Quelle: Archiv MG - BRD AUSSENPOLITIK OSTPOLITIK - Deutschland über alles
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"Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenar-
beit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der
sozialistischen Sowjetrepubliken"
WIE AUS FEINDSCHAFT FREUNDSCHAFT WIRD
Gorbatschow kommt als erster großer Staatsbesucher ins neue große
Deutschland. Er repräsentiert so demonstrativ die Zustimmung sei-
ner Nation zu einem deutschen Kriegsgewinn ohne Krieg, der ganz
auf sowjetische Kosten geht.
Deutschland, Freund und Partner der kapitalistischen Staaten des
Westens, ist endgültig frei von den Folgen der Niederlage im
Zweiten Weltkrieg; es hat seine Einheit, seine volle Souveräni-
tät, die Position der Großmacht in Europa bekommen - im Grunde
geschenkt vom Feind von gestern, der Sowjetunion. Die Sowjetunion
hat ihre sozialistische Eigenart zu wirtschaften und Staat zu ma-
chen aufgegeben. Außenpolitisch ist sie darum bemüht, von sich
aus der Feindschaft der NATO jeden Grund zu nehmen: militärischer
Rückzug an allen weltpolitischen Fronten; in Europa Aufgabe des
Zugriffs auf Ostdeutschland und die Länder Osteuropas und offi-
zielle Anerkennung der neuen Großmacht Deutschland. Was einige
sowjetische Generäle für Leichtsinn halten, wird von Gorbatschow
praktiziert: Die Sowjetunion gibt freiwillig ihre "Kriegsbeute"
aus dem Zweiten Weltkrieg weg. D e n Feind der NATO und des
deutschen NATO-Frontstaats gibt es nicht mehr.
Aber muß wegen dieser neuen Konstellation aus der gestrigen
Feindschaft zwischen den "Revanchisten" in Bonn und den "brutalen
Machtpolitikern" im Kreml, die "nur die Sprache der Gewalt ver-
stehen", gleich und sofort eine Freundschaft zwischen Berlin und
Moskau werden? Offenbar schon! Offenbar kennt die deutsche Außen-
politik keine hehren Grundsätze, außer dem werten Prinzip, den
Hals nicht voll zu kriegen, wenn es darum geht, deutsche Macht
und deutschen Einfluß zu mehren. Und offenbar kann sich Deutsch-
land den neuen Partner im Osten schnappen, weil der eine Außenpo-
litik verfolgt, die jede Normalität imperialistischer Politik auf
den Kopf stellt.
Die deutsche Freundschaft - eine seltsame sowjetische Hoffnung
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"Der sowjetischen Seite bedeutet der neue Ausgleich zwischen Rus-
sen und Deutschen weit mehr, nämlich die Erwartung einer Osmose,
die es uns ermöglicht, mit deutscher Hilfe nach Europa zurückzu-
kehren. Das heißt für die Sowjetunion, eine soziale Markt-
wirtschaft zu etablieren, die diesen Namen verdient, und das
heißt für das vereinte Deutschland, über diese Kooperation eine
Großmachtstellung zu erlangen. Schlichte Gemüter hüben wie drüben
behaupten immer wieder, nur die verzweifelte Lage des Landes habe
Michail Gorbatschow bewogen, seine 'deutschen Anteile' zu ver-
schleudern wie weiland Zar Alexander II. das kostbare Alaska an
die Amerikaner...
Auch in einer noch schlimmeren Lage hätte Moskau um keinen Preis
die deutsche Einheit abgesegnet ohne die feste Überzeugung, daß
dies seinen nationalen Interessen entspricht." (Portugalow,
sowjetischer Deutschland-Experte)
Ein eigenartiges Programm, nationale Interessen zu verfolgen. Die
sowjetische Seite handelt nach einem Grundsatz, der für eine
Großmacht absurd ist. Sie hält es allen Ernstes für i h r e n
V o r t e i l, wenn eine a n d e r e Staatsmacht, nämlich eben
die deutsche, a u f i h r e K o s t e n
e n t s c h e i d e n d s t ä r k e r wird. Sie verschafft sich
noch nicht einmal sichere, von ihr selbst zu kontrollierende
G a r a n t i e n dafür, daß die neue deutsche Größe ihr nützt;
sie s e t z t darauf - eine bemerkenswerte Art von "russischem
Roulette".
Die sowjetischen Hoffnungen richten sich vor allem auf zwei Ange-
legenheiten.
Erstens sind die "Reformer" im Kreml dabei, ihre "Planwirtschaft"
zu ruinieren. Sie gefällt ihnen schon lange nicht mehr, weil ihre
Erträge dem Staat weniger Reichtum bescheren als der Kapitalismus
den westlichen Staaten. Deswegen wollen sie zu
"marktwirtschaftlichen Verhältnissen" hin - und dieses
"Experiment" bekommt ihrer Volkswirtschaft gar nicht gut. Aber je
mehr sie an ihrem System kaputtmachen, um so besser gefällt ihnen
das westliche "Modell". Damit sie es schneller hinkriegen, sollen
die kapitalistischen Nationen ihnen h e l f e n. Mit Krediten,
mit "marktwirtschaftlichem Sachverstand", mit Unternehmern, die
in der großen Sowjetunion Großes unternehmen sollen. Dabei setzen
diese Strategen vor allem auf Deutschland, für dessen "gewaltiges
Wirtschaftspotential" sie nichts als Bewunderung übrig haben -
denn wie der Reichtum von Unternehmern und Staatskassen in diesem
kapitalistischen Musterland zustandekommt, das interessiert die
ehemaligen Kritiker der Ausbeutung schon lange nicht mehr.
Die Krisenpolitiker des Kreml glauben tatsächlich, daß die den
Deutschen gebotene Chance, "die Sowjetunion marktwirtschaftlich
zu erschließen", das passende Mittel wäre, die Sowjetunion vor
der Katastrophe zu bewahren. So als wäre kapitalistisches Ge-
schäft deutscher Art so etwas wie eine freiwillige Feuerwehr.
"Ohne alle Beschönigung: Von der Partnerschaft, ja der Freund-
schaft mit dem vereinten Deutschland, von der deutschen Wirt-
schaft und deutschen Privatinvestitionen erhoffen wir die Erret-
tung aus der drohenden Katastrophe." (Portugalow)
Zweitens spekulieren die Weltpolitiker in Moskau offenbar darauf,
sie könnten mit der NATO besser klarkommen, wenn sie nicht bloß
mit der Führungsmacht des westlichen Militärbündnisses hübsch
nachgiebig verhandeln, sondern außerdem der BRD, dem europäischen
Vorposten der NATO, alle machtpolitischen Wünsche erfüllen. Dabei
sind sie sogar darauf verfallen, der deutschen Seite Wünsche er-
füllen zu wollen, die die Macher in Bonn noch gar nicht offen ge-
äußert haben: Einen ständigen Sitz im UNO-Weltsicherheitsrat für
das neue Deutschland haben sie ins Gespräch gebracht - so unge-
fähr die höchste diplomatische Machtposition, die in der Staaten-
welt zu vergeben ist. Die sowjetische Berechnung geht anscheinend
dahin, so ließe sich zu ihren Gunsten die Konkurrenz im westli-
chen Bündnis dahingehend ausnützen, daß ab und zu von e i n e m
Kontrahenten ein bißchen Fürsprache ausgeht. Eine solche Fürspra-
che wollen sich die Russen schon jetzt sogar für den Eventualfall
eines Krieges vorstellen, und die westdeutschen Diplomaten haben
prompt erklärt, daß auch sie sich eine solche Position vorstellen
können. So kam es zum Artikel 3:
"Sollte eine der beiden Seiten zum Gegenstand eines Angriffs wer-
den, so wird die andere Seite dem Angreifer keine militärische
Hilfe oder sonstigen Beistand leisten..." (Artikel 3)
Die Frage ist müßig, ob die deutsche Diplomatie in eine Zwick-
mühle geriete, wenn sie sich jemals zwischen NATO-Bündnis und
Deutsch-Sowjetischem Vertrag entscheiden müßte. Erst einmal hat
sie n u r, aber immerhin s c h o n, bekundet, daß sie auch in
militärischen Dingen an einer Veränderung der Weltlage arbeitet.
Einer Sowjetunion gegenüber, die konsequent ihren Rückzug fort-
setzt, will sich ein Genscher einen Schuß N e u t r a l i t ä t
leisten.
Die sowjetische Freundschaft - eine durchkalkulierte Chance
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für deutsches Geschäft und deutsche Macht
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"Mit der Überwindung des Ost-West-Konflikts wird der Blick frei
für die Chancen einer neuen Weltordnung. Die Teilung Europas und
der Ost-West-Konflikt haben über Jahrzehnte unsere Kräfte gebun-
den. Wir wollen sie nun gemeinsam für Europa und für die Welt
einsetzen." (Genscher)
Was die sowjetischen Hoffnungen und Spekulationen wert sind, er-
gibt sich klar und deutlich aus den politischen Chancen und Frei-
heiten, die die Deutschen für sich daraus machen.
Was erstens die Wirtschaftspolitik betrifft, so gefällt es den
Brüdern im deutschen Wirtschaftswunderland ganz ausgezeichnet,
daß die Sowjetmacht ihr realsozialistisches System wegwirft. Dar-
über vergessen sie sich und ihre Interessen aber keine Sekunde
lang so weit, daß sie sich ans H e l f e n machen würden. Das
gehört nämlich gar nicht zum Beruf des erfolgreichen Wirtschafts-
politikers, und zum Beruf Kapitalist schon gleich nicht. Kredite
sind von ihnen zu haben - weil sie Zinsen einbringen und Eigen-
tumsrechte gegen den Schuldner schaffen. Marktwirtschaftliche
Ratschläge geben die Inhaber von deutscher Mark und deutscher
Macht auch gerne - nämlich vor allem den, z u i h r e n
B e d i n g u n g e n u n d z u i h r e m V o r t e i l
schöne, aussichtsreiche Geschäfte einzuleiten. Wenn dann alles
vorbereitet ist und kein Risiko mehr droht, d a n n gehen deut-
sche Unternehmer sogar zum Geldverdienen nach drüben und zeigen
den Russen, wie man mit willigen Arbeitskräften gute Deutsche
Mark verdient, und der deutsche Staat unterstützt sie dabei. Nur
kommt dabei eines mit Sicherheit nicht heraus, nämlich die
S a n i e r u n g ihrer nationalen Wirtschaft, die die Sowjetre-
gierung sich davon erhofft. Für so ein Unternehmen geben weder
Kapitalisten noch kapitalistische Staaten ihr Geld aus - an Polen
und Ungarn könnten die sowjetischen Reformer diese Wahrheit be-
sichtigen und lernen, daß das grenzüberschreitende Geschäftsleben
alles andere ist als ein Mittel für nationale Aufbauprogramme.
Aber genau darauf setzen sie, machen ihr Land zu einem einzigen
großen Angebot. Die unternehmungslustigen Deutschen nehmen sich
die Freiheit, sich daraus die f ü r s i e schönsten und er-
tragreichsten Geschäftsgelegenheiten auszusuchen. Und die deut-
schen Ostpolitiker setzen einiges daran, ihren Unternehmen ver-
traglich einen bevorzugten Zugriff - am besten ein Monopol - auf
das sowjetische Wirtschaftspotential zu sichern.
"Dieser Vertrag ist der völkerrechtliche Rahmen für die Tatsache,
daß das vereinte Deutschland - als Mitglied der europäischen Ge-
meinschaft - der größte Wirtschaftspartner der Sowjetunion sein
wird." (Bundeskanzler Kohl)
Was zweitens die außenpolitische Umarmungsstrategie von Gor-
batschow und Schewardnadse betrifft, so verstehen sich Genscher
und die deutschen Genscheristen längst prächtig darauf, sowje-
tische Geschenke zu kassieren, o h n e eigene politische Optio-
nen aus der Hand zu geben. Die sowjetische Nachgiebigkeit und der
Rückzug der Roten Armee verschaffen ihnen die Sicherheit, daß sie
auf die NATO nicht mehr so wie bisher angewiesen sind. Und gleich
verfallen die Deutschen auf neue Perspektiven für i h r e ge-
wachsene Macht: Der Rahmen der NATO wird ihnen zu eng. Das Be-
harren der USA auf ihrer unbedingten Vormachtstellung weltweit
kommt ihnen wie eine ungerechte Bevormundung vor. Andererseits
müssen die großdeutschen Politiker schmerzlich zur Kenntnis neh-
men, daß die militärpolitischen Kräfteverhältnisse nun mal so
sind - und die entscheiden letztlich darüber, welche Nation wie-
viel zu sagen hat im Konzert des Weltfriedens. In diesem Dilemma
erscheint eine Achse Berlin-Moskau deutschen Politikern als in-
teressante Perspektive. Die Sowjetunion hat ihre Feindschaft zum
Westen abgelegt; sie hat auch ihre militärische Macht ein Stück
weit zurückgenommen. Aber die zweite militärische Supermacht ist
sie immer noch. Sie zum Freund zu haben, kann bei der neuen be-
deutenden Rolle, die Deutschland bei der Kontrolle des Welt-
friedens spielen will, nur vorteilhaft sein. Die deutschen Frie-
denspolitiker und glühenden Anhänger der westlichen Werte- und
Völkergemeinschaft spechten darauf, die sowjetische 2. Weltmacht
gleichsam zu beerben.
Ein klarer Fall von Völkerfreundschaft
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also, dieser Freundschaftsvertrag, den die deutschen und sowjeti-
schen Diplomaten da ausgehandelt haben: auf der einen Seite eine
absurde Rückzugspolitik; auf der anderen Seite eine Machtpolitik,
die ihre Konkurrenzposition nach allen Seiten durchkalkuliert und
mit ihrem Weltmachts-Ehrgeiz noch lange nicht am Ende ist.
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