Quelle: Archiv MG - BRD DEMOKRATISCHES-LEBEN ALLGEMEIN - Von Dichtern und Denkern
zurückSKANDALE ERSCHÜTTERN DIE REPUBLIK BLOSS: WAS FÜR WELCHE?
Der Kanzler hat sich ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsver- fahren wegen uneidlicher Falschaussage eingefangen. Die Lüge, die ihm vorgeworfen - und von Geißler als "Blackout" entschuldigt - wird, betrifft nicht etwa die regierungsamtliche Aufschwung-Pro- paganda, die dem Publikum, entgegen den elementaren Regeln der Addition und Subtraktion, einen verminderten Preisanstieg als Kaufkraftgewinn in Höhe eines Kleinwagens pro Haushalt vorrech- net. Auch die dummdreiste Manier ist nicht gemeint, mit der Kanz- ler Kohl jede Zurückweisung sowjetischer Abrüstungsvorschläge als Friedenstat feiert und in einem Atemzug fordert: die "Null-Lö- sung" bei den Mittelstreckenraketen müsse 1. weltweit und total gelten und dürfe 2. die französischen und englischen Exemplare n i c h t einschließen - nachzulesen in der "Welt am Sonntag" von Ostern. Nein: strafrechtlich ermittelt wird wegen verdächti- ger Schweigsamkeit des Kanzlers vor einem parlamentarischen Un- tersuchungsausschuß bezüglich der Entgegennahme kleiner illegaler Industriespenden an seine Partei... Der "starke Mann" des Berliner Senats, Heinrich Lummer, ist zur Skandalfigur geworden, weil er seine herzlichen Beziehungen zur Halbwelt des nationalen Gebrauchtwagenhandels verschwiegen hat, was den Verdacht nahelegt, daß er da was zu verschweigen hat. Da- bei ist sowieso jedem klar, daß in der Frontstadt der Freien Welt weder ein Geschäft ohne politische Protektion noch eine politi- sche Entscheidung ohne Schmiergeld läuft. Über Meister Lummer weiß außerdem jeder, daß er - mit und ohne Geldspenden - in rechtsradikalen Kreisen Sympathien sammelt, indem er faschisti- sche Urteile über Ausländer, vor allem Asylbewerber, zur senats- amtlichen Sprachregelung und damit politisch ehrenwert macht und alles tut, damit nicht bloß seine Polizei danach handelt, sondern auch die Gesetzeslage der Berliner Politik angepaßt wird. Nichts davon schadet ihm. Was seinen Stuhl zum Wackeln bringt, ist ein auf Schmalfilm mitgeschnittener Händedruck mit einem dubiosen Wuppertaler Geldspender... Einen Schein von Ernsthaftigkeit und Gewichtigkeit bekommt dieses Skandalgetue hauptsächlich durch den Nachdruck, mit dem die Re- gierungspartei sich dagegen verwahrt. Als gute Christen in der Dialektik der Moral, als gute Demokraten in den Techniken der Heuchelei geschult, kontern sie die juristisch unterbauten Zwei- fel an ihrer unbedingten Ehrenhaftigkeit mit moralischen Gegenan- griffen auf die Integrität ihrer Kritiker. Geißler, dessen Innen- minister Zimmermann gerade mit einem neuen Geheimdienst-Gesetz das Denunzieren als Bürgerpflicht festschreiben will, erinnert ausgerechnet gegen Schily an den alten obrigkeitskritischen Sinn- spruch vom Denunzianten als dem denkbar größten Schweinehund; das ist christliche Redlichkeit. Albrecht und Kollegen retten die Ehre der unabhängigen Justiz durch laute Zweifel an der politi- schen Unabhängigkeit des Kölner Oberstaatsanwalts, dessen Vorge- hen "wg. Kohl" schon deswegen unlauter sein muß, weil es in der Parteienkonkurrenz der Opposition nützt; das ist gut demokratisch gedacht. Die daran an schließenden öffentlichen Schaukämpfe brin- gen vollends in Vergessenheit, wie un-, ja antikritisch schon die Vorwürfe sind, die der amtierenden Obrigkeit da gemacht werden. Die Fahndung nach allenfalls justiziablen Verfehlungen der Promi- nenz dokumentiert doch bloß, daß in einer perfekten Demokratie wie der bundesdeutschen ein Politiker durch Kritik an seiner Po- litik überhaupt nicht zu gefährden ist. Alle Inhalte der Politik sind längst abgehakt und kommen erst gar nicht zur Sprache, wenn aller "oppositioneller" Eifer sich auf die Frage konzentriert, ob die herrschenden Führerfiguren auch, persönlich gesehen, ta- dellose Ehrenmänner sind - mehr Hochachtung vor dem politischen G e s c h ä f t ist gar nicht denkbar. Und wenn dieses Sauber- keitswesen sich auch noch auf die Ermittlung etwaiger Gesetzes- verstöße reduziert, dann dürfen die Führer der Nation sich sicher sein, daß g e g e n sie nicht einmal mehr die moralisierende Beckmesserei verfängt, in der oppositioneller Bürgergeist sich normalerweise austobt. In dieser Sicherheit starten sie ihrer- seits ihre moralisierenden Angriffe auf den kläglichen Überrest an Bedenken gegen die Selbstherrlichkeit der nationalen Füh- rung... zurück