Quelle: Archiv MG - BRD AUSSENPOLITIK ANSCHLUSS - Die Eroberung der DDR
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Rechtsberatung für frisch gebackene DM-Besitzer:
EINÜBUNG IN STAATSBÜRGERLICHEN REALISMUS
In allen Medien der DDR tobt sich derzeit ein neues Beratungswe-
sen aus. "Fachleute" - bevorzugt gleich aus der BRD - erteilen
"ratlosen Bürgern" Auskunft darüber, was die neuen Prinzipien des
Wirtschaftens, die mit der DM in die DDR Einzug halten, für sie
"bedeuten". Da erfährt man, wie es denn so aussieht mit dem Recht
der Betriebe, Leute an die Luft zu setzen; unter welchen Bedin-
gungen Leute aus ihren Wohnungen geschmissen werden können - und
unter welchen nicht; wo man einen Antrag auf Sozialhilfe stellen
kann; wie sich jetzt die Rente berechnet, was mit den Kindergär-
ten wird und wer demnächst für die Kosten eines Krankenhaus-
aufenthalts aufzukommen hat. Das Ganze wird vorstellig gemacht
als eine einzige Dienstleistung an den DDRlern, denen mit diesen
Auskünften das Mittel an die Hand gegeben sei, sich ihr Leben un-
ter den neuen, "marktwirtschaftlichen" Bedingungen einzurichten.
Eine ziemliche Frechheit. Erst bestreiten die Politiker in
Deutschland West und Ost den DDRlern alle Existenzbedingungen,
mit denen sie bislang über die Runden kamen. Kein Moment des Le-
bens, Arbeitens, Wohnens soll es mehr geben, das nicht zum Ge-
schäftsmittel des Kapitals neu hergerichtet wird und damit von
staatswegen abhängig gemacht ist von den Erwägungen und
Kalkulationen des privaten Eigentums. Und dann kommen die glei-
chen Leute daher und spielen sich als Hilfesteller für die
"Lebensbewältigung" der Leute auf!
Das Recht - Hilfe in allen Lebenslagen?
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Entsprechend sieht die "Hilfe" aus, die sie anzubieten haben: sie
besteht in der Erläuterung des neuen Systems von Rechten und
Pflichten, die die "Wirtschafts - und Sozialunion" den DDRlern
serviert. Es wird Auskunft erteilt darüber, was das demnächst
geltende Recht den neuen Herren über Fabriken und Grundeigentum
einerseits, Mietern und Arbeitern andererseits e r l a u b t
und v e r b i e t e t; was sie von staatlichen Stellen zu
gewärtigen haben und welche Ansprüche sie geltend machen dürfen.
Daß ganz normale Bürger auf diese Weise mit Rechtsvorschriften
aller Art belämmert werden, liegt nicht einfach daran, daß sie
jetzt mit einer "neuen Ordnung" zurechtzukommen haben. In der
"freien Marktwirtschaft" ist es fürs Zurechtkommen ganz prinzipi-
ell nicht damit getan, daß man als normaler Arbeiter oder Ange-
stellter eben arbeiten geht und auch sonst seine Pflicht tut.
Zwar wird man nicht mehr von übermächtigen Behörden "gegängelt" -
aber erspart wird einem dadurch nichts. Stattdessen hat man sich
zur Bewältigung des ganz normalen Lebens neben und zusätzlich zur
Arbeit um allerlei zu kümmern. Gegenüber den Instanzen des Sozi-
alstaats hat man sich in die hohe Kunst der Anspruchsberechtigung
einzuüben: herauszukriegen, wann wem unter welchen Bedingungen
Sozialhilfe, ein Stipendium oder Wohngeld zusteht und was der
Staat dafür verlangt. Tut man das nicht, entgeht einem nicht nur
die eine oder andere DM, man macht sich eventuell sogar strafbar.
Auf der Arbeit und beim Wohnen sieht man sich mit Anforderungen
von Arbeitgebern und Vermietern konfrontiert; also muß man wis-
sen, was die "andere Seite" jeweils verlangen darf und was nicht.
Ab sofort ist eben auch in der DDR jeder Hinz und Kunz selbst da-
für zuständig, zuzusehen, wie er mit "dem Leben" zurechtkommt.
Gleichzeitig kriegt noch jeder mit, daß er mit dieser Zuständig-
keit nichts in der Hand hat, womit er tatsächlich praktisch über
seine Lebensverhältnisse entscheiden könnte. Die Mittel, mit
denen hierzulande darüber entschieden wird, welche Interessen und
Bedürfnisse zum Zuge kommen und welche nicht - die Macht und das
Geld - sind in den Händen des Staates und privater Eigentümer
konzentriert. Die e n t s c h e i d e n folglich darüber, was
der normale Bürger von Arbeit und Lohn hat; und eben deshalb hat
der sich nach d e r e n Kalkulationen zu erkundigen, wenn er
mit ihnen zurechtkommen können will.
Als bloße Manövriermasse von Staat und Kapital braucht sich der
freie Bürger dennoch nicht zu fühlen. Statt über M i t t e l
der freien Lebensgestaltung verfügt er nämlich über R e c h t e.
Eben das darf man sich als den großen Fortschritt der Demokratie
gegenüber dem alten SED-Staat vorstellen. Dabei erleichtern diese
Rechte sein Leben kein Stück; sie legen bloß fest, wie er mit den
Lebensverhältnissen zurechtzukommen hat, die die andere Seite ihm
serviert.
Das geht so: Der Lohn ist knapp? Da gibt's das Recht darauf, daß
dieser nicht einseitig vom Arbeitgeber f e s t g e l e g t, son-
dern in Vertragsform v e r e i n b a r t wird. Der Arbeitsplatz
ist zu laut? Da gibt's das Recht darauf, daß der Arbeitgeber die
staatlichen Arbeitsschutzbestimmungen einhält. Wem seine Arbeits-
zeit zu lang ist, hat ein Recht darauf, daß der Betrieb sich an
die Arbeitszeitordnung hält. Wer entlassen wird, hat Anspruch
darauf, daß dies nach den Vorschriften des Kündigungsschutz-
gesetzes erfolgt. Und wem die Miete hochgesetzt wird, hat das
Recht darauf, sich eine andere Wohnung zu suchen...
Kurzum: Wo immer sich in der bürgerlichen Gesellschaft ein Inter-
esse zu Wort meldet, war der Staat schon vorher da und hat mit
seinem Recht dem Interesse den Inhalt verpaßt, den es von staats-
wegen haben soll. Und damit ist das Interesse an Lohn, Arbeits-
zeit und Gesundheit etc. auch schon b e d i e n t. Mehr und an-
deres, als Recht und Gesetz dem Interesse zugestehen, darf des-
halb auch keiner wollen. Umgekehrt dürfen auch Grundeigentümer
und Arbeitgeber nichts verlangen, was ihnen nicht gesetzlich zu-
steht: darauf haben Arbeiter wie Mieter ein R e c h t. Das war
es dann aber auch. Denn eines ist ja klar: am I n h a l t der
Gegensätze, die hier zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern,
Mietern und Vermietern geregelt und fixiert werden, ändert deren
Rechtsform ebensowenig wie an den Machtmitteln, die beiden Seiten
zu Gebote stehen, um ihren Interessen Geltung zu verschaffen.
M i t dem Recht ist das Eigentum ebenso i n s Recht gesetzt
wie die Eigentumslosigkeit - und eben deshalb sehen auch die
Rechte von Arbeitern, Mietern, Verbrauchern so trostlos aus, wie
sie aussehen
.
"Dürfen die das"?
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Daß mit dem Recht ausgerechnet den Mittel l o s e n ein Mittel
an die Hand gegeben wäre, ihren Interessen g e g e n staatliche
Instanzen bzw. das Privateigentum Geltung zu verschaffen, ist
also eine einzige Lüge. Und der Umstand, daß man in der Tat wis-
sen m u ß, worum man sich alles zu kümmern hat, wenn man z.B.
entlassen oder einem die Wohnung gekündigt wird, macht die Para-
graphen, die Bedingungen des Beschäftigens und Vermietens
"regeln" noch lange nicht zu einem Instrument des
S c h u t z e s vor der Übermacht der jeweils anderen Seite. In
den guten Ruf, einen solchen Schutz darzustellen, kommt das Recht
perverserweise überhaupt bloß aus einem Grund: weil man sich als
"Betroffener" noch nicht einmal darauf verlassen kann, daß Be-
triebe und Vermieter sich tatsächlich an die Gesetze halten, mit
denen der Staat ihr geschäftstüchtiges Treiben regelt. Und auch
die sozialstaatlichen Instanzen entdecken durchaus Vorteile für
ihr Budget darin, daß den Bürgern die Sorge um ihre Rechte selbst
aufgehalst ist, und halten es keineswegs für ihre Aufgabe, Leuten
ungefragt etwas zukommen zu lassen (vgl. Kasten).
Und das ist auch nicht weiter verwunderlich. Denn wer die Macht
und das Geld auf seiner Seite hat, der verfügt zugleich über ent-
schieden bessere Mittel, nicht nur des Recht für sich zu nutzen,
sondern das eigene Interesse auch mal ein wenig jenseits der Le-
galität geltend zu machen. Deshalb darf der "kleine Mann" auch
noch damit rechnen, daß mancher Grundeigentümer sich wenig um die
Paragraphen des Mietgesetzes, mancher Betrieb sich wenig um die
Auflagen des Gewerbaufsichtsamts schert - und in aller Regel da-
mit rechnen kann, daß sich kein "Betroffener" einen Einspruch
leisten kann oder will.
"Entlassungen - kein Problem! Wir sagen ihnen, wie man die
entsprechenden Formulare ausfüllt!"
Aber auch hier läßt der Staat seine Bürger nicht im Stich. Er
kleidet den Gegensatz von Eigentum und Armut eben nicht bloß in
ein ganzes Rechtsystem von Rechten und Pflichten; er steht auch
seinen minderbemittelten Bürgern mit guten Ratschlägen zur Seite,
wenn sie sich nicht auskennen in den Rechten, die ihnen zustün-
den, und den Rechtsmitteln, die sie eventuell hätten, diese auch
geltend zu machen. Daneben gibt es eine ganze Heerschar von
selbsternannten Rechtsberatern: Verbraucherberatung und Kreditbe-
ratung und Mieterberatung und Arbeitslosenberatung. Und alle ver-
folgen das abgrundtief menschenfreundliche Anliegen, in Fragen
folgenden Kalibers "Rechtssicherheit" zu stiften: Wieviel darf
man dazuverdienen, wenn man Arbeitslosengeld bezieht? Darf der
Betrieb einem schon kündigen, wenn man einmal verschläft? Unter
welchen Bedingungen darf ein Vermieter auf Eigenbedarf klagen?
usw. usf. Damit wird zwar weder das Geld mehr noch der Arbeits-
platz sicherer. Aber so erfährt der "kleine Mann" immerhin aus
kundigem Munde, worauf er aufpassen muß, was er sich gefallen
lassen muß und was nun wirklich nicht. Jedenfalls, wenn es nach
Recht und Gesetz ginge...
Die Botschaft, auf die es den offiziellen wie inoffiziellen
Rechtsberatern ankommt, heißt: "Alles können die nicht mit euch
machen!" In Wahrheit ist das Verhältnis genau umgekehrt: mit dem
Recht wird man darauf v e r p f l i c h t e t, daß das von oben
Erlaubte und Zugestandene das Einzige ist, was man als Interesse
noch vorzubringen hat. So wird die Mittellosigkeit, auf die der
normale Mensch von staatswegen festgelegt ist, noch einmal unter-
strichen: weil ihm - qua Recht! - alle Mittel genommen sind, soll
er auf keine anderen Mittel schauen als die, die ihm das Recht
einräumt. Das ist die ganze "Information", die den DDRlern der-
zeit serviert wird.
***
Ingrid R., Bereichsleiterin Sozialwesen in Halle, "sieht ihr be-
rufliches Selbstverständnis erschüttert":
"Gesetze waren bei uns nicht geheim, aber sie waren auch nicht
öffentlich, und viele Bürger wußten vieles nicht. Meine Aufgabe,
glaubte ich, sei, ihnen zu sagen, was sie nicht wissen können.
Jetzt werde ich von meinen Kolleginnen zurückgehalten: Markt-
wirtschaft im Sozialamt ist, daß ein Bürger nur noch das bekommt.
was er auch beantragt. Wenn er seine Vorteile und Rechte nicht
kennt, umso besser für uns, denn die Kommune spart die Ausgabe.
Ist das so?" (Weser-Kurier)
Ja, liebe Ingrid, so ist das - jedenfalls in der Praxis: Gängelei
ist out, "Hilfe zur Selbsthilfe" ist in. Das "soziale Netz" ist
schließlich keine Hängematte. Da muß man sich eben schnell ein
neues "berufliches Selbstverständnis" zulegen!
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