Quelle: Archiv MG - BRD AUSSENPOLITIK OSTPOLITIK - Deutschland über alles
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Neuer Streit um die Oder-Neiße-Linie
WIR GARANTIEREN, DASS WIR FÜR NICHTS GARANTIEREN KÖNNEN
Mit der friedlichen Eroberung der DDR verschwindet ein kompletter
Staat auf dem Müllhaufen der Weltgeschichte, während sich die Po-
tenz der BRD um mindestens diese Beute - aus der sich einiges ma-
chen lassen wird - vergrößert. Als dieser neue Staat steht sie
viel mächtiger und einflußreicher da als vorher. Wozu hat dieses
neue Deutschland Macht genug?
Das ist noch gar nicht genau absehbar. Das wird sich jedenfalls
erst herausstellen, wenn die erneuerte Nation ihre Macht erprobt.
Dann muß sich nämlich zeigen, wo sie an Grenzen stößt, wer ihr
diese Grenzen setzt - und ob sie die Macht hat, alle anderen
Mächte, die sie bremsen und einschränken wollen, zurückzuweisen.
Dieses Erproben der neuen, erfolgreich vergrößerten Macht beginnt
mit der Frage: Wem gehört der Osten Europas - nachdem die So-
wjetunion sich dort zurückzieht? Wer darf, wer kann als erster
hin? Wessen Ansprüche und Rechte reichen am weitesten? Im Rahmen
dieser weitreichenden Eroberungsfrage hat die Unterfrage der
deutsch-polnischen Grenze ihren Stellenwert. Denn an ihr zeigt
die deutsche Seite, wie weit ihre Ansprüche auf ungehindertes
Ausgreifen nach Osten gehen. Selbst ein Kompromiß in der Grenz-
frage nimmt davon nichts weg. Denn wie der auch immer ausfällt:
Klargestellt ist damit auf alle Fälle, daß das d e u t s c h e
R e c h t weiter reicht als bis zur Oder und Neiße.
Linie, Grenze oder was?
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Daß deutsche Rechtsansprüche für sich nicht viel wert sind, wenn
nicht die nötige deutsche Macht hinzukommt, um sie durchzusetzen,
war für bundesdeutsche Politiker 4 Jahrzehnte lang eine mehr oder
weniger schmerzvolle Erfahrung. Ein Widerspruch blieb ihrer Ost-
politik: Bei aller Einmischung in Osteuropa und der DDR, bei al-
len Erfolgen ihres "friedlichen" Osthandels und den Wirkungen der
eigenständigen militärischen Bedrohung durch die europäische NATO
zeigte es sich, daß es immer nur die zweitbesten Lösungen waren.
Denn die nationalen Anliegen der BRD blieben die ganzen Jahre
u n e r f ü l l t.
Das hat bundesdeutsche Politiker nun nicht dazu gebracht, von
Zielen wie Wiedervereinigung oder Grenzrevision im Osten abzulas-
sen. In ihren entsprechenden Bekundungen anläßlich des 17. Juni
oder vor Vertriebenentreffen nichts als Sonntagsreden oder wahl-
taktische Auftritte zu sehen, war schon immer eine Täuschung über
die wirklichen Absichten dieser Republik. Ob das nun Waigel oder
sonst jemand von den C-Gruppen war, der immer mal wieder an den
"Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937" erin-
nerte, so etwas hatte nur so lange den Hauch von ewig-gestrig,
als klar war, daß man in der "Ära der Konfrontation" lebte. Und
das bedeutete, daß unter den gegebenen Umständen - sowjetische
Garantie der DDR und der polnischen Westgrenze - nicht mehr her-
auszuholen war.
Was die Westgrenze Polens angeht, förmlich anerkannt worden - gar
völkerrechtlich irgendwie verbindlich - ist sie von der BRD nie;
nicht einmal im Warschauer Vertrag von 1970, mit dem Brandt seine
Ostpolitik gegenüber Polen einleitete und gegen den die CDU
(vergeblich) vors Bundesverfassungsgericht gegangen war. Für eine
Klage war auch gar kein Grund vorhanden, denn die SPD/FDP-Regie-
rung hatte mit dem Vertragswerk nichts anbrennen lassen:
"Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen stel-
len übereinstimmend fest, daß die bestehende Grenzlinie, deren
Verlauf in Kapitel IX der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom
1. August 1945 von der Ostsee unmittelbar westlich Swinemünde und
von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der Lausitzer Neiße
und die Lausitzer Neiße entlang bis zur Grenze mit der
Tschechoslowakei festgelegt worden ist, die westliche Staats-
grenze der Volksrepublik Polen bildet. Sie bekräftigen die Unver-
letzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft
und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung
ihrer territorialen Integrität. Sie erklären, daß sie gegeneinan-
der keine Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht
erheben werden." (Art. I)
In Potsdam hatte man auch beschlossen, daß die damalige Grenz-
festlegung nicht endgültig sein sollte. Dieser Auffassung schloß
sich der Warschauer Vertrag in Artikel IV an, in dem ausdrücklich
festgehalten ist, daß der Vertrag nicht früher geschlossene oder
noch zu treffende zweiseitige oder internationale Vereinbarungen
tangiert. Auch wenn in Artikel II dieses Vertrages ein Gewaltver-
zicht beider Seiten vereinbart ist, die Grenzfrage hat er im
deutschen Sinne o f f e n gehalten.
Das hat die CDU dann auch eingesehen, als sie nach der Wende den
Vertrag nicht kündigte. Kohl weiß inzwischen, wovon er spricht,
wenn er wie im "Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutsch-
land" erklärt:
"Wir können und wir wollen keine Rechtspositionen verändern. Es
bleibt bei den bekannten staats- und völkerrechtlichen Grundlagen
unserer Deutschland- und Ostpolitik, und dazu gehört selbstver-
ständlich auch, daß wir an Buchstaben und Geist des Warschauer
Vertrages i n a l l e n s e i n e n T e i l e n (Herv. d.
Verf.) festhalten." (8. November 1989)
Dieser Geist ist eben der alte. Schon 1950 hatte der Bundestag in
einer "Rechtsverwahrung" dagegen protestiert, daß die DDR damals
verbindlich die Oder-Neiße-"Linie" als definitive Staatsgrenze
zwischen der DDR und der VR Polen anerkannt hatte:
"Das Gebiet östlich von Oder und Neiße bleibt ein Teil Deutsch-
lands. ... Die Regelung dieser wie aller Grenzfragen Deutschlands
kann nur durch einen Friedensvertrag erfolgen." (Deutscher Bun-
destag)
Diplomatische Grenzverschiebungen
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Von dieser ihrer Rechtsposition hat die Bundesrepublik 40 Jahre
lang nicht abgelassen. Die Durchsetzung ihres Anspruchs auf den
Teil Deutschlands vor Oder und Neiße hat sie auch keinesfalls zu-
frieden gestellt. Warum sollte sie gerade jetzt auf einen Teil
ihrer Politik verzichten, wo ihr doch jetzt ganz neue, vor kurzem
noch ungeahnte Machtmittel zufallen. Gerade der erfolgreiche An-
schluß der DDR läßt ihre immer schon über die DDR hinausreichen-
den Rechtsansprüche zu einer brandaktuellen Sache werden. Ange-
zettelt wird eine internationale öffentliche Debatte über die
Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze. Das Wichtigste an die-
ser Debatte ist, daß sie stattfindet. Denn so wird in der Diplo-
matie diese Grenze zu einer unsicheren Angelegenheit
g e m a c h t.
"Argumente" gibt es in dieser Debatte auch. Sie drücken alle nur
eines aus: "Schlesien bleibt unser!" - oder auf diplomatisch: Wir
garantieren, daß wir für nichts garantieren können!
Denn bundesdeutsche Politiker "dürfen" immer irgendwie gar nicht,
was sie nicht w o l l e n.
1. Die polnische Westgrenze ist nie endgültig
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völkerrechtlich geregelt worden.
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"In Bonn sagte Kohl, er halte in der Frage der Anerkennung der
polnischen Westgrenze eine Art Übergangsgarantie für denkbar. Sie
solle gelten, bis ein gesamtdeutscher Souverän die Grenzfrage
endgültig völkerrechtlich regele." (Süddeutsche Zeitung, 2.3.)
"SPD-Chef Hans-Jochen Vogel kündigte an seine Partei werde... den
Antrag stellen, daß sich beide deutsche Parlamente und Regierun-
gen nach den Wahlen in der DDR in wortgleichen Erklärungen für
die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze ausspre-
chen... Außerdem sollten sofort Verhandlungen zwischen beiden
deutschen Staaten und Polen über die endgültige vertragliche Be-
kräftigung der Grenze aufgenommen werden." (SZ, 5.2.)
Eine seltsame Erklärung wird da Polen angeboten: Deutsche Parla-
mente sind für die Endgültigkeit der polnischen Westgrenze, als
"endgültige vertragliche Bekräftigung" soll das allerdings nicht
verstanden werden. "Endgültig" ist das nur solange, bis in Ver-
handlungen geregelt wird, wo die Grenze zwischen Polen und
Deutschland denn eigentlich "endgültig" verläuft. Irgendwie ist
die Redeweise von einer bloßen "Übergangsgarantie" da schon be-
deutend weniger geheuchelt. Bloß, garantiert wird natürlich auch
da gar nichts!
Polen wird auf diese Weise klargemacht, daß bundesdeutsche Poli-
tiker die Oder-Neiße-Linie zwar als derzeitige Grenze akzeptie-
ren, sich aber vorbehalten, über ihre weitere Gültigkeit auch in
Zukunft erst noch verhandeln zu wollen. Etwas anderes soll auch
gar nicht möglich sein.
2. Die polnische Westgrenze kann hier und heute
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gar nicht endgültig anerkannnt werden.
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Erst in einem Friedensvertrag! Erst durch einen gesamtdeutschen
Souverän!
"40 Jahre lang war der ganzen Welt klar und völlig unumstritten,
daß die letztendliche Anerkennung der polnischen Westgrenze
(Oder-Neiße) aus Anlaß eines Friedensvertrages geschieht. Jetzt,
plötzlich, aber soll die völkerrechtliche Anerkennung der sowieso
völlig unumstrittenen Grenze vor dem Friedensvertrag da sein."
(Bild, 6.3.)
"Einen Vertrag, wie ihn Mazowiecki vorgeschlagen hat, lehnte der
Bundeskanzler erneut mit dem Hinweis ab, dieser könne nur von ei-
ner gesamtdeutschen Regierung ausgehandelt und einem gesamtdeut-
schen Parlament ratifiziert werden. Einem Friedensvertrag für Ge-
samtdeutschland erteilte er ebenfalls eine Absage." (SZ, 6.3.)
Wenn die Grenze "sowieso völlig unumstritten" ist, warum braucht
es dann eigentlich noch eine völkerrechtliche Anerkennung? Und
wenn es denn schon völkerrechtlich notwendig sein soll, einen
Friedensvertrag abzuschließen, warum macht die Bundesregierung
das dann nicht? Bundesdeutsche Politiker verweisen zwar gern auf
das Fehlen eines Friedensvertrages, das heißt aber keineswegs,
daß sie hier und heute einen solchen abschließen wollen. Nach
bundesdeutscher Logik betrifft ein Friedensvertrag das
"Deutschland in den Grenzen von 1937" und geht nicht ohne die
Herstellung des großen, ganzen Deutschlands, mit dem dann über-
haupt erst ein Friedensvertrag abgeschlossen werden kann.
Möglich wäre etwas anderes natürlich schon. Bundesdeutsche Poli-
tiker bräuchten ja nur ihren Anspruch aufgeben, ein gesamtdeut-
scher Souverän müßte erst wieder hergestellt werden, und schon
gäbe es das Problem nicht mehr, daß irgend etwas in unzulässiger
Weise vorweggenommen würde. Bonner Politiker wollen sich durch
die Rechte eines Souveräns beschränkt sehen, den es gar nicht
gibt, weil sie fordern, daß es ihn eigentlich geben sollte.
3. Wo die polnische Westgrenze verläuft,
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muß erst noch ausgehandelt werden.
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Ganz im Sinne eines erst noch zu schaffenden gesamtdeutschen Sou-
veräns beschließt der deutsche Bundestag eine Erklärung, die es
in sich hat:
"Das polnische Volk soll wissen, daß sein Recht, in sicheren
Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft
durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.... In diesem Sinne
soll die Grenzfrage in einem Vertrag zwischen einer gesamtdeut-
schen Regierung und der polnischen Regierung geregelt werden, der
die Aussöhnung zwischen beiden Völkern besiegelt." (SZ, 7.3.)
Das Interessante an dieser Erklärung ist, daß Polen zwar zum
einen das Recht zugesichert wird, "in sicheren Grenzen zu leben",
zugleich aber im nächsten Absatz dazugesagt wird, daß ein Gesamt-
deutschland mit Polen noch eine "Grenzfrage" zu lösen habe. Wo
die "sichere Grenze" für Polen ist - wer weiß, was darüber in ei-
nem zukünftigen Vertrag ausgehandelt wird! Zufall ist es sicher-
lich nicht, wenn polnischen Politikern ebenso wie dem Vertriebe-
nenchef Czaja auffällt, daß in dieser hochgelobten Erklärung kein
Wort über die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze drin-
steht. Die ganze Garantie besteht ja nur darin, die Oder-Neiße-
Linie so lange nicht durch Gebietsansprüche in Frage zu stellen,
bis Verhandlungen eines vereinigten Deutschlands über den Verlauf
der Grenze anfangen.
4. Die vorläufige Anerkennung seiner Westgrenze
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muß Polen sich etwas kosten lassen.
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Kanzler Kohl hatte an die Verabschiedung einer Resolution zur
polnischen Westgrenze die Bedingung geknüpft,
"sie müsse zugleich deutlich machen, daß die Verzichtserklärung
Polens auf Reparationen vom 23. August 1953 unverändert gelte und
daß die Rechte der in Polen lebenden Deutschen vertraglich gere-
gelt würden." (SZ, 5.3.)
Um diese Bedingung hat es einen Koalitionskrach gegeben. Angeb-
lich hat der Kanzler gegen Genscher eine Niederlage erlitten und
furchtbar nachgegeben. Sein "Rückzieher" sieht folgendermaßen
aus: Der westdeutsche Bundestag ist so frei und beschließt stell-
vertretend für alle zukünftigen polnischen Regierungen, daß Polen
nie mehr Reparationsforderungen gegenüber Deutschland erheben
wird. Gleichzeitig wird bekräftigt, daß sich die polnische Regie-
rung an die "Gemeinsame Erklärung von Ministerpräsident Mazo-
wiecki und Bundeskanzler Kohl vom 14.11.1989" hält, den "in Polen
lebenden Deutschen" besondere Rechte zuzugestehen. Ein besonderes
deutsches Recht für ein Stück polnisches Volk ist bis auf wei-
teres der Mindestpreis, den BRD-Politiker für ihr großartiges Zu-
geständnis, ihren großdeutschen Staat irgendwo im Osten auch mal
wieder aufhören zu lassen, verlangen. Bis auf weiteres.
Ein deutscher Erfolg
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Entgegen anderslautenden Zeitungskommentaren erweist sich die De-
batte um die polnische Westgrenze für bundesdeutsche Politiker
aller Parteien als eine rundum gelungene Sache. Unter Berufung
auf "Deutschland in den Grenzen von 1937" haben sie die Gültig-
keit der Oder-Neiße-Linie in Frage gestellt und den Anspruch er-
hoben, über den Verlauf der polnischen Westgrenze müsse in Zu-
kunft erst noch endgültig entschieden werden. Keine Nation und
kein Staatsmann hat solche Äußerungen von BRD-Politikern für be-
langlos oder unwichtig gehalten und ist kommentarlos zu anderen
Fragen der politischen Tagesordnung übergegangen. Wenn nicht nur
Polen, sondern auch die USA, Frankreich, Großbritannien und die
Sowjetunion über die Notwendigkeit einer Garantie-Erklärung für
die polnische Westgrenze diskutieren, ist das die Anerkennung des
deutschen Rechtsstandpunkts, bezüglich dieser Grenze gäbe es noch
offene Fragen.
Inwieweit die BRD diesen Rechtsstandpunkt durchsetzen kann, hängt
nicht nur von ihr ab. Die anderen Staaten wissen sehr genau, daß
mitten in Europa und der EG die Eroberung des zweiten deutschen
Staates stattfindet und daß damit die Karten bereits neu gemischt
sind. Und als EG-Mitglieder wissen sie, daß da einiges an eta-
blierten Konkurrenzverhältnissen durcheinandergeraten ist. Stell-
vertretend Margaret Thatcher:
"Wir müssen uns an die Vorstellung gewöhnen, daß es in Europa
künftig ein Land geben wird, das stärker ist als alle anderen.
Die Deutschen haben einen gewaltigen Handelsbilanzüberschuß, ihre
Wirtschaft arbeitet sehr effizient das ändert das Gleichgewicht."
(Spiegel-Interview, 26.3.)
Auch wenn sich die anderen bisher nicht so deutlich äußern: Alle
europäischen Staaten, besonders die in der EG und die östlichen
Nachbarn, machen sich nun ihre Rechnungen auf. Weil ihnen die
Mittel fehlen, die Bundesrepublik zu bremsen, werden Vorbehalte
an Unter- und Nebenfronten angemeldet. Die polnische Grenzfrage
rangiert hier ganz oben nicht zuletzt, weil die Polen ihrerseits
darauf setzen, über die Kalkulation auf das Eigeninteresse der
Verbündeten Druck auf Bonn auszuüben. Eine rege Reisediplomatie
hebt an, und die NATO-Staaten differenzieren sich nach dem Grad
der Unterstützung für das polnische Anliegen einer endgültigen
Grenzgarantie.
"Auf westlicher Seite hat sich Frankreich zum stärksten Anwalt
Polens erhoben; es verlangt eine klare deutsche Anerkennung nicht
bloß der 'Unverletzlichkeit', sondern der 'Unantastbarkeit' der
damit auch durch Verhandlungen nicht mehr veränderbaren pol-
nischen Westgrenze und die eindeutige Benennung von deren Verlauf
entlang der Oder und der Lausitzer Neiße. Mit der Forderung nach
einem internationalen Rechtsakt unter Garantierung der vier
Mächte noch vor der Wiedervereinigung steht Paris vorderhand al-
lein, praktisch an der Seite der Sowjetunion, hofft aber offenbar
noch auf Unterstützung zumindest aus London." (Neue Zürcher Zei-
tung, 16.3.)
Die antikommunistische Regierung Polens nähert sich wieder ein
Stück an die Sowjetunion an, bittet diese sogar um den Verbleib
ihrer Truppen im Lande - vor kurzem noch ein unerhörter Vorgang!
Außerdem setzt Polen darauf, daß die NATO-Zugehörigkeit Deutsch-
lands so etwas wäre wie eine "Einbindung" und Zähmung der deut-
schen Macht; als ob die BRD nicht gerade durch die NATO ihre heu-
tige Machtposition erreicht hätte. Zwischen den westeuropäischen
Partnern wechseln die Deklarationen hin und her, und die diploma-
tischen Feinheiten nehmen zu; Mitterrand ruft Kohl 3 Tage zu spät
an, um von dem Besuch der polnischen Regierung zu berichten -
worüber die Presse natürlich informiert wird -, und Maggie plau-
dert von ihren Kamingesprächen mit Helmut. ("... und ich habe
Helmut sagen hören: 'Nein, ich garantiere nichts, ich erkenne die
gegenwärtigen Grenzen nicht an.' Ich habe es selber gehört, in
Straßburg nach dem Abendessen.") Auf Dementi folgt Beschwichti-
gung bzw. Anmahnung der europäischen Freundschaft und eines
schnelleren Tempos bei der EG-Einigung. Worauf Kohl an die ausge-
machten Termine erinnert usw. usf.
Andererseits zeigt Kohl auch Wirkung. Er erklärt
- am 19. 3.:
"Noch vor einer abschließenden vertraglichen Regelung der Einheit
solle insbesondere den polnischen Nachbarn die Unverletzlichkeit
ihrer Westgrenze zugesichert werden." (Süddeutsche Zeitung)
- am 25.3.:
"Die deutsch-polnische Grenze müsse zu einer 'Friedensgrenze'
werden. Sobald die Einheit hergestellt sei, würde die - aus Sicht
der Deutschen - durchaus 'bittere Stunde' schlagen, in der ein
klares Wort zur Oder-Neiße-Grenze fällig werde - immerhin handle
es sich um den Verzicht auf ein Viertel des ehemaligen Reichsge-
bietes. 'Geschichtliche Stunden' erforderten aber den 'Mut zur
Entscheidung', sagte der Kanzler." (SZ)
- am 27.3. läßt er eine "glasklare und lupenreine Erklärung" an-
kündigen,
- um schließlich am 29.3. nach einem Besuch bei Margaret Thatcher
eine interessante Mischung von Nachgeben und Draufsatteln zu prä-
sentieren:
1. "Ein vereintes Deutschland werde die Grenzen Polens in einem
international bindenden Vertrag mit dem östlichen Nachbarstaat
anerkennen." (= alte Position)
2 "Die Bonner Regierung und die demokratisch gewählte Regierung
der DDR sollten rasch gleichlautende Erklärungen über die Unver-
letzlichkeit der polnischen Grenze abgeben." (= neue Form, alter
Inhalt; vgl. SPD-Forderung nach Erklärung beider deutscher Parla-
mente)
3. "Der Kanzler regte aber auch an, daß von polnischer Seite
'auch einmal das Unrecht beim Namen genannt würde, das unschuldi-
gen Deutschen von polnischer Hand zugefügt wurde'." (SZ, 30.3.90)
(= neu)
Mit diplomatischen Erklärungen ist es eben so eine Sache.
Manchmal wird etwas erklärt, ganz offiziell; aber haarscharf
nicht das, was verlangt war. Manchmal wird genau das gesagt; dann
war's aber keine offizielle Erklärung in dem Sinn. Dann wird die
verlangte offizielle Erklärung formuliert, aber nicht abgegeben,
sondern angekündigt. Dann wird versichert, man würde ja gerne,
sähe sich aber dazu (noch) nicht in der Lage. Und schließlich
wird verlangt, daß der von der Nicht-Erklärung betroffene Staat
erst einmal einiges zu leisten hätte, zumindest an Erklärungen,
damit er der gewünschten Erklärung für würdig befunden wird. Am
Schluß ist überhaupt nichts erklärt - oder nur eines:
Hier erklärt der nachträgliche Gewinner des 2. Weltkriegs, daß es
von s e i n e r Entscheidung abhängt, ob und wieviel Land Polen
an seiner Westgrenze behalten d a r f. Wie die Entscheidung Ge-
samtdeutschlands auch immer ausgeht, der zu entrichtende Preis
der anderen Seite wird jetzt schon kräftig in die Höhe gehoben.
Was bis heute Polen alles an "Grenzgarantie" zugesichert worden
ist, hat nichts, aber auch gar nichts von der alten deutschen
Rechtsposition zurückgenommen. Schließlich mischt der deutsche
Eroberungserfolg - DDR ade - das Kräfteverhältnis in g a n z
Europa neu auf.
Deutsche Politik ist damit nicht am Ziel, sondern an einem neuen
Anfang. Erfolgreiche Eroberungen beschwichtigen Deutschland
nicht, sondern bringen die Nation in Fahrt. Wo die Weltmächte
Grenzen ziehen, muß sich erst noch zeigen. Und so, wie die deut-
sche Nation in Fahrt ist, kann das noch heiter werden!
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Landkarte DDR - Polen
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