Quelle: Archiv MG - BRD AUSSENPOLITIK BERLIN - Sumpfblüte des Imperialismus
zurück
750 Jahre Westberlin
EINE SUMPFBLÜTE DES IMPERIALISMUS FEIERT
Denkmäler, Jubiläen, Tage oder Jahre des/der... in praktischer
Hinsicht könnte man auf so etwas leicht verzichten, gäbe es nicht
ab und zu wegen solcher Anlässe freie Tage. Die würde man aller-
dings auch ohne diese Gründe genießen. Als intellektuelles Be-
dürfnis genommen, ist es andererseits einigermaßen absurd, sich
durch ein Datum oder Wahrzeichen vorschreiben zu lassen, worüber
man nachdenken soll.
Erfinder und Nutznießer solcher Einrichtungen sind Staatsgewal-
ten. Für sie ist die Erinnerung daran, daß irgendwann mal eine
historische Tat passiert ist, ein wertvoller Gedanke. Der besteht
darin, daß es Stadt, Land, Fluß, Staat schon äußerst lange gibt
und eben dies vom Wert des Jubilars zeugt. Mit einem unschuldigen
Datum beglückwünschen Politiker alle Welt zu ihrem Besitzstand,
zu sich selber und zu ihrem Programm - obwohl die Geschichte
zuallerletzt dieses Programm diktiert. Die ökonomische Bedeutung
solcher Feste ist enorm: massig Geld für Hymnenschreiber, Dekora-
teure, Blumenläden und Philharmonieorchester. Die moralische Wir-
kung nicht minder. Die Feiertichkeiten sind ein Aufruf an . die
Untertanen. Die obligatorische Phrase heißt "Erinnerung und Auf-
trag zugleich".
Zur Zeit ist Berlin dran wegen angeblich 750 Jahren. Beziehungs-
weise wegen der Botschaft, die der Bundeskanzler, ein Meister des
historischen Arguments, den 750 Jahren mühelos entnimmt: "Berlin
war immer ein Zentrum deutscher Geschichte und Kultur." Woraus
zwingend folgt:
"Die Teilung der Stadt wird nicht das letzte Wort der Geschichte
sein." (Festakt zur Eröffnung)
Westberlin feiert: einen Status
-------------------------------
Der Kanzler kennt sich mit den zukünftigen Antworten der Ge-
schichte deswegen so gut aus, weil er zum wer weiß wievielten Mal
das deutsche Programm verkündet hat, dessentwegen der Wurmfort-
satz der BRD mitten in der DDR überhaupt ausgehalten wird. Berlin
ist nicht einfach eine Stadt, sondern ein einziger Rechtsan-
spruch. Berlin ist das Anschauungs-, Klage- und Beweismaterial
für eine nach dem Willen der BRD "offene Frage". Aus dem Zuge-
ständnis der Sowjetunion, um der Entspannung willen auf das Stück
Flurbereinigung zu verzichten und die Westalliierten mitten im
Territorium ihres Bündnispartners DDR symbolträchtig in Teilen
der alten Reichshauptstadt als Besatzungsmächte verbleiben zu
lassen, haben Generationen von Bonner Zukunftsdenkern eine kom-
plette eigene Abteilung Politik verfertigt. Die Sowjetunion hat
sich auf den Kompromiß eingelassen,
"daß die Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bun-
desrepublik Deutschland aufrechterhalten und entwickelt werden,
wobei ... diese Sektoren so wie bisher kein Bestandteil
(konstitutiver Teil) der Bundesrepublik Deutschland sind und auch
nicht von ihr regiert werden." (Viermächteabkommen)
Die Deutschlandpolitiker haben das nur sehr einseitig als eine
Grundlage zur Beilegung von Streitigkeiten verstanden. Sie haben
auf dieser Grundlage lauter neue angezettelt - als vorläufige Be-
kräftigung für den Anspruch auf die letzte, große.
Angefangen von der B e r l i n - K l a u s e l, mit der noch
der hinterletzte Kaffernstaat darauf festgelegt wird, daß er
seine Erdnüsse nur dann in die BRD verkaufen kann, wenn er mit
irgendwelchen Handelsverträgen die "Einbeziehung" Westberlins und
damit eben die besagte "offene Frage" mitunterschreibt. Und
Staatsbesuche sind erst dann Ausdruck einer soliden Völkerfreund-
schaft, bzw. Besucher aus solchen Weltgegenden können sich erst
dann ein paar Entwicklungsgelder erwarten, wenn sie, vor der
Mauer abgestellt, das Bekenntnis abgelegt haben, daß sie sich ein
größeres Unglück gar nicht vorstellen können. Mit der Berlin-
Klausel sind andererseits die Warschauer-Pakt-Staaten und andere
Russenfreunde immerzu daraufhin getestet worden, wieweit sie sich
wegen irgendwelcher Beziehungen mit der BRD dazu erpressen las-
sen, von der Solidarität mit der DDR und der ostblocküblichen De-
finition Westberlins als "selbständiger politischer Einheit" ab-
zugehen. Im Sinne der "Bindungen" werden gerade unterhalb von
Bundestagstagungen regelmäßig Staatsakte in Westberlin insze-
niert; es werden eigens ganze Bundesbehörden nach Westberlin ver-
legt, um deren Teilnahme an internationalen Veranstaltungen dann
wieder ein Streit angezettelt werden kann. Veranstaltet die BRD
Sport und Kultur international, muß Westberlin natürlich dabei
sein, um die Frage aufzuwerfen, welcher Staat sich eine Absage
leisten will. Deshalb ist Berlin dann "auch heute noch Seismo-
graph für den Stand der Ost-West-Beziehungen" (Kohl), weil die
BRD alles dafür tut, immer wieder kleinere politische Beben zu
veranlassen.
Neben solchermaßen "entwickelten Bindungen", die nur durch ein
paar gesetzgeberische Umständlichkeiten und nur einen völker-
rechtlich ausgefuchsten Verstand erkennen lassen, daß Westberlin
"nicht von der BRD regiert wird", kommt es den Deutschlandpoliti-
kern auf den Unterschied aber auch wieder mörderisch an: Daß nach
wie vor die Alliierten in Westberlin die Hoheit haben und dem Se-
nat "nur" erlauben, alle in der BRD gültigen Gesetze "freiwillig"
zu übernehmen, ist die liebevoll gepflegte Garantie dafür, daß
die BRD bei ihrem Programm einer Revision des Kriegsergebnisses
ihr Bündnis hinter sich hat. Dafür ist Westberlin als Provisorium
auf Dauer eingerichtet, als Stück besetztes Deutschland, das da-
für steht, daß noch immer kein Frieden, keine endgültige Regelung
der Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs stattgefunden
hat.
Deshalb darf die Mauer in Berlin keine "Grenze" sein, sondern nur
eine "Demarkationslinie"; deshalb müssen alliierte Soldaten re-
gelmäßig auf Patrouillenfahrt durch Ostberlin. Und deshalb sind
solche Fragen, wer wann in Berlin was sagt oder wohin geht, im-
merzu hochpolitische, geradezu Existenzfragen der Nation, auch
wenn kein Normalverstand durch das Regelwerk mehr durchsteigt. Wo
der doch schon bei der Erklärung von solchen Grundsätzlichkeiten
versagt, warum dieselben Politiker, die dreimal am Tag behaupten,
daß von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen darf, einen
Friedensvertrag mit Unterschrift der BRD kategorisch ablehnen.
Bei der Materialisierung ihres Standpunkts sind Staaten von einer
fetischistischen Kleinlichkeit. Vom Flaggenwesen bis zur Recht-
schreibung, nach der z.B. die Schreibweise "Westberlin " eigent-
lich schon ein deutschlandpolitisches Vergehen ist, aus lauter
solchen Idiotien machen sie Prinzipienfragen, um dafür Anerken-
nung zu fordern. Das schafft massenhaft Arbeitsplätze in Sachen
Protokoll und Betreiben von Streitfragen.
Westberlin feiert: eine Gemeinsamkeit mit der DDR gegen die DDR
---------------------------------------------------------------
In dieser Sphäre gesetzlich geschützten Irrsinns und aus dem Be-
dürfnis, wegen der Feier einen extra "neuen Akzent" zu setzen,
werden dann Unternehmungen folgender Machart geplant: Als west-
berliner Bürgermeister nach Ostberlin, in die Hauptstadt der DDR
gehen, eingeladen vom Chef des anderen Staates, um eben dort zu
demonstrieren, daß es eigentlich weder den anderen Staat noch
dessen Chef geben dürfte, vielmehr eigentlich alles zusammen ein
großes Deutschland bildet. Das war die enorme deutschlandpoliti-
sche "Idee" Diepgens - das hat wiederum einen monatelangen zähen
Streit aller zuständigen Stellen und interessierten Organe ausge-
löst. Es hätte sich ja um eine Falle der DDR handeln können, die,
hätte Diepgen seinen Fuß erst auf ostberliner Pflaster gesetzt,
daraus postwendend die Anerkennung des völkerrechtlichen Verge-
hens hätte ableiten können, das die Existenz von Ostberlin als
Hauptstadt der DDR nun einmal für die BRD darstellt... Das sind
Fragen, die ebenso monatelang sondiert worden sind in den westli-
chen Hauptstädten wie ironischerweise natürlich in Verhandlungen
mit der DDR, die es gar nicht geben dürfte. Erfreut wurde da ver-
meldet, daß sich Erich Honecker auf den Briefbögen der Einladung
als Staatsratsvorsitzender verleugnet und nur als Vorsitzender
des Festkomitees Ost bezeichnet hat. Probleme dagegen hat der
ebenfalls als Festkomitee einladende ostberliner Oberbürgermei-
ster aufgeworfen,
"den es nach der Verfassung von Berlin gar nicht geben dürfte,
weil sein Amt 1948 durch einen kommunistischen Putsch geschaffen
wurde." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.4.)
Den hat dann gottseidank Diepgen auch nicht zurück eingeladen:
"Nach der Verfassung von Berlin existiert er nicht." (FAZ, 30.4.)
Das bei der ostberliner Feier anwesende Personal hätte nach west-
deutschem Geschmack ausgesucht werden müssen:
"Nach westlicher Auffassung kann ein Regierender Bürgermeister
nicht neben hochdekorierten Militärs der Nationalen Volksarmee
auftreten da deren Anwesenheit in Ost-Berlin gegen dessen Status
verstößt." (Süddeutsche Zeitung, 30.1.)
Während Diepgen auf einer Begleitung durch Ministerpräsidenten
von Bundesländern und den ständigen Vertreter der BRD bestehe
mußte, von wegen des klaren Verständnisse von "nicht von der BRD
regiert." Wegen de "Idee" von "Gemeinsamkeit" hat dann auch Erich
Honecker eine Einladung nach Westberlin bekommen, ausgeschmückt
mit lauter Klarstellungen, als was er vorgeführt werden sollte:
"Neben Protokollfrage bereitet - offenbar auch die vorgesehene
Rede von Kohl beim Festakt Schwierigkeiten. Wie es heißt, könne
der Bundeskanzler in seiner Rede in der geteilten Stadt die Mauer
nicht unerwähnt lassen." (Neue Zürcher Zeitung, 29.3.).
"... die Sitzordnung. So hätte bei dem Festakt Honecker zwischen
dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler sitzen müssen. Neben
Kanzler Kohl wäre dann Diepgen zu plazieren gewesen. Andererseits
gab es auch Stimmen im Westen, die meinten, wenn ein solches
Fernsehbild Weizsäcker/Honecker/Kohl/Diepgen um die Welt gegangen
wäre..."
Nicht auszudenken.
"... Reden... Helmut Kohl die Hauptrede... auch Richard von Weiz-
säcker... An dieser Stelle erklärte aber die DDR, dann müsse auch
Honecker reden. Dieses Privileg wollten die Bundesregierung und
der Berliner Senat dem DDR-Staatsratsvorsitzenden auf keinen Fall
zugestehen..." (Süddeutsche Zeitung, 15.4.)
Erich Honecker hätte also kommen dürfen, um sich von Kohl belei-
digen zu lassen und sich still zu schämen für den Mauerbau - und
da sollte es eines eigenen Machtworts aus Moskau bedurft haben,
um Honecker die Teilnahme an einer so feinen Veranstaltung zu
"verbieten"?
Daß aus der Jubiläumsreisediplomatie nichts geworden ist, eben
weil die BRD sie mit lauter so feinsinnigen Bedingungen versehen
hat, tut aber auch andererseits gar keinen Schaden. Deutsche Po-
litiker sind souverän genug, die Botschaften, für die sie das
ganze Getue inszenieren wollten, auch ohne das zu verbreiten.
1. Wenn sich der Chef der DDR für derlei nicht zur Verfügung
stellt, dann k a n n es kategorisch nicht an einem
e i g e n e n nationalen Interesse der DDR liegen, weil das ist
ja nur die andere Hälfte von Deutschland. Es muß vielmehr daran
liegen, daß die Sowjetunion unser anderes Deutschland knebelt:
"Diepgen bedauerte es, daß die DDR offensichtlich nicht in der
Lage sei, eine Politik fortzusetzen, auf die die Menschen Hoff-
nungen gesetzt hätten. Offenbar habe die Sowjetunion den Hand-
lungsspielraum der DDR immer weiter eingegrenzt." (Süddeutsche
Zeitung, 7.5.)
Das war auch schon die 2. Botschaft:
Wenn westdeutsche Politiker sich monatelang mit solch erlesenen
Fragen beschäftigen, wie sich die völkerrechtliche Brüskierung
der DDR u n d deren Vereinnahmung für Veranstaltungen mit dem
Titel "E i n D e u t s c h l a n d!" per Protokoll am gelun-
gensten kombinieren lassen, dann tun sie immerzu nichts anderes,
als den intimsten "Hoffnungen" "der Menschen" hinterherzusteigen.
Da ist sich nämlich die westdeutsche Öffentlichkeit unbesehen ei-
nig, daß "die Menschen" in Ostberlin allesamt, von einer ganz
großen Sehnsucht besessen sind: Einmal dieser bodenständigen Cha-
raktermaske eines teilurbanen Imperialismus persönlich die Hand
schütteln dürfen. Das würde deren Leben endlich lebenswert ma-
chen.
"Die Bewohner der DDR sehnten sich jetzt wohl noch mehr nach ei-
nem Besuch Diepgens." (Der Senatssprecher, Frankfurter Rundschau,
14.4.)
"Im Berliner Feierjahr sollte Diepgen, wann immer es sein priva-
ter Kalender erlaubt, privat hinüberfahren und den Ostberlinern
die Hand schütteln. Das freute sie mehr als die Wahrnehmung öst-
licher Staats-Termine." (Die Welt, 14.4.)
Achtung, Ostberliner: Er kommt! Er hat schon zugesagt, daß er
kommt! Hände in Bereitschaft halten!
Westberlin feiert: Mietskasernen, Nutten, Müllabfuhr -
------------------------------------------------------
wahrhaftig eine Stadt
---------------------
Westberlin feiert ohnehin, daß es kracht - immerzu dasselbe. Daß
es zum Beispiel, weil es eigentlich nur ein Deutschland geben
darf, die eigentliche Hauptstadt ist.
"Berlin ist Hauptstadt der deutschen Nation, weil sich an keinem
anderen Ort die Menschen so zusammengehörig fühlen wie hier."
(Diepgen, Süddeutsche Zeitung, 12.3.)
Wer hätte gedacht, daß sich ein so merkwürdiges "Gefühl" auch
noch steigern läßt. Oder:
"Berlin ist die einzig denkbare Hauptstadt. Es ist das geistig-
kulturelle Zentrum der Nation." (Senatsvorlage zur 750-Jahr-
Feier, SZ, 4.9.)
Das ist bloß auch wieder das Ärgerliche an dem bloß eigentlich
Hauptstadt-Sein, mit "Geist-und-Kultur"-Klotzerei den "Standort-
vorteil" von Ostberlin wettmachen zu müssen. Als das registrieren
nämlich die nationalistischen Feingeister die Tatsache, daß
Ostberlin unbestreitbar mitten in der DDR liegt. Als wirkliche
Hauptstadt.
Dafür darf aber wiederum jeder Westberliner sich zu seinem Hel-
dentum beglückwünschen lassen. Das ist nämlich so. Der mehr oder
weniger zufällige, gleichgültige oder subventionierte, manchmal
lästige, manchmal relativ vorteilhafte Umstand, diese Stadt zu
bewohnen, ist ein höchst persönlicher Akt von Mut und Heldentum.
Als müßten sich die in Westberlin herumschlurfenden Omas und
Spontis täglich mit der Waffe in der Hand gegen den Iwan vertei-
digen, werden sie mit Komplimenten für außerordentliche Tapfer-
keit eingedeckt. Von sämtlichen imperialistischen Nationen, denen
die Legende einer von ihren Bewohnern heldenhaft verteidigten
Freiheitsinsel sehr passend vorkommt - passend als Untermalung
für ein Kriegsprogramm, das von Berlin voraussichtlich kaum noch
ein Gemäuer übrig lassen wird. Kaufen können sich die Omas und
Spontis und Normalproleten, die es in Berlin auch geben soll, da-
von auch nicht mehr. Aber dafür flicken ihnen unsere amerikani-
schen Freunde den etwas zu groß geratenen Nierentisch namens Kon-
greßhalle wieder zusammen und schicken ihnen eine leicht fossile
Eleanor Dulles, die dann den Berlinern "zuruft",
"die Fahne hoch zu tragen, sich tapfer zu halten und die Musik
laut erklingen zu lassen." (SZ, 11.5.)
Für die begeisterte Antwort sorgen die zuständigen Behörden. Die
haben ein Festprogramm ausgebrütet, das die heldenhafte Leistung,
als Ex-Hauptstadt durch Alliierten-Beschluß und BRD-Gelder etwas
Großstadt-Ähnliches geblieben zu sein, durch alle nur denkbaren
Idiotien hindurch als Feier inszeniert. Wobei in den unterschied-
lichsten Abwandlungen zwei Tatsachen als enormer Grund zur Begei-
sterung angeboten werden:
1. daß es Berlin schon ziemlich l a n g e, eben 750 Jahre, ge-
ben soll, was sich an allen möglichen Trümmern zeigen läßt. Und
2., daß Berlin eine G r o ß s t a d t war und so etwas bleiben
soll. Dafür hat sich jeder Regierende Bürgermeister die intellek-
tuelle Leistung abverlangt, sich einen Namen, d.h. ein "Konzept"
auszudenken. Willy Brandt: "Drehscheibe", Klaus Schütz: "Modell
einer modernen Großstadt" und unter Diepgen heißt es jetzt
"Metropole", Kohl in Feststimmung: "pulsierende Metropole". Daß
Staat und Kapital einmal an einem Ort verhältnismäßig viele Leute
zusammengezogen haben, die mit einem enormen "geistigen Leben",
mit der Konzentration von Bankiersvillen und staatlichen Reprä-
sentationsbauten auf der einen Seite und miserablen Lebensbedin-
gungen auf der anderen Seite versorgt worden sind - Klasse! Die
Erfindung der Mietskaserne hat ja zweifelsohne in Deutschland in
Berlin stattgefunden. Mit dem Namen "Kiez" und "Zille" versehen,
ist die Tatsache, daß es Leute da aushalten mußten und wahrhaftig
auch ausgehalten haben und noch aushalten - ein echter Grund zum
Feiern.
Aus dem Festprogramm:
"Materialprüfung in Berlin gestern und heute - Bundesanstalt für
Materialprüfung"
"Das halbe Leben - Ausstellung des DGB über das arbeitende Ber-
lin"
"Geschichte der Prostitution am Bülowbogen - Frauenprojekt
'Pelzladen'- Die Prostitution im Zusammenhang mit der Veränderung
der Lebens- und Arbeitsbedingungen seit der Industrialisierung"
"Vom Dorfkrug zum Prälaten - Zur Geschichte des Gaststättengewer-
bes in Schöneberg"
"Maison de Sante - Die ehemalige Irrenanstalt vor den Toren Ber-
lins als anschauliches Stück Geschichte zwischen Dorf und Groß-
stadt"
"Erinnerungen - Fundsachen.
Kreuzberger gründen ein neues Museum.
Anstelle einer traditionellen Eröffnung, bei der den Besuchern
ein fertiges Museum präsentiert wird, fordert die Aktion
'Erinnerungen - Fundsachen' dazu auf, selbst Ausstellungsgegen-
stände mitzubringen und sich in ersten Werkstattgesprächen am Mu-
seumsaufbau zu beteiligen."
"Der Kürfürstendamm - ein Boulevard als Lebensraum"
"Sport in Berlin - Vom Ritterturnier zum Stadtmarathon Hasenheide
- Ursprung des Turnens"
"Lastwagenkorso"
"Böhmisches Dorffest, mit Gästen aus der CSSR - 150 Jähre Böhmen
in Neukölln. Wie die Hugenotten oder die Salzburger fanden auch
böhmische Protestanten Zuflucht in Preußen... Die Böhmen als Mo-
dell für Zuwanderer, Migranten und Asylanten in der Stadt Ber-
lin."
Lummer als Ehrenvorsitzender. Asylantenzelte werden nicht ange-
zündet.
"Türken in Berlin - Stationen türkischen Lebens"
"Wagenkorso mit historischen und modernen Fahrzeugen der Eigenbe-
triebe.
Die Wasserwerke, die Stadtreinigung, die GASAG, die BVG und die
Berliner Hafen- und Lagerhausbetriebe öffnen ihre Tür und stellen
ihre Aufgaben und Leistungen vor."
Fehlen nur Wasserwerfer und chemische Keule als Beitrag zum Groß-
stadtkolorit.
Bei der Beteiligung an der allseitigen Lobeshymne darauf, daß in
Westberlin wahrhaftig Leute leben, wird die FAZ so rührselig, daß
sie sogar Hausbesetzer und TAZ liebevoll zur Brust nimmt, "die
reiche alternative Szene, die muntere freche taz..." (25.4.)
(Zwei Wochen später nach den Kreuzberger Krawallen, geifert sie
natürlich schon wieder, warum diese "munteren" Elemente noch
nicht alle eingesperrt sind.) So wird ordinäre Armut zur Kleine-
Leute-Idylle hochstilisiert. In allen Schattierungen wird der
Fest-"Gedanke" durchexerziert, daß eine proletarische oder
asylantenmäßige Großstadtexistenz, weil sie gezwungenermaßen aus-
gehalten wird, den Ehrentitel "Heimat" und ein Museum nach dem
anderen verdient - und damit Berlin, d a s Symbol unerledigter
"Fragen" zwischen Ost und West, sich auch noch in der politisch
konstruierten Rasse seiner Bewohner Komplimente macht. Und dieses
hohe Gut, dieses edle Menschentum, in Kreuzberg einen Gemüseladen
zu führen, sich in Schwarz-Schillings Batterie-Fabrik vergiften
zu lassen, auf einen Berliner Strich zu gehen oder in Abschiebe-
haft zu sitzen, erfreut sich höchster internationaler Solidari-
tät.
Westberlin feiert: sich als NATO-Parole
---------------------------------------
Die Tour de France geht in Berlin los. The Queen's Birthday Pa-
rade findet dieses Jahr unter Teilnahme der Queen statt. Und die
versammelten alliierten Armeebestände inszenieren noch einmal,
weil es so schön war, Berlin-Erobern.
"Kriegsende am Großen Stern. Der Platz um die Siegessäule füllt
sich mit alliierten Soldaten, mit der Musik ihrer Nation. Golden
erstrahlt die Siegessäule..."
Auftritt Chor der Trümmerfrauen...
Soweit hat es die BRD inzwischen gebracht, daß die Alliierten
ihre Anwesenheit in Berlin kaum noch jemals mit dem Unterton ver-
sehen, daß sie als Siegermächte gegenüber einer besiegten Nation,
als Aufpasser gegenüber einer von ihnen zugelassenen und be-
schränkten Souveränität residieren. Umgekehrt. Der Frontstaat
läßt sich und seinem Gewicht im Bündnis in Berlin die Ehre erwei-
sen. Die Ex-Siegermächte sind der BRD zu Gefallen, absolvieren
Staatsbesuche höchster Güteklasse und machen demonstrativ dem
Bundespräsidenten in Berlin ihre Aufwartung - eine neue protokol-
larische Feinheit in der Status-Frage, die alle westdeutschen
Zeitungen mit inniger Freude auf der Titelseite herausbringen. So
begegnen sich eben nicht mehr Sieger und Besiegte, sondern Bünd-
nispartner für den nächsten Krieg.
***
Die Alternative Liste: leicht daneben
-------------------------------------
Die Variante der Grünen in Berlin, die Alternative Liste macht
ihrem Namen alle Ehre: Wo Politik ein ständiges Gezerre um Sta-
tus-Fragen, ein völkerrechtliches Definitionsunwesen ist, um der
DDR ihre "Normalität" zu bestreiten, da muß natürlich auch dazu
eine A l t e r n a t i v e her. Zu dem Zweck stellt sich die AL
auf den östlichen Standpunkt von Westberlin als selbständiger po-
litischer Einheit und denkt daran konstruktiv weiter in Richtung
auf einen aparten West-Berlin-Nationalismus:
"Als Möchtegern-Bundesland macht sich West-Berlin finanziell,
wirtschaftlich und politisch völlig von der Bundesrepublik abhän-
gig, obwohl die Stadt einen Status besitzt, der sie zu eigenstän-
digem Handeln berechtigt." (Zwanzig Thesen zur Zukunftsperspek-
tive der geteilten Stadt Berlin, FR 5.10.86)
Ein "selbstbewußtes West-Berlin" sollte sich dagegen als
"Friedensstadt" definieren,
"sich zur-entmilitarisierten und ABC-waffenfreien Zone erklä-
ren... und zusammen mit den Friedensbewegungen in Ost und West in
Kursen und Seminaren friedensfördernde Praxis lehren und ein-
üben."
Der DDR verspricht die AL den Verzicht
"auf jede Form von Druckausübung", "natürlich heißt das nicht,
Kritik zu verschweigen oder solidarische Anstrengungen gegenüber
Verfolgten zu unterlassen."
Und als echte Realpolitiker haben die Jungs von der AL auch die
Finanzfragen schon durchkalkuliert:
"Die totale Abhängigkeit West-Berlins wäre allerdings aufzubre-
chen, wenn die in West-Berlin erwirtschafteten und verbrauchten
Waren und Dienstleistungen in der Stadt selbst versteuert würden.
Könnte West-Berlin bei seiner großen Wirtschaftskraft über die
eigenen Ressourcen verfügen, stünde die Stadt - bei einem entwic-
kelten Handel nach West und Ost - sehr günstig da. Wegen ihres
entmilitarisierten Status brauchte West-Berlin keinerlei Rü-
stungskosten aufzubringen. Dies ist ein Grund mehr, die Rolle als
Friedensstadt zu betonen und auszubauen."
Wirklich Klasse, wie ein alternativer Lokalpatriotismus es
schafft, mit ein bißchen Steuerhoheit die Profitträchtigkeit des
Friedens auszurechnen.
***
Die Kirchen: voll auf Linie
---------------------------
In Ostberlin müssen die Schäfchen streng dazu ermahnt werden, ih-
rer weltlichen Obrigkeit und deren Feierbedürfnis nicht auf den
Leim zu gehen.
"Der im Ostteil residierende katholische Bischof von Berlin hat
davor gewarnt, die Stadt zu überfordern, indem man Ansprüche an
sie stelle, die sie gar nicht erfüllen könne. 'Unsere schöne
Stadt ist nicht unser endgültiger Wohnort. Die Christen suchen
ihre zukünftige Stadt, das himmlische Jerusalem. Wieviele Herr-
scher und Herren sind in den 750 Jahren gekommen und gegangen?
Geblieben ist nur einer, gestern, heute und in Ewigkeit, Chri-
stus!'" (FAZ, 2.1.)
In Westberlin hetzt der evangelische Westoberpfaffe Kruse west-
ost-ökumenisch gegen die Mauer.
"Berlin braucht Raum zum Leben und nicht harte trennende Gren-
zen." (FAZ, 27.4.)
Sollen sie doch auch bei dem Thema mehr jenseitig denken oder
Gottes unerschöpflicher Weisheit danken, der ja letztlich auch
dieses Bauwerk entsprungen sein muß.
***
Demokratische Geschmackssicherheit
----------------------------------
1. Gegen faschistische Unsitten
-------------------------------
700 Jahre Berlin hat das Dritte Reich gefeiert. Dagegen muß man
sich abgrenzen. Zum Beispiel damit, daß damals gar nicht genug
gefeiert worden ist: Der Führer war gar nicht dabei!
"Der 'Führer' machte sich auf nach Bayreuth. Die eine August-Wo-
che der 700-Jahr-Feier in Berlin überließ er dem Gauleiter Josef
Goebbels..." (SZ, 2.5.)
Und der hatte ja bekanntlich überhaupt keinen Geschmack:
"Die Augustwoche von 1937 war prunk- und pompvoll..."
Wir hingegen dokumentieren mit der genialen Unterscheidung von
Land und Wasser den kategorialen Unterschied von Faschismus und
Demokratie:
"Im Jahre 1937 fand hier der banal kostümierte Festzug zur 700-
Jahr-Feier statt. Einen solchen Festzug kann es im Jahre 1987 aus
guten Gründen nicht geben. Statt dessen sind Bürgergruppen, Part-
nerstädte, in- und ausländische Teilnehmer aufgerufen, Schiffe
für den Wasserkorso zu gestalten, der über Berlins Kanäle, die
Havel und die Spree führt ... Die Heiterkeit eines Umzugs auf dem
Wasser entspricht mehr als jeder noch so prächtig ausgestaltete
Umzug auf den Straßen den heutigen Anschauungen und Bedürfnis-
sen..." (50 Jahre Berlin, Lese- und Programmbuch zum Stadtjubi-
läum)
2. Gegen sozialistischen Realismus
----------------------------------
Für den Goldenen Saal im Schöneberger Rathaus hat sich der Senat
extra malen lassen, um dann lauter Probleme mit dem Kunstwerk zu
bekommen.
"Der 'Regierende' befürchtete, man könne die Darstellung der Se-
natsmitglieder als Personenkult mißverstehen und schlug Koeppel
vor, die Porträts zu 'verunschärfen'... So empfand sich Senator
Fink als zu kleinwüchsig dargestellt, der 'Regierende' fragte
nach, ob seine Nase nicht zu groß geraten sei... Der Innensenator
- einer der wenigen, der sich auf Anhieb gefiel - dürfe nicht lä-
cheln, da er doch auf die unlängst ausgegrabenen Folterkeller des
früheren Gestapo-Hauptquartiers schaue..." (FAZ, 9.4.)
Der Maler soll diese Bedenken alle eingesehen und sein Kunstwerk
ausgebessert haben. Wo die Kunst nämlich frei ist und nicht in
politische Ketten gelegt, ist sie auch richtig wahr, schön und
gut.
zurück