Politikerqualität die besonders ausge- kochte Taktik dieses Politikers sei. Was von diesen Urteilen in Frageform zu halten ist, beweisen die jüngsten Nachrufe. Man kann nämlich die angeblichen Rätselhaftigkeiten und Widersprüchlich- keiten des abgetretenen Politikers auch zu seiner besonderen Größe hochstilisieren: "Ein Mann, der vom Revolutionär zu einem Patriarchen des Parla- ments wuchs. Ein Kampf, der die Schablonen von Strategie und Tak- tik aufhob. Ein Streiter, dessen erschütternde und schreckliche Eruptionen letztlich von wirklichen Sorgen ausgelöst wurden, doch auch empfindsam und gut für leise Töne. In einem und jenseits von Gut und Böse: Quel homme! ("Süddeutsche Zeitung") Welch ein Mensdi? Was hat er denn wirklich geleistet? Idealist der Sozialdemokratie ----------------------------- Wehner, der 1927 in die KPD eintrat und dort schnell Spitzenfunk- tionär wurde, vollzog seine entscheidende Wandlung zur SPD, in die er 1946 eintrat, mit der Kritik an der KPD, daß sie dem d e u t s c h e n A r b e i t e r nicht zu seinem Recht ver- helfe: Ihm mißfiel an der Politik der Komintern mit der So- wjetunion und Stalin an der Spitze, daß in ihr die KPD die natio- nalen Belange der deutschen Arbeiter außenpolitischen Gesichts- punkten unterzuordnen hatte: Er warf weiter der KPD vor, am Klas- senkampf unabhängig von und gegen den demokratischen Parlamenta- rismus festzuhalten. Aus seiner Kritik an der damaligen SPD und am Parlamentarismus überhaupt wurde die Schuld der KPD, so eben den Faschismus nicht verhindert zu haben. 1930 erklärte Wehner vor dem sächsischen Landtag zum Arbeitsbeschaffungsprogramm: "Vor den Arbeitermassen wird durch ihr eigenes Verhalten - das gilt für die Parteien von der Sozialdemokratischcn Partei bis hin zu den Nationalsozialisten - praktisch demonstriert, daß auf dem Wege des bürgerlichen Parlamentarismus, auf dem Wege des parla- mentarischen Kuhhandels für die Arbeitermassen nichts gewonnen werden kann." Nach dem Kriege war für Wehner dann dieser Standpunkt der KPD ihr unverzeihlicher Fehler gewesen. "Die Republik konnte sich nicht verteidigen, weil die Arbeiter- schaft dem demokratischen Staat gegenüber eine gespaltene Haltung einnahm. ... An dieser inneren Gespaltenheit der Arbeiterschaft, die 1918 unvorbereitet einer militärischen Niederlage und dem Zu- sammenbruch eines feudalen Regimes, eines sehr herrschaftlich aufgetretenen Regimes gegenüberstand und die doch selbst gespal- ten war in ihrer Stellung zum Staat, weil die deutschen Führer der Kommunisten leider daran festgehalten haben, daß der Staat auch als demokratischer Staat für die Arbeiter nicht akzeptabel sei, sondern erst dann, wenn er unter Führung der kommunistisch geführter Arbeiterklasse umgestürzt sei: daran lag es. Diese Theorie war das Unglück." (Wehner in: Günter Gaus. Porträts in Frage und Antwort, München 1964, S. 216) Der ehemalige Kommunist hält als Sozialdemokrat den demokrati- schen Staat für ein gutes Mittel, daß in ihm die Belange der Ar- beiter bestens aufgehoben wären, wenn deren politische Gleich- stellung im Staat erreicht ist, also der sozialdemokratische So- zialismus, "die ökonomische Befreiung der moralischen und politi- schen Persönlichkeit" (ebd.). Der Ton liegt auf dem Arbeiter a l s B ü r g e r des demokratischen Staats. Letzterer soll zu seinem Recht kommen, ohne daß er dafür aus seinen ökonomischen Zwängen befreit werden müßte. Wehners, für einen bürgerlichen Politiker außergewöhnlicher, Ein- satz - nicht die Macht der eigenen Partei als Mittel für die Kar- riere zu benutzen, sondern Karriere dadurch zu machen, daß man sich zum Mittel der Partei macht - gilt der wahren Demokratie. Wahr ist sie ihm wenn alle im Staate gleichberechtigt sind, also vor allem die Arbeiterklasse ihr volles Bürgerrecht erhält. Die- ses sozialdemokratische Staatsprogramm ward im Godesberger Pro- gramm festgeschrieben, zu dem Herbert Wehner 1959 erklärte: "Dieses Programm ist, im engeren Sinne verstanden, kein Arbeiter- programm. Aber es ist nicht ein Programm - wir werden es in den einzelnen Abschnitten beweisen können -, das weniger wäre als ein für die Arbeiter nützliches Parteiprogramm, sondern es ist inso- fern mehr, als es für die Arbeiterschaft und im weiteren Sinne für die Arbeitnehmerschaft Grundlagen dafür zu schaffen sucht, daß Arbeiter und Arbeitnehmer nicht mehr infolge ihrer Abhängig- keit in der gesellschaftlichen Ordnung Staatsbürger minderer Kraft und minderen Ranges sind, daß für sie nicht nur auf dem Pa- pier der Verfassungen steht, daß das gleiche Recht für alle gilt." (Herbert Wehner, Wandel und Bewährung. Ausgewählte Reden und Schriften 1930-1967, Frankfurt 1968, S. 214) Das Glück, zu dem der ideale Freund der Arbeiterklasse der Ar- beitnehmerschaft verhelfen will, soll in der gerechten Demokratie liegen. Arbeiter sollen die Leute bleiben, also ihre Abhängigkeit von den Herren Kapitalisten, ihr gar nicht gleicher Gegensatz zu diesen soll bestehen bleiben. Daß die Arbeiter nicht auf der Son- nenseite des Lebens stehen, unterstellt Wehner noch, wenn er ih- nen den politischen Segen bringen will, als Staatsbürger gleiche Rechte genießen zu dürfen. Seine fortschrittliche Note bezieht dieses Ideal der durchzusetzenden Gleichberechtigung aus Zeiten der politischen Diskriminierung der Arbeitnehmerschaft. Aner- kannte Bürger sollen die rechtmäßig ausgebeuteten Arbeiter sein, wofür ihnen der Staat gleiche Rechte gewährt. Sie dürfen nämlich wählen gehen und sich statt für den Klassenkampf für ihr Inter- esse um die politische Ordnung kümmern. "Für den politischen (!) Kampf handelt es sich darum, die Gleich- berechtigung der im Arbeiter- und Angestelltenverhältnis stehen- den Mitbürger als Staatsbürger, nicht nur in der Wahrnehmung des Wahlrechts, sondern auch dadurch zu erzielen, daß man sie in- standsetzt, befähigt und ermuntert, über das, was sie über die soziale Selbstbehauptung hinaus zu tun imstande sind, die staat- liche Ordnung politisch durchzureformieren und auszufüllen, so daß die gesellschaftliche Wirklichkeit demokratisiert wird." (ebd.) Wenn die staatliche Ordnung ökonomische Verhältnisse absichert, die zur, sozialen "Selbstbehauptung" zwingen, dann soll man sich diese Ordnung auch noch zum eigenen Anliegen machen. Wehner will die Arbeiter für den demokratischen Staat gewinnen, nicht etwa dadurch, daß er dem Klassengegner die Macht entreißen und sie in die Hände der Arbeiter legen will - Volkes Stimme wählt ja längst ihre Regierungen -, sondern dadurch, daß er aus ihnen anständige und ganz gleichberechtigte Staatsbürger machen möchte: "Das Godesberger Programm will den mündigen Mitbürger, nicht den Bourgeois, sondern den Citoyen." Die von Marx kritisierte Verdoppelung des Menschen in Bürger und Staatsbürger, in Arbeiter und Staatsbürger, wo die Anerkennung der Staatsmacht das elende proletarische Los verewigt, kehrt Weh- ner um: Als Staatsbürger nützt der Mensch sich, dem Arbeiter. Ein feines Ideal, dessen Wahrheit Wehner selbst in seiner Berufung auf Lasalle als geistigen Urvater offenbart. "Er (Lasalle) wollte die Arbeiter - in dem weiten Sinne, wie er sie verstand - nicht außerhalb und auch nicht gegen den Staat - versammeln, sondern er wollte sie im Ringen um das allgemeine und direkte Wahlrecht und dadurch, daß sie von diesem Recht den rich- tigen Gebrauch machten, zu der bewegenden Kraft im Staat werden lassen, die den Staat zu seinen eigentlichen Aufgaben fähig ma- chen kann." ('Dieses unser Vaterland', Rede von 1963) Die Arbeiter verschaffen dem Staat seine Freiheit, seine eigent- lichen Aufgaben - jetzt kann er ja nichts mehr falsch machen, jetzt haben die Arbeiter ja richtig gewählt - zu erfüllen. Und das ist auch schon der ganze Segen für die Arbeiterklasse: Ver- treten ist der gute Staatsbürger im Arbeiter in 'seiner' "eigentlichen" Demokratie nur, wenn er das "einzige, was er be- sitzt, seine Stimme" (Wehner) der SPD gibt, ist sie doch "der organisierte Wille der arbeitenden Menschen, gleiches staatsbürgerliches Recht für alle in unserem Volk durchzusetzen." (Wandel und Bewährung) Mit diesem idealen Klassenkampf, aus dem politischen Willen Weh- ners geboren: Die Arbeiter geben ihr Interesse beim Staat ab, am besten nur bei der SPD, damit sie dann für ihre Interessen gegen sie regiert, ist logischerweise dem sozialdemokratischen Ideali- sten Herbert Wehner der Realist der SPD --------------- zur Seite getreten. Denn wenn die Arbeiterbewegung ihre ideale Erfüllung darin findet, daß sie sich um "ihre" staatliche Ordnung kümmert, indem sie ihrem "organisierten Willen", der SPD, zur Macht verhilft, dann tritt der Funktionär der SPD auf den Plan, der alles tut, die SPD an die Macht zu führen, sie dort zu halten und die Partei dafür auf Vordermann zu bringen. Der Arbeiterpartei, der wegen ihres Ruchs der Linkslastigkeit nie die nötigen Wählerstimmen zugekommen waren, schnitt Wehner zusam- men mit Willy Brandt alte sozialistische Zöpfe ab und bildete sie im Godesberger Programm zur Volkspartei um, die voll und ganz zu den prinzipiellen Richtlinien der jungen Bundesrepublik steht. Wehner realisiert, daß für die politische Macht der Arbeiter- schaft in Gestalt der SPD über die engen politischen Belange der Arbeiterschaft hinausgegangen werden müsse, damit die Arbeiter- schaft ihre politische Macht dann so richtig nützlich zu spüren bekommt. "Es gebt dabei um etwas, was für die Sozialdemokraten auch in Auseinandersetzungen mit anderen sozialistischen Richtungen immer so wesentlich war: die politische Macht zu erringen. Wozu, Genos- sinnen und Genossen? Ich möchte es einmal simpel ausdrücken: da- mit die Macht im Staate nicht mehr dazu mißbraucht werden kann, die Vorrechte jener zu schützen und immer weiter auszubauen, die über die große wirtschaftliche Macht verfügen. Dazu bedarf es dieser politischen Macht und dazu gehört meiner Meinung nach auch der Appell an den Willen, und der muß über die Arbeiterschaft im engeren Sinne hinausgeben. Er muß auch über die Arbeitnehmer- schaft hinausgeben." ('Glaubt einem Gebrannten', Diskussionsbei- trag vor dem Godesberger Parteitag) Um die Regierungs f ä h i g k e i t der SPD zu beweisen, wird auf Betreiben Wehners nicht nur das Parteiprogramm geändert. Seit Anfang der 60er Jahre ist der Realist Wehner auch so frei, eine Große Koalition mit dem politischen Gegner CDU/CSU anzustreben, damit in einer solchen die Union den Vorwurf der vaterlandslosen Landesverräterei der SPD dementieren muß, damit vor allem aber die Sozialdemokraten endlich an der Macht beteiligt sind. Wehners Konzept ging auf. Als dann die Sozis allein mit der FDP die Macht innehatten, ging es darum, sie auch zu bewahren. Dies tat er we- niger durch die reichlich bescheuerte Tour, die ihm den Namen "Zuchtmeister" eingebracht hat, als Fraktionsvorsitzender im Par- lament die moralischen Pflichten eines Arbeitnehmervertreters durch Disziplin vorzuleben und denselben Gehorsam von seinen Ab- geordneten zu verlangen - s o ist die SPD so richtig für ihre Arbeitnehmer -, als vielmehr durch die immer wieder notwendige Unterweisung und Verpflichtung der Genossen auf die gerade anste- henden Regierungsbeschlüsse, wenn sie gerade wieder mehr von rechts als vom demokratischen Sozialismus geleitet schienen. "Um der Regierungsverantwortung willen", der Verantwortung der SPD natürlich, schob "Onkel Herbert" die Genossen in der Regel wieder auf Kurs. Dafür organisierte er auch den Führungswechsel von Brandt (der ein wenig zu "lau bade") zu Schmidt. Wider alle Be- hauptungen von Brandts "Führungsschwäche" und Schmidts "Machthunger" sowie heimlichen Tricks war das spektakuläre Inter- view in Moskau bewußt öffentlich inszeniert, um den für die dama- lige Wirtschaftskrise unpassend gewordenen "Kanzler der Reformpo- litik" durch einen "Macher" zu ersetzen, den die Lage der Nation gerade verlangte - und die Kontinuität der SPD an der Macht erst recht. Für den realistischen Idealismus der Sozialdemokratie an der Macht hat Wehner von den Notstandsgesetzen über die Terrorismus- bewältigung bis zu den heutigen "schweren Zeiten" mit ihren Auf- rüstungsplänen und Sparprogrammen, für das liebe Volk alle Staatsnotwendigkeiten im Namen der arbeitenden Bürger gegen sie durchgesetzt. Ehrlich ist er tatsächlich in seiner Person als Ar- beitervertreter für die Notwendigkeit der Regierungsverantwortung der SPD voll und ganz eingetreten, egal, welche unpopulären Be- schlüsse die Sozis in der Regierung immer beschlossen haben; egal, mit welchen Kompromissen die SPD der FDP immer entgegenge- kommen ist. Denn das letzte und eigentliche "sozialdemokratische Element", das Wehner immer wieder mal - in Regierungsbeschlüssen, in Wahlkämpfen seiner Partei vermißte, ist, daß die SPD unbedingt an der Macht beteiligt zu sein hat. Dafür stauchte Wehner mit ehrlichem Zorn kritelnde Parteigenossen zusammen, ereiferte er sich über linke Abweichler in der SPD-Fraktion als "untreue Toma- ten" des Kanzlers; dafür erklärt er die Konservativen, mit denen er doch immerhin drei Jahre gemeinsam auf der Regierungsbank saß, für "friedensunfähig", im Innern wie nach Außen. Arbeiterbewe- gung, das ist SPD, das ist SPD in der Regierung. Dies verkörpert Herbert Wehner, der Mann mit der Pfeife, mit seinem demonstrati- ven, selbstlosen Einsatz. 1981, als das Zerbrechen der sozialli- beralen Koalition schon Dauerthema war, antwortete er auf die Frage nach den Folgen einer möglichen Spaltung der SPD: "Es würde sehr viel bedeuten. Für die Bundesrepublik würde es be- deuten, daß eine wesentliche politische Kraft ausgeschaltet würde aus der Tätigkeit, in der sie ihre Regierungsfähigkeit beweisen kann. Und es würde wohl auch nicht ohne nachteilige Folgen für die Beziehungen dieses Teiles des getrennten Deutschland zum an- deren Teil und zur anderen Himmelsrichtung, nämlich zum östlichen Bereich, haben." ("Frankfurter Rundschau", 20. Februar 1981) Spezialist für Wiedervereinigung -------------------------------- Herbert Wehner ist nie ein "Landesverräter" gewesen, wie ihm das von konservativer Seite häufig vorgeworfen wurde. Es stimmt, er ist ein "Patriot": "Deutschland ist mein Vaterland in jeder Phase." (Wehner). Aber wer ist, bis auf die paar Ausnahmen, kein Patriot? Für Wehner ist es von seinem Standpunkt aus, der Arbei- terbewegung im demokratischen Staat gleichberechtigte Anerken- nung, also der SPD Regierungsverantwortung zu verschaffen, eine Selbstverständlichkeit, daß diese Demokratie der Arbeiter letzt- lich identisch zu sein hat mit einer geeinten Nation gleichbe- rechtigter deutscher Arbeiter. Weil er "der Arbeiterklasse Deutschlands endlich Gelegenheit geben (will), Deutschlands in- nere Ordnung... zu gestalten" - und diese wird nach Ansicht Weh- ners im Unterschied zur BRD den Arbeitern der DDR vorenthalten, wo SED und Staat sich die demokratischen Rechte der Arbeiter selbstherrlich genommen haben -, will er nicht nur in West- deutschland die Herrschaft der SPD, sondern durch die SPD "die Einheit von Vaterland und Klasse verwirklicht" sehen. Deshalb galt es für ihn, eine Spaltung Deutschlands erst gar nicht zu- standekommen zu lassen. So kämpft Wehner anfangs im Gesamtdeutschen Ausschuß des Bundes- tags gegen die "Westintegration" der BRD, weil damit Fakten gegen die Wiedervereinigung geschaffen würden: "Die sogenannte Integration führt ja nicht automatisch... zur Wiedervereinigung Deutschlands. Der Bundeskanzler begeht in die- ser Beziehung zwei Rechenfehler. Erstens: Er nimmt an, die Zusam- menlegung des Wirtschafts- und Militärpotentials einer Gruppe westeuropäischer Länder werde zu einem gewissen Zeitpunkt die Verhandlungsbereitschaft der Sowjetregierung erzwingen; zweitens: durch die Integrationsverträge seien die westlichen Vertragspart- ner eindeutig auf eine Politik der Wiedervereinigung Deutschlands festgelegt. Zunächst zum ersten. Die Annahme des Herrn Kanzlers berücksichtigt nicht das Risiko einer Ablehnung eines solchen Ul- timatums durch Sowjetrußland. Die deutsche Politik läuft Gefahr, daß die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands an so viele weltpolitische Voraussetzungen geknüpft, so vielen weltpoliti- schen Fragen untergeordnet und zum Gegenstand national-egoisti- scher Erwägungen fremder Mächte gemacht wird, daß eine Regelung mit friedlichen Mitteln aus dem Bereich des Möglichen herausrüc- ken könnte. Zum Zweiten: Die westlichen Vertragspartner erlangen durch die Verträge in Wirklichkeit ein ausgesprochenes Vetorecht gegen die Wiedervereinigung Deutschlands." (Diskussionsbeitrag bezüglich Deutschland und die EVG vom 10.7.1952) Gegen die atomare Aufrüstung der BRD und den NATO-Beitritt führt er ins Feld, daß dies die Sowjetunion von allen Angeboten zur Wiedervereinigung abbringen würde, daß aber umgekehrt "es auch im Bereich des Interesses der Sowjetunion liegen könnte, es mit einem Deutschland zu tun zu haben, in dessen einen Teil nicht so wie heute die SED unumschränkt, aber höchst angefochten herrscht, das dafür aber ein freundlicheres kooperativeres Ge- sicht nach Osten zeigt." (Spiegel-Interview über den Deutschland- plan der SPD vom 15.4.1959) Noch 1959 wird im wesentlich von Wehner entwickelten Deutschland- plan Deutschland als neutrale Zone gefordert, also Abzug der Truppen des Warschauer Pakts und der NATO. "Vorschläge über die deutsche Frage, über die Wiedervereinigung, über die Herstellung von Rechten für die Menschen auf der anderen Seite" lagen in der Schublade, wie Wehner bezeugt. Dann, 1959/60, setzte Wehner die Wende der damaligen SPD-Politik durch. In seiner berühmten Rede vom 30.6.1960, die den bezeichnenden Titel "Plädoyer für eine ge- meinsame Politik" trägt und so das Streben nach Regierungsfähig- keit durch diesen Schwenk erkennen läßt, erklärt Wehner für die SPD, "daß das europäische und das atlantische Vertragssystem, dem die Bundesrepublik angehört, Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik ist... Die So- zialdemokratische Partei Deutschlands bekennt sich in Wort und Tat zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grund- rechte und der Grundordnung und bejaht die Landesverteidigung." Seit 1969, mit dem Beginn der Sozialliberalen Koalition, waren dann die Bedingungen - gegeben, per entspannender Ostpolitik auf die DDR und den Ostblock überhaupt loszugehen. Herbert Wehner hält diese Politik seiner SPD sicher für menschenfreundlicher und friedenserhaltender als die Deutschlandpolitik seiner christli- chen Vorgänger. Er glaubt daran, daß diese Politik keine "aus der Position der Stärke heraus" gewesen sei, obwohl sie doch effekti- vere Ergebnisse der Einflußnahme, vor allem auf die DDR, erbracht hat als die lange Zeit des Kalten Kriegs vorher. Schon vor dem sich abzeichnenden Machtwechsel pries Wehner seine Sozialdemokra- tie als die einzig wahre Friedens- und Freiheitspartei an, wäh- rend die CDU/CSU "tatsächlich ... eine Nachrüstungs- und Rü- stungspartei" sei. Wo die sozialdemokratische Ideologie von der friedenssichernden Entspannung und das "Reden ist besser als Schießen" längst von den von ihr mitgetragenen NATO-Beschlüssen praktisch überholt war, hielt Wehner daran fest, weil für ihn tatsächlich der Übergang der Regierungsverantwortung an die Kon- servativen ein Unglück für sein Lebenswerk eines sozialdemokrati- schen Deutschlands bedeutet. Mit dem Machtwechsel ist auch Herbert Wehner politisch am Ende. "Ich habe mir Mühe gegeben, daß das, was einmal Arbeiterbewegung war, regierungsfähig wird - und es zu erhalten. Jetzt ist es wie- der aus, zunächst einmal." (Süddeutsche Zeitung vom 20. Januar 83) Daß Herbert Wehner anläßlich einer Feierstunde seinetwegen am 1. März dieses Jahres zur Gemeinsamkeit aller Demokraten aufrief - "Ein Feindverhältnis, wie es von einigen angestrebt wird, tötet die Demokratie, so harmlos es anfangen mag - dieses demokratische Gebilde kann miteinander heillos verfeindete christliche Demokra- ten und Sozialdemokraten nicht ertragen." -, so ist das sicher nicht seinem Alter oder einer Resignation die- ses Funktionärs der Sozialdemokratie am Ende seiner politischen Karriere geschuldet. Wer wie Herbert Wehner sein Lebenswerk in der Integration der Arbeiterbewegung in den demokratischen Staat sieht und dies durch die tragende Rolle der SPD in diesem und für diesen Staat allein für gewährleistet hält, der sorgt sich um die BRD, wenn er sich für die SPD Sorgen macht. Ebenso, wie die deutsche Arbeiterbewegung in der Regierungsfähig- keit der SPD ihre Emanzipation vollendet, hat sich auch die deut- sche Demokratie erst dadurch voll entfaltet, daß sie die SPD an die Macht gebracht hat. Der Machtverlust der SPD ist folglich für Wehner ein Rückschlag für die D e m o k r a t i e in der BRD überhaupt. Der "alte Fuhrmann" hat "den Karren" schließlich des- halb gezogen, um - wie er selbst von sich sagt - "den arbeitenden Schichten zu dienen und den Frieden - zu sichern." Für ihn sind die deutschen Arbeiter zu Menschen so richtig erst geworden durch den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler: Dies der einzige L o h n dafür, daß sie freie, gleiche = demokratische Staatsbür- ger mit ihrer SPD geworden sind. Was die Arbeiter in Deutschland davon h a b e n, das dürfte zuguterletzt nicht erst am Ende des politischen Lebenswerks Herbert Wehners zu merken sein. zurück