Quelle: Archiv MG - BRD DEMOKRATISCHES-LEBEN ALLGEMEIN - Von Dichtern und Denkern
zurück
Bericht aus Bonn
LETZTE WOCHE IN DER HAUPTSTADT DER
DEMOKRATISCHEN DEUTSCHEN REPUBLIK
Majestätsbeleidigung
--------------------
"Wer den König anzeigt, der wird bei uns um einen Kopf kürzer ge-
macht" - so streng waren sie noch, die Bräuche in der Guten Alten
Zeit, und die christlichen Unionspolitiker samt ihrer Spezis von
der Öffentlichen Meinung in Presse, Funk- und Fernsehen rea-
gierten letzte Woche sichtlich sauer, daß das heute nicht mehr so
einfach zu erledigen geht. Immerhin fragte man sich in Bonn nach
dem Beschluß der Staatsanwaltschaft, gegen Kanzler Kohl ein Er-
mittlungsverfahren einzuleiten, vor allem eins: Dürfen die das?
Oder steckt hinter dem Ermittlungseifer der Justiz gegen einen
leibhaftigen Bundeskanzler weniger Wahrheitsliebe als vielmehr
die Intrige eines SPD-Ministers im Bundesland Nordrhein-Westfa-
len? Im stinknormalen bürgerlichen Leben wird nicht danach ge-
fragt, w e r angezeigt hat, sondern ob da was dran ist oder
nicht. Da geht es bei Kanzlers wesentlich pingeliger zu: Wer dem
stärksten Mann im Staate gerichtsmäßig kommen will, der ärgert
nicht bloß den Kohl, der muß sich vielmehr fragen lassen, ob er
nicht dem ganzen sauberen Staat am Zeug flicken will. Deshalb ist
für einen relevanten Teil der bundesdeutschen Öffentlichkeit die
eigentliche Schuldfrage schon geklärt: Sie trifft den "Kanzler-
Anzeiger" Schily (Bild), gegen den der CDU-Propagandaminister
Geißler den Volksmund zitiert: "Der größte Schuft im ganzen
Land..." Selbstverständlich sind Polizisten, Verfassungsschutz-
spitzel, Staatsanwälte und andere brave Bürger nie und nimmer
D e n u n z i a n t e n, sondern denunzieren im Staatsdienst.
Rotiert
-------
Seinen letzten Auftritt hatte er im Deutschen Bundestag gehabt
als am Donnerstag letzter Woche über die "Ergebnisse" des "Flick-
Ausschusses" diskutiert wurde. Otto Schily ist in den drei Jahren
Parlament zu einem echten Vollprofi geworden. Folglich beginnt er
jede seiner reden erst einmal mit einem Lobpreis der
D e m o k r a t i e, der er es besonders hoch anrechnet, daß er
im Bundestag reden darf. Schily hat drei Jahre lang die Mächtigen
der Republik f r a g e n dürfen, deshalb ist für ihn die Welt
schon mal in Ordnung. So ein Fanatiker von recht und Ordnung "von
unten" merkt natürlich im Leben nicht, daß die Republik gerade
deswegen w i e g e s c h m i e r t läuft, weil das Volk sich
immer wieder einmal an der Frage erbauen darf, ob der eine oder
andere seiner führenden Politiker "geschmiert" worden ist oder
nicht. Insofern hat sich Otto Schily zweifelsfrei um die Demokra-
tie verdient gemacht. In seiner letzten Bundestagssitzung hat ihm
auch prompt ein Mann der Koalition nachgerufen, daß das tolle am
BRD-Staatswesen nicht zuletzt darin liege, daß hier "Leute wie
die Grünen" unbehelligt lästern dürfen. Nicht einmal da ist dem
Schily etwas aufgegangen: Wenn er aus parlamentarischem Munde er-
fährt, daß Typen wie er eigentlich verboten gehören, man sie aber
(noch) läßt, weil man gerne mit der eigenen "Toleranz" protzen
können möchte - dann sagen Grüne dazu auch noch "Danke schön!"
weit offen
----------
Wenn der deutsche Bundeskanzler seinen "Bericht zur Lage der Na-
tion" abliefert, dann ist vorwiegend von a n d e r e n Nationen
die Rede. So nutzte Kohl auch letzten Freitag die Gelegenheit,
über die DDR, die Volksrepublik Polen, die CSSR und die UdSSR
herzuziehen, weil sich diese Staaten nach wie vor hartnäckig wei-
gern, ihr ganzes oder zumindest Teile ihres Territoriums in Bonn
abzugeben, nur weil im Vorwort zum Grundgesetz steht, daß "wir"
das haben möchten. Dieser Anspruch auf teile des "Ostblocks"
heißt vornehm auf demokratisch-deutsch: "Die deutsche Frage offen
halten!"
Weit offen halten wollen sie die Unionschristen ebenso wie die
Sozialdemokraten. Den Streit gibt es darüber, wer den Honnecker
dafür am geschicktesten einspannt. In der Debatte über die "Lage
der Nation" ging es folglich um F o r m u l i e r u n g e n. In
allen wesentlichen Punkten beteuerte Vogel für die SPD "viel
Übereinstimmung mit der Bundesregierung". Im Kern der Sache war
man sich einig: Bürger der DDR sind keine, sondern eigentlich
Bundesbürger, die drüben festgehalten werden"! (Keine Anerkennung
einer DDR-Staatsbürgerschaft.") Die DDR ist zwar ein Staat, mit
dem "wir" rechnen m ü s s e n, aber keiner, mit dessen Existenz
"wir" uns abfinden w o l l e n! (Keine völkerrechtliche Aner-
kennung der DDR.") Es g i b t zwar Grenzen in Europa, was man
an den Grenzpfählen merkt, aber für "uns" gelten die nur solange,
wie "wir" sie nicht v e r ä n d e r n können! ("Endgültige Re-
gelung der deutschen Grenzen durch einen Friedensvertrag mit den
Siegermächten des II. Weltkriegs.") Weil diese Hämmer sämtlich
als "Deutschlandpolitik" unumstritten sind, kommt natürlich kein
anständiger (West)Deutscher auf die Idee, daß der Kanzler hier
wirklich einmal eindeutig und wie gedruckt l ü g t, wenn er po-
saunt: "Wir sind bereit, zum Wohle der Menschen auch viele kleine
Schritte zu tun." D a f ü r weichen sie keinen Zentimeter von
"unseren Rechtspositionen" ab. Andersherum: Wenn es darum geht,
der DDR eins reinzuwürgen, dann entdeckt der Kanzler plötzlich
"das Wohl der Menschen" - aber nur in der DDR. D o r t könnte
er sich sogar für einen S t r e i k begeistern, während er "bei
uns" doch lieber den Paragr. 116 ein bißchen abändert.
Kompromiß
---------
Letzte Woche hat die CDU mit sich in Gestalt ihrer Sozialaus-
schüsse einen Kompromiß in Sachen 116 erzielt. Der hat den Vor-
teil, daß jetzt die Unternehmerverbände "glaubwürdig" von sich
behaupten können, sie seien nicht in allen Punkten mit dem Ge-
setzsentwurf der Regierungskoalition einverstanden. In einer De-
mokratie gilt ja eigenartigerweise ein Gesetzentwurf gerade dann
als besonders geglückt, wenn alle B e t r o f f e n e n wirk-
lich betroffen reagieren. Darin liegt die Wahrheit, daß sich in
so einem Entwurf tatsächlich allein das S t a a t s i n t e-
r e s s e durchgesetzt hat ohne Rücksichtnahmen auf besondere
Interessen, die gerne für sich was anderes gekriegt hätten. Die
Reaktion der Kapitalisten ist die von Leuten, die nie genug
kriegen können, weil sie wissen, daß die ganze Veranstaltung
ohnehin in ihrem Interesse veranstaltet wird. Die Gewerkschaften
wollen das allerdings nie und nimmer wahrhaben: Obwohl es sie
seit 100 Jahren gibt, und sie auch nach 100 Jahren bloß
A r b e i t e r vertreten, die es zu nichts gebracht haben,
halten die DGB-Führer ungerührt daran fest, daß d i e
P o l i t i k eine Wohltat für die Massen wäre, von der man satt
werden könnte. Deshalb veranstalten die Gewerkschaften jetzt eine
alternative Volksabstimmung zum Paragr. 116. Jedermann ist klar,
daß das nichts n ü t z e n wird. Aber die m o r a l i s c h e
W i r k u n g stellt man sich in DGB-Kreisen als ungeheuer vor.
Vielleicht ist das auch eine wegweisende Methode für die Abwick-
lung künftiger Tarifrunden: Die Gewerkschaft läßt ihre Mitglieder
darüber abstimmen, ob sie der Meinung sind, mehr Lohn wäre besser
als weniger. Wenn sie dabei eine Mehrheit kriegt, ist bewiesen,
wie recht sie hat.
Reifeprüfung
------------
Große Befriedigung hat in Bonn und anderen Hauptstädten der zivi-
lisierten Welt die Nachricht ausgelöst, daß die Bevölkerung des
Staates Spanien sich mehrheitlich für die NATO ausgesprochen hat,
obwohl diese Leute die Möglichkeiten hatten, sich wenigstens per
Stimmzettel gegen eine Mitgliedschaft in diesem M i l i t ä r-
b ü n d n i s auszusprechen. Die "Bild"-Zeiung schwärmte gleich
von einer "Spanischen Lektion: Es lohnt sich weiter, auch
u n b e q u e m e Überzeugungen zu verteidigen." Man muß den
Kälbern also nur glaubwürdig klarmachen, wer ihr Metzger ist,
dann wählen sie ihn, auch noch selber! Den hiesigen Fans dieser
Organisation zur Vorbereitung und siegreichen Durchführung des
Weltkriegs Nr. 3 namens NATO wird angesichts der erfrischenden
Bereitschaft spanischer Menschen zu Atomkrieg und SDI zwar ein
"sozialistischer Ministerpräsident" sympathisch: "Er siegte".
Auch südlich der Pyrenäen, das ist jetzt erwiesen, lebt ein
freiheitlicher Menschenschlag, der sich vor den Russen mehr
fürchtet als vor dem Tod.
zurück