Quelle: Archiv MG - BRD AUSSENPOLITIK OSTPOLITIK - Deutschland über alles
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Nach dem Raketenherbst
INNERDEUTSCHER FRÜHLING AUS PANKOW FÜR BONN
Rege Reisetätigkeit zwischen beiden deutschen Staaten: Politiker
hinüber, DDR-Bürger herüber. Bis Ende März ca. 40.000, darunter
die Stoph-Verwandtschaft, in die "Freiheit entlassen" - die als
"mißliebige Bürger abgeschoben", wie man mittlerweile auch schon
lesen kann. Was ist eigentlich zwischen beiden Deutschlands los?
Da hat die christliberale Mannschaft eine entschiedene Wende auch
in der Deutschlandpolitik versprochen. Da hat sie vor jeder Nach-
giebigkeit gegenüber dem "Unrechtsregime" gewarnt und Helmut
Schmidts Aufrüstungspolitik noch entschiedener fortzusetzen ver-
sprochen, weil die Machthaber drüben nur "die Sprache der Gewalt"
verstehen. Da hat sie nichts als kommunistische Aggression und
Unmenschlichkeit am Werk gesehen, anläßlich eines Herzschlags aus
DDR-Grenzkontrollen Mordanschläge gemacht und durch diese diplo-
matische Frechheit einen geplanten Besuch Honeckers vereitelt.
Kurz - da hat sie in Worten und Werken an der Seite der USA die
Feindschaft gegen den "Weltterrorismus" und seine "Satelliten"
gepflegt und vorangetrieben.
Und nun reist ein Politiker nach dem anderen in die DDR, um
"nützliche Kontakte zu knüpfen", um "Beziehungen zu pflegen und
zu verbessern". Strauß, Zeyer, Lafontaine, Lambsdorff, Mischnick,
Vogel geben sich bei Honecker die Klinke in die Hand. Der West-
berliner Bürgermeister weilt zum ersten Mal im Osten; über 100
Parlamentarier besuchen die Leipziger Messe. Strauß lobt, daß die
DDR "Zusagen einhält" und Selbstschußanlagen abbaut; er versi-
chert: "Wir nähern uns geregelten Zuständen", und kritisiert
westliche Journalisten: "Die DDR schiebt nicht ab, sondern er-
laubt die Ausreise...". Lambsdorff spricht von einem "Klima der
Verläßlichkeit". Alle versichern, daß eine Änderung der großzügi-
gen Ausreisepraxis nicht zu erwarten ist. Von einem baldigen Be-
such Honeckers wird geredet, von freundlicher Atmosphäre berich-
tet und verwundert darüber spekuliert, warum die DDR plötzlich so
viele Ausreisen genehmigt und Botschaftsflüchtlinge (Stoph-Ver-
wandte eingeschlossen) straffrei abschiebt. Kurz - gute deutsch-
deutsche Beziehungen haben Konjunktur wie lange nicht mehr.
Was macht die Wahrer von Freiheit und Demokratie gegen östliche
Unfreiheit eigentlich so zufrieden und kontaktfreudig? Was bewegt
umgekehrt die DDR eigentlich dazu, plötzlich tausende von Ausrei-
seanträge zu bewilligen, "Republikflüchtlinge" straffrei ziehen
zu lassen und bundesrepublikanische Politiker diplomatisch zu ho-
fieren?
Für die hiesige Seite heißt die offizielle Antwort aus Bonn, das
Ziel der Regierung sei eben gewesen:
"Die Folgen der Teilung für die Menschen erträglicher machen!"
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Das stimmt nun allerdings ganz und gar nicht. Wenn es um dieses
menschenfreundliche Anliegen je gegangen wäre, dann hätten
christlich-soziale-liberale Politiker längst den Staat drüben an-
erkennen, normale Beziehungen mit ihm aufnehmen und sich bemühen
können, eine zwischenstaatliche Verständigung über Ein- und Aus-
reise zu erreichen, wie es sonst zwischen nationalen Herrschaften
üblich ist. Dann würden sie ja wohl nicht gegen den erklärten
Willen der östlichen Politikermannschaft und ihres Volkes das
Recht beanspruchen, von Bonn aus alle Deutschen zu vertreten;
dann würden sie sich nicht noch heuchlerisch darüber beschweren,
daß die drüben diesen Anspruch nicht umstandslos anerkennen. We-
nigstens froh müßten sie doch sein, die selbsternannten Anwälte
der Freiheit für alle Deutschen, wenn jetzt ganz viele freiheits-
durstige Ostler rüberdürfen, so ziemlich jeder nämlich, der einen
Antrag stellt.
Kaum sind es aber mal 4.000, die in einem Monat rüberdürfen,
schon wird statt dessen hier die Beschwerde laut, Ostberlin ver-
suche doch nur, "schwierige Leute loszuwerden und das Problem der
strukturellen Arbeitslosigkeit zu lösen" und zwar auf "unsere"
Kosten; denn so viele wollen "wir" gar nicht. Und kaum sind die
Freiheitsliebenden hier in der Freiheit, werden sie durch Lager
geschleust; dann haben sie sich dem freien Arbeits- und Wohnungs-
markt auszusetzen und mit Bevorzugung haben sie schon gleich gar
nicht mehr zu rechnen. Im übrigen haben die Herren in Bonn und
München für den frischen Wind jenseits der Mauer gar nichts ge-
tan; sie haben kein Zugeständnis gemacht und kein verlockendes
Angebot, haben keinen "ersten Schritt" gemacht, keinen "Beweis
des guten Willens geliefert", der immer nur von drüben gefordert
wird. Im Gegenteil! Eine ökonomische Klemme der DDR haben sie
ausgenutzt, und einen Milliardenkredit an einen bekanntermaßen
pünktlichen und soliden Zinsen- und Rückzahler vergeben. Einen
Kredit, der erstens mit Zinsen zurückgezahlt wird und der zwei-
tens andere Geschäfte und Einfluß auf Wirtschaftsentscheidungen
drüben nach sich zieht. Und sogar dieser Kredit ist als ein ein-
ziges Zugeständnis gedeutet worden. Denn die Beziehungen zum
Osten sind vor allem auf dem Gebiet der erpresserischen Gewalt
"ausgeweitet" worden.
Den Pershing-Raketen und Cruise-missiles hat die Bundesregierung
zugestimmt und die Aufrüstung der Bundeswehr tatkräftig vorange-
trieben. So hat sie sich auch zum verläßlichsten Juniorpartner
der amerikanischen Politik gemausert, und aus dem diplomatischen
Verkehr ist eine einzige Kette von Feindschaftserklärungen, Dro-
hungen und gezielten Unhöflichkeiten geworden. Unberechenbarer
hat sich der Westen gemacht und unnachgiebiger gezeigt, und diese
Botschaft unerschütterlicher Feindschaft und Unnachgiebigkeit ist
das einzige westliche 'Angebot' - und die Grundlage der inner-
deutschen Fortschritte. Wenn Kohl die 'erfreuliche Entwicklung'
so charakterisiert:
"Wir haben etwas tun können für die Menschen in Deutschland zu
einem Zeitpunkt, in dem das weltpolitische Klima so schien, als
sei so etwas gar nicht möglich." -
dann stellt er die Verhältnisse genau auf den Kopf. Für das welt-
politische Klima hat er viel getan - besagte 'menschliche' Fort-
schritte gehen auf das Konto der Gegenseite.
"Gemeinsame Verantwortung für den Frieden!"
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So heißt die Antwort auf das "Klima" von drüben. Die deutschen
Nationalisten im Ostblock haben sich angesichts der immer unge-
mütlicher werdenden Ost-West-Beziehungen nämlich auf die Demon-
stration ihres Entspannungswillens verlegt und rechnen dabei mit
den besonderen Beziehungen und Abhängigkeiten, die sie gegenüber
dem deutschen NATO-Frontstaat in mehr als drei Jahrzehnten haben
einreißen lassen. "Es ist gerade jetzt besonders günstig, mit dem
kapitalistischen Kontrahenten Geschäfte zu machen, auch wenn man
dafür manchen sozialistischen Wirtschaftsgrundsatz über den Hau-
fen werfen muß!" So lautet das erste Rezept der politischen Wirt-
schaftsplaner. Ganz neu ist das ja nicht. Längst kommt manches
BRD-Kapital mit Waren made in DDR daher, weil es die Vorteile
billiger Arbeitskraft drüben für sich zu nutzen weiß, Produktion
für den Westen in die DDR-Pläne Eingang gefunden hat und Milliar-
denkredite diese hierzulande so geschätzte Orientierung der
Staatswirtschaft beflügeln. Längst finden umgekehrt gegen knappe
Devisen und besonders gute billige Ostwaren kapitalistische Indu-
striegüter, Fertigungsmethoden und ganze Produktionsanlagen den
Weg in die DDR, um die Produktivität ihrer Nationalökonomie ge-
genüber ihren planwirtschaftlichen Nachbarn zu steigern. Die DDR
hat also längst an vorderster Front den dauernden Vergleich des
Volksfleißes hüben und drüben miteingerichtet und die Überlegen-
heit kapitalistischer Ausbeutungsmethoden, kapitalistischer Fi-
nanz- und Kaufkraft für die Förderung des Staatsreichtums und
seine inneröstliche Konkurrenz zu benutzen versucht. Von der ver-
stärkten Fortsetzung dieser Sorte (un-)sozialistischer Selbstkri-
tik verspricht sie sich gerade jetzt Vorteile, weil die ausgiebi-
gen deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen um so mehr ins Ge-
wicht fallen, je weniger selbstverständlich der Osthandel noch
ist. Eine wenig arbeiterfreundliche Rechnung also!
Wenn sich auf der Leipziger Messe westliche 'Bosse und Bonzen'
und östliche 'Staatsfunktionäre' die Klinke in die Hand geben und
von beiden Seiten einvernehmlich der Ausbau der Wirtschaftsbezie-
hung sondiert wird, dann erwartet sich die sozialistische Führung
davon auch gleich noch bessere politische Beziehungen zum Gegner
und demonstriert und unterstützt das mit gebührender diplomati-
scher Regsamkeit und Vorzugsbehandlung ihrer bundesdeutschen Po-
litkollegen. Vom Geschäftsfanatismus westlicher Politiker ist sie
nämlich so überzeugt, daß sie ausgerechnet dem friedensstiftende
Qualitäten zuspricht, so als ließe sich die westliche Generalor-
der 'Geschäfte mit dem Feind stehen unter politischem Vorbehalt!'
auch genau umgekehrt lesen: Je mehr Geschäfte stattfinden, um so
mehr schwächt das die Feindschaft ab. 'Frieden durch Handel!'
oder 'Es ist gerade jetzt besonders wichtig, gute Beziehungen zu
unseren Feinden zu pflegen!' lautet also die zweite Devise von
drüben. Massenfreundlich ist auch die nicht.
Zum dritten haben sich die Leiter des deutschen Arbeiter- und
Bauern-Staates im Interesse der Förderung deutsch-deutscher Be-
ziehungen darauf besonnen, daß sie ja praktisch längst von einem
hehren Staatsgrundsatz Abstand genommen haben - von dem Grundsatz
nämlich, daß jede Arbeitskraft und jedes lebende Stück
'technisch-wissenschaftlicher Intelligenz' im sozialistischen
Staat automatisch eine Produktivkraft sei. Ökonomisch haben sie
sich ja im Gefolge des zunehmenden Westhandels mit der kapitali-
stischen Logik vertraut gemacht, daß immer noch die effektive Be-
nutzung von Arbeit und Wissen für die Mehrung des Reichtums, also
der in Geldvermehrung nachzählbare Erfolg das Maß ihrer Brauch-
barkeit abgibt und deshalb manche überflüssige, weil nicht genü-
gend lukrative Arbeitskraft und manche unbrauchbare Kenntnisse
vorhanden sind. Die politische Nutzanwendung dieser berechnenden
Stellung zum Arbeiter und Bauernvolk ziehen sie jetzt, indem sie
sich in Erwartung diplomatischen Gewinns für das innerdeutsche
Verhältnis von all denen trennen, die nicht mit voller Überzeu-
gung zum sozialistischen Aufbau beitragen, sondern lieber in die
BRD wollen und das offiziell beantragen. Mag sein, daß die DDR-
Politiker sich ausgerechnet haben, angesichts der ökonomischen
'Schwierigkeiten' des Westens mit seinen Millionen Arbeitslosen
werde ihnen diese plötzliche Liberalität nicht so sehr als Schwä-
cheeingeständnis ihres Systems angerechnet werden. Sie mögen die
Vorstellung haben, der Westdrang werde schon nachlassen, wenn
sich die Härten des freien Arbeitsmarktes erst einmal so richtig
herumgesprochen haben. Vielleicht haben sie sogar vorhergesehen,
daß den imperialistischen Alleinvertretungsfanatikern diese öst-
liche Nachgiebigkeit schon wieder lästig ist, weil sie die BRD
mit lauter neuen Bürgern beglückt, deren Verwendung hier mehr als
fraglich ist, deren Kosten und agitatorischer Wertverlust aber
sicher sind. Eines steht unabhängig von all dem fest. Die DRR hat
einen alten Stein des bundesrepublikanischen Anstoßes offiziell
anerkannt und hat von sich aus einem Anspruch der BRD ein Stück
weiter nachgegeben, der sich gegen die Souveränität des östlichen
Staaten'gebildes' selbst richtet. Dem Anspruch nämlich, daß das
Staatsvolk der DDR - eigentlich bundesdeutscher Staatszugehörig-
keit und durch Bonn ideell vertreten - Freizügigkeit in den We-
sten verlangen kann.
Immerhin haben die Macher des Systems drüben eine Nachgiebigkeit
gezeigt, die zu ihrem hier gepflegten Ruf einer rücksichtslosen
und menschenverachtenden Diktatur gar nicht paßt und für ähnliche
Fälle im Westen völlig undenkbar wäre: Sie haben sich von Flücht-
lingen in Westbotschaften und ihren westlichen Fürsprechern er-
pressen lassen; sie haben vor aller Öffentlichkeit zugestanden,
daß es Tausende unzufriedener Bürger gibt, und ihnen auch noch
den Weg in den Westen eröffnet. Was diese neue "weiche Linie" be-
deutet, wird am besten aus den heuchlerischen Mahnungen an die
freie Presse ersichtlich, sie sollte die Maßnahmen der Regieren-
den drüben nicht zu sehr an die große Glocke hängen, damit die
drüben nicht völlig ihr Gesicht verlieren und wieder strengere
Sitten einführen. Man weiß eben nur zu genau, daß die
'verbesserten diplomatischen Beziehungen' in diesem Fall nicht
die Folge gegenseitiger Anerkennung sind, mit der sonst zwischen
Staaten der politische Verkehr eröffnet wird. In diesem Fall ist
es genau umgekehrt: Das angeblich so aggressive System im anderen
Teil Deutschlands reagiert auf seine N i c h t anerkennung durch
die BRD; es reagiert - auf die Feinschaftserklärungen, mit denen
der Ostblock laufend mehr bedrängt wird. Mit den deutsch-deut-
schen Tönen, die von jenseits der Mauer verlauten, und mit den
'Erleichterungen' im zwischenstaatlichen Menschenverkehr und Aus-
reisewesen appellieren die Führer drüben ausgerechnet an den
westdeutschen Nationalismus, der sich mit der Existenz der DDR
nie abgefunden hat. Auf "Deutschland" berufen sich ostdeutsche
Politiker, als wäre das je etwas anderes gewesen als der
Rechtstitel der bundesrepublikanischen Anmaßung, auch drüben zu
regieren.
Innerdeutsche Fortschritte der Raketenrepublik
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Die Rechnung der östlichen Deutschland-Politiker geht deshalb
auch gar nicht so auf, wie sie es gerne hätten. Denn mit den öko-
nomischen und politischen Angeboten liefern sie der BRD nicht nur
ein jederzeit willkommenes Stück Sonderbeziehungen in den östli-
chen Block hinein und ein Stück deutsch-deutscher Verständigung
nach hiesigen Maßstäben. Sie beflügeln damit auch weitergehende
Ansprüche bundesrepublikanischer Gesamtvolksvertreter.
"Nur durch Unerbittlichkeit lassen sich östliche Machthaber be-
eindrucken", hat die Devise hier gelautet - und genau diesem Er-
pressermotto gibt die DDR mit ihren Bemühungen recht, gerade
jetzt Verständigungsbereitschaft zu beweisen. Dafür hat sie neben
dem eingangs zitierten unverschämten Lob, aus dem die Genugtuung
erfolgreicher Erpresser spricht, auch einiges an Kritik geerntet:
Denn hiesige Politiker und ihre Öffentlichkeit führen sich jetzt
erst recht so auf, wie wenn sie nur ihre Ansprüche anzumelden
bräuchten, und dann wäre ganz selbstverständlich klar, daß die
drüben sich danach zu richten hätten. Mit der demonstrativen Zu-
friedenheit über die erreichte Aufweichung des gegnerischen
Blocks paart sich da die wachsende Unbescheidenheit in der
'Frage': Was kann man von der DDR erwarten und worauf darf die
umgekehrt bei der BRD nicht spekulieren. "Alle DDR-Bürger öfter
reisen lassen, dann wollen nicht soviele ausreisen und fallen uns
nicht zur Last", sagen die einen; "Abbau aller Beschränkungen",
die anderen; "die spekulieren nur auf neue Kredite", die Dritten.
Und jeder drückt damit auf seine Weise die diplomatische Unver-
schämtheit aus, daß die Vorleistungen der DDR gar nicht ohne wei-
teres mit Gegenleistungen honoriert werden sollen, sondern jetzt
als selbstverständlicher neuer Normalzustand gelten, der
höchstens die DDR zu weiterem Entgegenkommen verpflichtet.
Denn zufrieden ist man in Bonn noch lange nicht; das hat man in
aller Öffentlichkeit per Bundestagsdebatte demonstriert. Die Wie-
dervereinigung bleibt die politische Leitlinie, heißt es; Frei-
heit und Demokratie lassen sich nicht für ein paar menschliche
Erleichterungen verkaufen, die Volkskammer ist kein wirkliches
Parlament, die Elbe keine geregelte Grenze und das Gebilde drüben
immer noch ein Unrechtsregime, zu dem es keinesfalls normale Be-
ziehungen geben kann.
Die Taktik der DDR-Regierung, die feindliche westdeutsche Diplo-
matie mit Zugeständnissen an den bundesrepublikanischen Nationa-
lismus abzuschwächen, beflügelt also diesseits der Mauer nur die
Ansprüche der Raketenrepublik. Angesichts der Einigkeit von SPD,
CDU, CSU und FDP, die neugewonnene Macht so auszunutzen, blamie-
ren sich die Beschwerden von jenseits der Mauer, die C-Parteien
seien in die reaktionären Parolen der 50-er Jahre zurückgefallen.
Die BRD ist kräftig auf dem Vormarsch - und zwar geschlossen.
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Deutsch-deutsche Flüchtlingsgespräche
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B u n d e s d e u t s c h e B ü r g e r, vom Fernsehen befragt,
was sie von dem sogenannten "massenzustrom" ihrer nationalen
"Brüder und Schwestern" halten, halten natürlich gar nicht viel
davon. Knappe Arbeitsplätze stehlen die uns und knappe Sozialgel-
der. Der Neid, der die eigene Beschränkung durch Politik und
Wirtschaft zu einem knappen Gut erklärt, das nur Volksangehörigen
zusteht, richtet sich da glatt gegen den Staatsgrundsatz der Bun-
desrepublik: Jeder Rübergemachte ist automatisch Bundesdeutscher:
In den Augen ihrer neuen Mitbürger jedenfalls sind sie besten-
falls ärmliche Volksverwandte oder bessere Türken, die zwar ganz
gut Deutsch können, aber zu Unrecht bevorzugt werden, die Ostzo-
nalen die.
Umgekehrt bringen die A u s r e i s e n d e n genau den unter-
tänigen Nationalismus mit, der sie für die Freiheit so empfäng-
lich macht: "Es wird schwer werden. Hier gibt's ja auch Arbeits-
lose. Drüben hatte ich eine Wohnung, zweitausend Mark netto im
Monat, einen Trabant, eigentlich fast alles, nur keine Freiheit".
"Ich bin zufrieden, wenn ich nach fünf Jahren hier den Lebens-
standard erreiche, den ich in der DDR hatte." Die frischgewonnene
Meinungsfreiheit nutzen sie also gleich so, wie es die demokrati-
sche Öffentlichkeit von ihnen erwartet - für einen Systemver-
gleich, der immer schon entschieden ist. "Obwohl ich kaum etwas
von der BRD wußte, gab es für mich nur eins: Ab in den Westen."
Da sind sie jetzt und fallen nur noch durch das krampfhafte Bemü-
hen auf, alles, aber auch wirklich alles im Reich der Freiheit
bestens zu finden und ja nicht aufzufallen.
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Der ideale gesamtdeutsche Bürger
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lebt hinter der Mauer, da wo es nichts zu kaufen, nur heimliche
Arbeitslosigkeit, lauter Spitzel, Parteibonzen und Staatsamateure
gibt. Aber da lebt er nicht nur einfach so, sondern gibt für die
aufmerksam beobachtende und für jeden Paradefall empfängliche
freie Öffentlichkeit seinen Ausreisewillen zu Protokoll. Er will
unbedingt in das gelobte Land wechseln, wo es alles zu kaufen
gibt - wenn auch gerade nicht für die zig-Millionen mit zu wenig
Geld in der Tasche; wo die Arbeitslosigkeit un-heimlich ist; wo
der staatliche Spitzelapparat eine ordentliche demokratische Mei-
nung überwacht; wo nicht die Partei, sondern die gewählte Regie-
rung immer Recht hat, und wo die Amateure von der Sporthilfe und
von der Wirtschaft bezahlt werden. Mit dieser Sehnsucht repräsen-
tiert der Ausreisewillige für freie Politiker und Journalisten
den Willen aller DDR-Bürger, genauso wie in Bonn, am besten also
von Bonn aus regiert zu werden. Natürlich wird sein Antrag abge-
lehnt; denn der wahre Wille des deutschen Volkes wird ganz er-
sichtlich unterdrückt und braucht unbedingt seine Bonner Fürspre-
cher. Gemein ist es, wenn die Behörden drüben anfangen, jeden
rauszulassen, der will. Dann werden aus idealen gesamtdeutschen
Bürgern Ausreisende, die unsere Lager überfüllen, unseren Ar-
beitsmarkt und unsere Staatskassen belasten - und das Aller-
schlimmste: Sie taugen einfach nicht mehr so gut zur Hetze gegen
drüben. Denn wenn sie mal hier sind, dann lassen sie sich nicht
mehr an Ort und Stelle befreien. Dieses Menschenrecht läßt sich
die Bundesrepublik natürlich auch durch die neueste Selbstentvöl-
kerungstaktik der DDR nicht nehmen. Denn der ideale gesamtdeut-
sche Bürger ist genauso unsterblich, wie Deutschland unteilbar
ist.
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