Quelle: Archiv MG - BRD DEMOKRATISCHES-LEBEN PARTEIEN - Vom Beruf des Politikers
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Liberalismus heute
LIBERAL ZU SEIN BEDARF ES WENIG
In der Politik der BRD kann passieren, was will, von der Nachrü-
stung bis zum Atomskandal, für aufgeklärte Gemüter gibt es den
Trost, daß das "liberale Element" beim Regieren überall "bremst".
In der Koalition und auch außerhalb soll es "trotz allem" und
"immerhin" - verantwortungsvolle und sachliche Köpfe geben, die
Politik noch ernst nehmen, unbestechlich sind und Frieden und
Freiheitsrechte sichern, wo sie nur können. Erträglich sein und
bei weitem noch nicht das Schlimmste soll dieser Staat, weil die
Kraft der liberalen Idee sogar bis zur CDU vorgedrungen ist, wo
sie heute als Blüm, Geißler oder Süssmuth lebendig ist. Der
F.D.P. selbst sei nach wie vor anzurechnen, daß sie als "dritte
Kraft" der eigentliche Motor der bundesdeutschen "Machtbalance"
und des "institutionalisierten Regierungswechsels" ist. Außerdem
soll Liberalität etwas mit Geist zu tun haben, was gerade gebil-
dete Menschen trotz des so gegensätzlichen Augenscheins, den Gen-
scher und Bangemann vermitteln, gerne behaupten.
Der organisierte Liberalismus
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An der FDP und ihren Spitzenpolitikern können solche Lobhudeleien
nicht liegen. Die reden so, wie sie aussehen. Auch der Partei
insgesamt ist das Programmatische an ihren Äußerungen schon län-
ger abhanden gekommen. Dies ist auch kein Wunder, sieht doch der
politische Liberalismus als Staatsdoktrin, die auf Freiheits-
rechte des Individuums und Verrechtlichung der staatlichen Gewalt
abzielt, in einer munter funktionierenden Marktwirtschaft und De-
mokratie samt Grundgesetz, irgendwie alt aus. Der erste und
letzte glaubwürdige Liberale in diesem Sinne, den die Bundesrepu-
blik hervorgebracht hat, war ihr erster Bundespräsident. Theodor
Heuss setzte sich in seiner demonstrativ menschlichen Tour dafür
ein, daß sich die Deutschen nach dem von den Nazis verschuldeten
"Unglück des Staates" einen neuen Staat schufen, mit einem frei-
willigen Nationalismus, der seine bescheidenen Wurzeln in Ge-
schichte und Kultur haben sollte. Als Präsident machte er sich um
die Propaganda des vergleichsweise Neuen im Staat verdient: Jeder
sollte das Regieren und Führen im neuen Deutschland für eine Ver-
anstaltung halten dürfen, welche die Leute g e w ä h r e n
l ä ß t. Und nach Hitler, Krieg und Besatzungsmacht kam das dann
auch manchem so vor. Und der Vergleich funktionierte nicht einmal
bloß im Verhältnis zur Vergangenheit, auch der Kontrast zu den
ehrgeizigen Kollegen, die für Wiederaufbau und Wiederaufrüstung
sämtlichen Standards der alten Reichsritter Genüge taten, machte
sich gut. Der ganze Bonus liberalen Gehabes zehrt von einer Lüge:
daß staatliche Richtlinien und Ordnungsstiftung nichts anderes
seien als ein großartiger Beschluß zur Nichteinmischung in Ge-
schäft und Leben. Mit dieser Lüge vollzogen und vollziehen Libe-
rale noch heute ihre Initiativen in den Hallen der Macht, mit
denen sie aus Kapital und Arbeit, aus Familie und Jugend das Be-
ste für die Nation herausholen.
Der Wiederaufbau des Kapitalismus ließ nicht lange auf sich war-
ten, und auch der Staat klappte prächtig. Und ungefähr von dem
Zeitpunkt an, als die Liberalen in Bonn direkt mitregierten, also
für die Mehrheitsbildung unentbehrlich waren, hatten sie nur noch
eine Sorge: Wie läßt sich der Anteil an der Macht im Staat wei-
terhin sichern? Für dieses Ziel haben sie schon mehrfach die
Seite gewechselt und beiden großen Parteien ermöglicht, den Kanz-
ler zu stellen, immer nach dem liberalen Motto, ihre
B e t e i l i g u n g an der Macht sei dasselbe wie eine
B e s c h r ä n k u n g der Willkür der großen Parteien und
S c h u t z vor Machtmißbrauch. Programmatische Äußerungen bewe-
gen die Partei stets unter koalitionstaktischen Überlegungen; in
sozialliberaler Zeit waren das die "Freiburger Thesen", als der
Liberalismus "um eine soziale Dimension aktuell aufgefüllt" wer-
den sollte, seit der Wende wird wieder mehr der Wirtschaftslibe-
ralismus entdeckt und die "Sklaverei des Wohlfahrtsstaates" be-
kämpft.
Das eigentliche Angebot der Liberalen besteht deshalb in ihren
Personen, die - egal in welcher Koalition - die "liberale Identi-
tät" einfach dadurch garantieren, daß sie und niemand anders an
den Schaltstellen der Macht sitzen. Regelmäßig und nicht von un-
gefähr sind die neuen Spitzenleute der Partei der Öffentlichkeit
ein unbeschriebenes Blatt, wachsen aber überraschenderweise an
der Ausübung ihres schweren Amtes. Genscher hat es sogar soweit
gebracht, den Sprung vom Innen- zum nicht Englisch sprechenden
Außenminister so völlig vergessen zu lassen, daß er heute als
d e r Außenminister überhaupt gilt. Mit der Machtausübung stel-
len sich eben auch die Techniken ein, sie zu erhalten, und sei es
auch nur die immer wiederholte Übung, den unglaublich vielen Aus-
landsreisen unglaublich viele Unter- und Nebenbedeutungen zuzu-
schieben.
Im übrigen verfügt die Partei noch über i h r e "liberalen Mah-
ner". Das sind die beiden Ex-Minister Baum und Hirsch, die ja be-
kanntlich, als sie noch regierende Innenminister in Bonn und Düs-
seldorf waren, vor lauter Überprüfen der Rechtsstaatlichkeit nie
dazugekommen sind, Verfassungsschutz und Polizei zum Einsatz zu
bringen. An dem Maßstab für ihre liberalen Auftritte hat sich
nichts geändert: Demonstranten und andere kritische Bürger gehö-
ren natürlich kontrolliert, überwacht und mit polizeilichen und
juristischen Maßnahmen konfrontiert; in der Regel reichen dafür
die bestehenden Gesetze aus, der Staat soll seine vorhandenen
Mittel effektiv einsetzen. Auf jeden Fall muß alles ordentlich =
rechtsstaatlich ablaufen, was die Ermittlungs- und Strafverfol-
gungsbehörden unternehmen: So lautet der Einwand der Liberalen
gegen das geplante "Verfassungsschutzmitteilungsgesetz": Hier
würde ein "schrankenloser Informationsaustausch eröffnet,
o h n e daß der mindeste Versuch unternommen werde, diese Infor-
mationsverbindungen i n i r g e n d e i n e r W e i s e z u
r e g e l n" (Süddeutsche Zeitung, 21.1.).
Besonders glaubwürdig stehen diese Dauerverteidiger des Rechts
da, wenn sie von der CSU den Vorwurf der Schwäche, Feigheit usw.
einfangen. Diese Liberalen wissen nur zu gut, wie sehr ihre Empö-
rung und ihr Engagement von den Attacken ihrer Kontrahenten zeh-
ren, weshalb sie auch keine Gelegenheit auslassen, ihren liebsten
Gegner und Koalitionspartner öffentlich zu reizen. Die Partei
läßt sie gewähren, auch wenn es ihr nicht immer in das Koaliti-
onskalkül paßt - schließlich stehen immer irgendwo Wahlen an, und
da muß man sich zumindest etwas von den anderen Parteien unter-
scheiden. Darüber hinaus darf man das Personal für eine künftige
Wende, mit der die Partei rechnet, nicht zu sehr verärgern.
Längst hat die FDP also klargestellt, wie sie Liberalismus buch-
stabiert. Mit ihrem "Vermummungsparteitag", den sie vor kurzem
abgehalten hat, ist es ihr jedoch gelungen, noch ein neues libe-
rales Element hinzuzufügen. Erst hatte sie sich den Standpunkt zu
eigen gemacht, daß in Sachen "Vermummung" kein gesetzgeberischer
Handlungsbedarf bestehe und daß ein neues Gesetz nur die Polizei
bei ihrer Kontrolltätigkeit vor Ort behindern würde, wenn man ihr
zur Auflage macht, bei Demonstrationen hinter jeden Schal zu
schauen. Dann ist der Parteiführung eingefallen, daß sie sich für
weitere Verhandlungen mit CDU/CSU "den Rücken frei" (Genscher)
machen müsse. Also hat sie ihre Position geräumt und aus der
Durchführung des Sonderparteitages gleich doppelten Nutzen zu
schlagen versucht: Erstens war der Sieg über den innerparteili-
chen Widerstand ein "Lehrstück in Demokratie" (Bangemann) und
eine "Stärkung der Autorität der Parteiführung" (Lambsdorff).
Zweitens und vor allem aber hat die FDP die politische Kultur der
Republik durch ein neues Argument bereichert. Und das geht so:
Gerade indem sie nun einer Verschärfung des Vermummungsverbots
z u s t i m m t, hat sie weitere Gesetze dieser Art
v e r h i n d e r t. Mit ihrer Haltung des "Bis hierher und
nicht weiter!" habe sie wahre liberale Größe gezeigt. Mit dieser
Dialektik hat sie natürlich nicht die politische Absicht ihres
Koalitionspartners gebremst, jede Art von Bürgerprotest noch bes-
ser in den Griff zu bekommen. Die Abwicklung des nächsten Umfal-
lens aber hat sie vorbereitet: Liberale Bastionen werden dadurch
gerettet, daß man sie aufgibt. Die Grenze zwischen "liberal" und
"nicht-liberal" - so die Logik - verläuft dann etwas anders, aber
als Grenze sei sie ja immer noch vorhanden...
Der spontane Liberalismus
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Durch die Anwendung eines eigentümlichen Verfahrens sind in der
letzten Zeit ein paar Politiker anderer Parteien in den Ruf gera-
ten, "liberal" zu sein. Gemeinsam ist den neuen Liberalen v.
Dohnanyi, Süssmuth, Geißler und Blüm, daß ihnen jeweils zugute
gehalten wird, etwas n i c h t gesagt oder getan zu haben. Oder
sie werden gemessen an dem gewohnten Auftreten ihrer Par-
teifreunde, mit dem verglichen sie unwahrscheinlich fortschritt-
lich sind.
- So sonnt sich der Hamburger Bürgermeister v. D o h n a n y i
in seinem Ruhm, ein zurückhaltender und liberaler Politiker,
vielleicht gar ein zu Höherem berufener Staatsmann zu sein, weil
er den Konflikt mit der Hafenstraße friedlich beendet hat. Dieses
Etikett hat er sich schlicht dadurch erworben, daß er die von ihm
zusammengezogene Gewalt aus Tausenden von Polizisten und Bundes-
grenzschutzeinheiten nicht zum finalen Einsatz brachte. Man erin-
nere sich: Mitten in seiner Stadt entdeckte der Hamburger Senat
einen "unhaltbaren Zustand" namens Häuserbesetzung in der Hafen-
straße. Diesen "rechtsfreien Raum", von dem angeblich pausenlos
Verstöße gegen die Rechtsordnung ausgingen, wollte er nicht mehr
hinnehmen. Akt 2 dieser Inszenierung: Mit der Poizeimacht im Rüc-
ken, die auf ihren Einsatzbefehl wartet, entfaltet Dohnanyi ein
taktisches Manöver von Verhandlungen und Ultimaten. Die Hausbe-
setzer, mürbe gemacht, geben schließlich nach. Akt 3: Die wider-
liche öffentliche Feier des Friedensbewahrers Dohnanyi. Allgemein
übersehen wird, daß der Erfolg seines Taktierens nur zustande kam
durch die Erpressung mit den zur Verfügung stehenden Gewaltmit-
teln.
- Rita S ü s s m u t h ist nicht nur nicht ein Mann, also Frau
= weich = liberal, sie profitiert vor allen Dingen von der kom-
promißlosen Aids-Bekämpfung ihres Kollegen Gauweiler. Weil sie
seine Maßnahmen (noch) nicht ergreifen will, gerät darüber glatt
der gemeinsame Ausgangspunkt ihrer Seuchenpolitik in Vergessen-
heit. Die "Süssmuth-Linie" besteht eben darin, '"Aufklärung vor
seuchenrechtliche Maßnahmen" zu setzen, weil z.B. "Absonderung in
sog. Aids-Krankenhäuser seuchenhygienisch sinnlos ist"
(Stellungnahme der Bundesregierung, FAZ 18.12.87). Jeder Geset-
zes- und Kasernierungsvorschlag aus dem Hause Gauweiler macht
diese Linie (vergleichsweise) noch liberaler.
- Genscher macht bekanntlich realistische Außenpolitik. Irgendwo
hinfahren, um dort nur auf der Einhaltung der Menschenrechte her-
umzuhacken, und das vor, während und nach der Reise groß heraus-
zuposaunen, käme ihm nie in den Sinn. Da könnten wertvolle Bezie-
hungen bei draufgehen. Strauß denkt mehr an das Geschäftliche und
an seine Parallel-Außenpolitik. Ganz anders denken da offenbar
Geißler und Blüm. Sie suchen sich ein paar Staaten der "3. Welt"
heraus, vorzugsweise Chile, machen sich Gedanken um seine gefähr-
dete Stabilität und klagen heuchlerisch Gewalt und Elend an. Und
genießen hier prompt den Ruf liberaler Menschenfreunde, die gegen
Folter und Unterdrückung kämpfen. Sehr berechnend werden Anlässe
ausgesucht und Reisetermine festgesetzt, "ein Thema besetzen"
heißt das im Politjargon. Und wenn man sich dann öffentlich von
seinem Parteifreund Strauß, mit dem man sich ansonsten bestens
versteht, absetzt, wenn dieser mal wieder Südafrika bereist und
vor dem Wahlrecht für Neger warnt, verfestigt sich das Bild vom
Liberalen wieder ein bißchen. Sich an den Profilierungskünsten
der Schwesterparteien zu erfreuen, wie es in der kritischen
Presse üblich ist, läßt beiseite, daß Blüm und Geißler von dem
bestehenden deutschen Einfluß in diesen Ländern ausgehen. Das
Recht auf Einmischung ist ihnen (und der Öffentlichkeit) selbst-
verständlich. Von dem, was deutsche Politik und deutsches Kapital
zur Aufrechterhaltung von Unterdrückung und Elend getan haben,
wollen sie nichts wissen. Es ist schon eine billige Zusatzveran-
staltung zu der von der BRD praktizierten Einmischung in Chile
und anderswo (und zu den Reisen von Genscher und Strauß), mit der
man hier zum "Liberalen" aufrücken kann.
*
Apropos Liberalismus und Geist: Diese Stelle ist bereits an
Richard von Weizsäcker vergeben. Die staatliche Gewalt laufend
mit dem Schein von Begründungen versehen, "Bezüge" zu allen mög-
lichen Gegenständen, Gedanken, Theorien usw. herstellen, den
Staat als Kulturleistung und moralische Anstalt feiern, das kann
zur Zeit keiner so weihevoll wie er.
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