Quelle: Archiv MG - BRD AUSSENPOLITIK ANSCHLUSS - Die Eroberung der DDR
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Der Eisenbahnerstreik - große Aufregung und prompte Erledigung
WAS ZONIS ALLES (NICHT) ZUSTEHT
Ein Streik in den neuen Bundesländern hat einen Tag lang für Auf-
regung gesorgt. Alle Medien widmeten sich ausführlichst dem
Thema, und die Kommentare geiselten unisono den Arbeitskampf. Was
war geschehen?
Die Eisenbahnarbeiter Ost haben es sich herausgenommen, das neu-
erworbene Streikrecht das ihnen als eine großartige Errungen-
schaft ihrer neuen demokratischen Freiheit angepriesen worden
war, zu benutzen, kaum daß sie es hatten. Im Unterschied zu ihren
Kollegen West, die sonst höchstens zum Warnstreiken, also norma-
lerweise zur verlängerten Frühstückspause antreten, haben sie
drüben fast den gesamten Eisenbahnverkehr lahmgelegt, wenn auch
nur für knapp zwei Tage. Und schon haben sie in den Augen der de-
mokratischen Öffentlichkeit alles falsch gemacht. Die war ent-
setzt: Ausgerechnet d i e d o r t d r ü b e n haben überhaupt
keinen Grund, das Streikrecht so nachhaltig mißzuverstehen.
Grund dazu haben sie allerdings genug: Mit rund 1300 Mark für
einen vergleichsweise besserverdienenden Lokführer der Reichsbahn
läßt es sich nur schwer über die Runden kommen. Daneben plant die
Reichsbahnleitung, in den kommenden fünf Jahren ihre Belegschaft
um ein Drittel zu reduzieren: Billiglohn und Arbeitslosigkeit,
das ist das wirtschaftspolitische Versprechen für die neuen mit
der Marktwirtschaft beglückten Deutschen. Denn anders, das steht
fest, kommt das "zarte Pflänzchen Marktwirtschaft" nie zum Blü-
hen. Nicht anders sieht das die aus dem Westen importierte zu-
ständige Eisenbahnergewerkschaft GdED. Die politisch hergestellte
wirtschaftliche E x t r a l a g e der Zonis ist für sie Anlaß
zu einer E x t r a t a r i f p o l i t i k. Die Forderungen, die
sie gegenüber der Reichsbahnleitung auf den Tisch legte, entspra-
chen voll dem Grundsatz, daß für ihre Mitglieder drüben Verzicht
das erste Stück vom Wohlstand ist. "Angleichung der Lebensver-
hältnisse" heißt das Langzeitprogramm, das die GdED als Forderung
auf den Tisch legte. Mit Gleichmacherei ist das nicht zu
verwechseln: Statt 45 bitte 50 bis 60 Prozent des Lohns der
Beschäftigten der Bundesbahn, und ein Kündigungsschutz, der über
40jährige mit 15jähriger Betriebszugehörigkeit von Entlassungen
ausnimmt: Deutschen zweiter Klasse steht nun mal auch nur die
Hälfte des Lohns der erstklassigen Deutschen zu, urteilt die
Gewerkschaft über ihre Mitglieder, und beeilt sich gleich hinzu-
zufügen, daß ihre Lohnforderung "keine Priorität" habe und daß
der Kündigungsschutz "keine geplante Sanierung der Reichsbahn
verhindern wolle". Wie auch, mit einem Schutz für 40jährige und
einem Freibrief gegen alle, die jünger sind und noch keine 15
Jahre der Reichsbahn gedient haben? Schließlich hat genau mit
diesen Regelungen die Bundesbahn in den letzten Jahren Tausende
entlassen. Aber eins steht auch den halben Deutschen bei der
Reichsbahn zu: Eine Gewerkschaft, die die Armut ihrer Arbeiter-
fraktion entschlossen in die Hand nimmt.
Die Reichsbahnleitung hat jede Befassung mit den GdED-Forderungen
zunächst glatt verweigert. Es hat ihr nicht gelangt, für die ge-
planten Entlassungen freie Hand zu bekommen; sie will auch freie
Hand bei der Sortierung ihrer Mannschaft haben und nicht auf alt-
gedienten Heizern sitzenbleiben. Und beim Geld mochte sie ihr
Nullangebot noch nicht einmal nach den Spielregeln des
"Tarifpokers" unterbreiten.
Diese Absage ans altbewährte Tarifrunden-Brauchtum hat die Ge-
werkschaft schwer verärgert. Da mußte ein Streik her, um den un-
erfahrenen Reichsbahnmanagern Beine zu machen. Die Urabstimmung
der Eisenbahner ging richtig aus, und auf einmal stand so ziem-
lich alles still. Das war ein Schock - vor allem für die GdED
selbst. S o hatte sie das mit dem Streiken nämlich nicht ge-
meint. W i e sie es gemeint hatte, wurde schleunigst klarge-
stellt, kaum daß der Bahnverkehr mal zwei Tage stillgestanden
hatte: Alles zurück, alle Räder rollen wieder, denn der Reichs-
bahnvorstand hat Verhandlungsbereitschaft signalisiert! Und kaum
saß man an einem Tisch, war auch schon "die Lösung" da:
Weder mehr Lohn, noch irgend eine Form von Kündigungsschutz.
Statt dessen als Versprechen der Reichsbahnleitung, auf die ohne-
hin nicht geplanten Kündigungen bis Mitte des Jahres zu verzich-
ten, eine neue Gesprächsrunde im Januar und als Trostpflaster ein
paar Märker Kindergeld und die einmalige Zahlung eines besseren
Weihnachtsgeldes. Die s c h l e c h t e Forderung der Gewerk-
schaft war abgewiesen - aber dennoch ein E r f o l g: Die GdED
hatte klargestellt, daß man auch drüben nicht an ihr vorbeikommt.
Und darauf war es ihr ja auch angekommen.
Was war also? Ein knapp zwei Tage dauernder Streik, dessen Radi-
kalität in umgekehrtem Verhältnis zu dem stand, was für die
Streikenden dabei herausspringen sollte, und ein paar Lehren über
unsere Brüder drüben. Sie s i n d Deutsche zweiter Klasse, ein
Vergleich mit westdeutschen Arbeitsverhältnissen steht ihnen zu,
eine Gleich s t e l l u n g aber nicht. Das Kapital braucht näm-
lich unbedingte Freiheit für den Aufbau der Zonenwirtschaft. Des-
halb kommen Löhne und Arbeitszeiten, mit denen deutsche Unterneh-
men weltmeisterliche Gewinne produzieren, für drüben nicht in
Frage; und selbst die Sorte Arbeiterschutz, mit dem man hier ein
Wirtschaftswunder nach dem anderen eingefahren hat und der z.B.
nicht verhindert hat, daß es zwischenzeitlich stolze drei Millio-
nen Arbeislose gab, gilt für drüben als "skandalöses" Anspruchs-
denken. Unzufriedenheit damit zeugt von Undankbarkeit, ein Streik
gar ist ein Verbrechen. Immerhin sind die Brüder und Schwestern
in einer ganzen Reihe von Beziehungen jetzt schon erstklassige
Deutsche: Richtig wählen, anständig arbeiten und stempeln gehen,
wenn man sie nicht braucht, haben sie ja schon gelernt. Was brau-
chen sie mehr?
Ganz nebenbei ist auch eine Lehre für die westdeutschen Arbeiter
abgefallen: Sie sind Deutsche erster Klasse, und damit auf jeden
Fall blendend bedient.
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