Quelle: Archiv MG - BRD AUSSENPOLITIK ANSCHLUSS - Die Eroberung der DDR
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Die militärische Zuordnung und Ausstattung des wiedervereinigten
Deutschland
WARUM FÜR DIE DEUTSCHEN EIN NEUTRALES
VEREINTES DEUTSCHLAND UNMÖGLICH IST
Kaum war der Anschluß der DDR an den Rechtsnachfolger des Deut-
schen Reiches, die BRD, eine realistische Perspektive geworden,
stand fest, daß die Angelegenheit der Deutschen ein Sicher-
heitsproblem von weltpolitischer Dimension darstellt. Seitdem
steht die heiße Frage auf der Tagesordnung, wie auf Grundlage der
offenkundigen Veränderungen des Staatengefüges in der Mitte Euro-
pas der F r i e d e n in Europa und zwischen den Blöcken in Ost
und West militärisch zu sichern sei. Die abzusehende friedliche
Lösung der deutschen Frage bringt also das harte Problem auf den
Plan, mit welcher militärischen Ausstattung den Sicherheitsinter-
essen sowohl des westlichen als auch des östlichen Bündnisses wie
auch dem Sicherheitsinteresse des neuen großen Deutschland ent-
sprochen werden kann.
Daß ein friedlich wiedervereinigtes Deutschland derart grundsätz-
liche Machtfragen aufwirft und die Neuordnung im Zentrum Europas
nach einer neuen europäischen Friedensordnung verlangt, ist für
seine Herren wie für die übrigen Nationen selbstverständlich. Of-
fenbar handelt es sich bei dem Anschluß der Deutschen-Ost an die
Deutschen-West nicht einfach um die Einlösung des "natürlichen"
Völkerrechts der Deutschen, in einem Staat zusammenleben zu dür-
fen. Um so unschuldige Anliegen geht es nicht, wenn die Sicher-
heit und der Frieden in Europa und überhaupt zur Debatte stehen.
Das Recht der Deutschen, sich zu einem "einig deutschen Vater-
land" zusammenzutun, ist allenthalben von anderen Staaten aner-
kannt, in West und in Ost. Das freut vor allem die westdeutschen
Politiker sehr. Überhaupt nicht erfreut sind sie aber darüber,
daß dabei die Idee eines n e u t r a l e n Deutschland wieder
aufgekommen ist. Die Sowjetunion hat den Vorschlag gemacht und
damit zu erkennen gegeben, daß ihr an einer europäischen Sicher-
heitsstruktur mit einem entmilitarisierten neutralen Großdeutsch-
land gelegen ist, weil sie bemerkt, daß ihre Sicherheit nach der
Auflösung ihres Ostblocks von der Politik des neuen großen
Deutschlands entscheidend abhängt. Diesen Vorschlag lehnen die
NATO und die Bundesrepublik entschieden ab. Fragt sich nur,
warum? Die Friedensfreunde von der NATO geben doch vor, an der
"Auflösung der Blockkonfrontation" interessiert zu sein. Und ein
neutrales Deutschland, das nicht mit militärischen Machtmitteln
auftrumpfen und weitere Grenzen verändern kann, wäre doch sicher
ein Gewinn für die "Stabilität Europas". Die ist offenbar anders
gemeint. Die NATO nimmt die deutsche Wiedervereinigung eben nicht
als Anlaß, in Europa den Ost-West-Gegensatz zu begraben. Sicheren
Frieden definiert dieses Bündnis anders.
Und warum wollen bundesrepublikanische Politiker der Vereinigung
mit der DDR nicht froh werden, wenn das vergrößerte Gebilde den
Status der Neutralität hätte? Die vielbeklagte deutsche Tragik:
die Grenze mitten durch Deutschland, die Unfreiheit der Brüder
und Schwestern, die Trennung der Deutschen von Deutschen, wäre
doch mit einem vereinten neutralen Deutschland aus der Welt. Of-
fenbar ist der Zweck der Wiedervereinigung der beiden deutschen
Staaten gar nicht die Einlösung der gerne vorgetragenen Losung,
daß man nicht trennen dürfe, was zusammengehört. Offenbar sehen
die verantwortlichen westdeutschen Politiker in dem so neutral
anmutenden Einigungswerk der Deutschen die Chance, daß ein ver-
größertes Deutschland an Macht und Einfluß gewinnt in der Staa-
tenwelt, und erklären deswegen Neutralität für unmöglich.
Die westlichen Verbündeten und Freunde der Bundesrepublik melden
Bedenken an gegen eine allzu rasche deutsche Wiedervereinigung.
Alle beharren sie darauf, dabei mitreden zu wollen. Wie das, wenn
doch bloß ein legitimes Recht der Deutschen verwirklicht werden
soll? Offenbar wissen die westlichen Partner der Bundesrepublik
ganz genau, daß da in Europa eine Großmacht zusammenwächst, die
ihnen mit mehr Rechten und vermehrten Ansprüchen härter als bis-
her Konkurrenz macht.
Warum tun sich die bundesrepublikanischen Politiker so schwer,
die Sicherheitsinteressen des polnischen Staats zufriedenzustel-
len und ihm unwiderruflich die bestehenden Grenzen einfach anzu-
erkennen? Offenbar halten die Herren in Bonn, gerade da sie dabei
sind, ihr Staatsgebiet nach Osten auszudehnen, es für eine dem
deutschen Staat nicht angemessene Unterwerfung unter das kleine
Polen, das durch deutsche Verluste zustandegekommen ist. Auch
wenn gegenwärtig kein Politiker der BRD die Korrektur der Oder-
Neiße-Grenze auf seiner Tagesordnung hat, geht jeder dieser Her-
ren, die den Vorwurf des Revanchismus weit von sich weisen,
selbstverständlich davon aus, daß sich Deutschland nach der Revi-
sion der Grenze in Deutschland gegenüber seinem polnischen Nach-
barn mehr erlauben kann und will. Der Aufforderung, jetzt im Na-
men des künftigen Deutschland eine endgültige Garantie der pol-
nischen Westgrenze zu erklären, entnimmt ein deutscher Kanzler
die künftige "Lage". In der ist nämlich Deutschland erstens un-
mittelbarer Nachbar und Kontrahent Polens, so daß es zweitens im
Ermessensbereich deutscher Politik liegt, was diesem Nachbarn zu-
steht. Angesichts dieser Perspektive ist alles, was an einen
Friedensvertrag gemahnt, in dem Deutschland als Verlierer dasteht
und einen historisch berechtigten Verzicht übt, verkehrt. Getreu
dem Motto, daß man - und Staaten schon gleich - nur auf etwas
verzichten kann, was einem gehört, wird die Bundesregierung deut-
lich. Die polnischen Grenzen sind, bleiben und werden erst recht
durch die neuen Kräfteverhältnisse in Europa ein Bestandteil
deutscher Außenpolitik. Der Anspruch besteht, und nur wir ent-
scheiden, ob und wieviel Gebietsansprüche wir geltend machen.
Diese Position und sonst nichts spricht aus der Stellungnahme des
- BRD-Außenministers, die nach ausgiebigem moralischen Hin und
Her und einer frechen Absage an eventuelle Reparationsforderungen
die Gemüter beruhigen sollte:
"Wir sagen allen unseren Nachbarn, was wir vereinigen wollen: die
Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische Republik
und ganz Berlin, nicht weniger und nicht mehr. Wir haben keine
Gebietsansprüche gegen einen unserer Nachbarn." (Genscher)
An welchen ewigen Frieden denkt der Kanzler, wenn er in Rücksicht
auf das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion dieser das Angebot
macht,
"daß keine Einheiten und Einrichtungen des westlichen Bündnisses
auf das heutige Gebiet der DDR vorgeschoben werden"?
Es braucht doch nicht erst den - inzwischen regierungsamtlich für
inopportun erklärten Hinweis des Bundesverteidigungsministers auf
"das Recht jeden Staates, sein eigenes Territorium an den Grenzen
zu schützen", um zu wissen, daß die Bundesregierung natürlich
ihre militärische Hoheit auf ganz Deutschland ausdehnt. Nur hält
sie einen Vormarsch ihrer Truppen, den sie selbstverständlich als
ihr legitimes Recht ansieht, gegenwärtig - wegen der Sowjetunion
- (noch) nicht für machbar. Offensichtlich verwechseln diejeni-
gen, die in Bonn emsig an der deutschen Wiedervereinigung arbei-
ten, diese friedliche Eroberung der DDR nicht mit der Schaffung
der friedlichen Idylle einer einigen und ganzen deutschen Heimat.
Daß deutsche Wiedervereinigung Machtzuwachs und mehr Einfluß be-
deutet, das haben unsere Friedenspolitiker von vorneherein be-
dacht. Und daß mehr Macht der Nation mit Panzern und Soldaten zu
tun hat, darüber brauchen sie gar nicht erst nachzudenken. Wer
anders als der, der das will, übt denn Zurückhaltung, wenn er
vorläufig noch auf die Ausdehnung der NATO-Präsenz bis an die
Oder-Neiße-Linie verzichtet?
Die deutsche Wiedervereinigung ist die Verwirklichung eines impe-
rialistischen Programms, das die Bundesrepublik, seit es sie
gibt, verfolgt. Deshalb wirft die sich abzeichnende Lösung der
deutschen Frage lauter Sicherheitsfragen auf - von Grenzfragen,
den polnischen Nachbarn betreffend, über weltpolitische Probleme,
die eine Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses zwi-
schen West und Ost mit sich bringen, bis zu der konkreten Frage,
über welche Militärmacht das neue größere Deutschland verfügen,
wie weit nach Osten es mit seinen Truppen gehen darf und ob es
Deutschland erlaubt bleibt, mit der NATO und in der NATO Außenpo-
litik zu machen, wenn es seine Vergrößerung bekommt. Noch ist es
nicht soweit, daß die deutsche Mittelmacht, der ökonomische
Riese, die Vormacht in Europa allein bestimmen könnte, wie sie
ihre Macht und den Zuwachs an Macht militärisch untermauert und
strategisch absichert. Die Erfolge des deutschen Imperialismus
hängen noch ab von der NATO und von der Sowjetunion, die es ja
auch noch gibt. Letztere freilich eröffnet den wiedervereinigten
Deutschen enorme Perspektiven.
Das moderne Sicherheitskonzept der Sowjetunion:
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- militärischer Rückzug aus Europa
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- ein Placet für ein deutsches Zusammenwachsen
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- eine neue Friedensstruktur für Europa
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Die Sowjetunion hat im Zuge ihrer Perestroika auch einen Umbau
ihrer Militärpolitik vollzogen. Die Weltmacht Nr. 2 definiert
i h r e bisherige Außenpolitik als die Ursache der immer noch
währenden Konfrontation zwischen dem östlichen und westlichen La-
ger. Die zweite Supermacht ist dabei, an so gut wie allen Fronten
der Militärstrategie Rückzüge vorzunehmen, um so ihre - von ihr
selbst so kritisierte "Machtpolitik" als den von ihr eingeschätz-
ten Grund des unseligen Ost-West-Gegensatzes tatsächlich und für
alle Welt sichtbar zurückzunehmen. Gegenüber Osteuropa prakti-
ziert Moskau die weitestgehende Revision der alten Doktrin, wo-
nach neben der glaubwürdigen Atomkriegsdrohung die Präsenz kon-
ventioneller Truppen für die Sicherheit der Sowjetunion sorgt und
für ihren weltpolitischen Einfluß dort, wo sie stehen. Die So-
wjetunion gibt ihr Glacis in Osteuropa auf: Radikal Schluß ge-
macht wird mit der Breschnew-Doktrin, nach der den Staaten des
Warschauer Pakts nur eine begrenzte Souveränität zugedacht war.
Jetzt sollen die osteuropäischen Länder ihren eigenen nationalen
Weg gehen, und das heißt sehr viel mehr, als - was bisher schon
erlaubt war - ihre nationale Besonderheit im Bündnis einbringen
zu dürfen. Ökonomisch werden diese Staaten aus der Abhängigkeit
des RGW entlassen und dürfen sich nach westlichem Vorbild ihr
Wirtschaftssystem schaffen; sicherheitspolitisch hat der War-
schauer Pakt faktisch seine Funktion verloren; auf die freige-
setzten Staaten kann kein Verlaß mehr sein, und die Sowjetunion
setzt auch gar nicht mehr auf sie als militärische Verbündete:
Aus Ungarn und der Tschechoslowakei werden die sowjetischen Trup-
pen abgezogen, mit Polen wird darüber verhandelt. Ausgerechnet
auf dem Gebiet des Staates, der noch DDR heißt und in Kürze zur
Bundesrepublik gehört, sollen die 280.000 sowjetischen Truppen
noch verbleiben. Fragt sich nur, wofür: Stehen sie doch in einem
fremden Land, abgeschnitten und weit entfernt vom Mutterland Ruß-
land.
Der Rückzug der Sowjetunion ist radikal. Die zweitgrößte Militär-
macht der Erde verzichtet auf die vorgeschobene Front mitten in
Europa, auf ihr bisheriges militärisches Aufmarschgebiet im Osten
Europas. Sie gibt damit eine bedeutende geostrategische Position
auf und zieht sich, militärstrategisch gesehen, hinter ihre Gren-
zen zurück.
Freilich will damit der russische Bär, der sich zur Freude des
Westens selbst seine Tatzen beschneidet, nicht sein Sicher-
heitsinteresse in und an Europa überhaupt aufgeben. Es wird an-
ders als bisher definiert - und zwar widersprüchlich: Die militä-
rische Kontrolle über den Ostblock gilt seit neuestem im Kreml
als Last. Die Erhaltung der entsprechenden strategischen Position
wird an ihrem Preis gemessen, an ihren wirklichen Kosten wie an
der Vorstellung, mit dem militärischen Aufbau in Osteuropa würde
die Sowjetunion sich überhaupt Sympathien ihrer Nachbarvölker
verscherzen und die Feindschaft des Westens verdienen. Deswegen
erscheint der sowjetischen Regierung viel einseitige Abrüstung
als gute Sicherheitspolitik. Einseitige Entwaffnung kommt für sie
aber auch nicht in Frage. Die neuen Denker im Kreml scheinen noch
zu wissen, daß auch die weitestgehende Friedensdiplomatie nur
klappt, wenn eine Militärmacht mit ihrem Abschreckungspotential
dahintersteht. Umgekehrt möchten sie mit ihrer Militärmacht nicht
mehr anfangen, als für ihren Abbau diplomatische Sicherheiten
einzutauschen. Die Sowjetunion leistet sich den Widerspruch, das
Lebensmittel jeder Außenpolitik, die Grundlage jeder Diplomatie,
die militärische Macht, zu reduzieren, um per Diplomatie mehr Si-
cherheit zu erreichen. Der militärische Rückzug aus Europa soll
geradezu dazu führen, daß auf dem Wege der diplomatischen Verein-
barung zwischen den USA, der Sowjetunion und den europäischen
Staaten eine "europäische Sicherheitsstruktur", noch besser: eine
"europäische Friedensstruktur", noch schöner: ein "europäisches
Haus" zustandekommt, was endgültig den gefährlichen status quo
der Konfrontation beendet.
Um die Verwirklichung eines Ideals der Staatenkonkurrenz streiten
sich die Anhänger der Perestroika im Kreml mit ihren Feinden. Sie
erbringen Vorleistungen, die auf den guten Willen der Gegenseite
berechnet sind, ohne daß man auf ihn bauen könnte. Sie machen
sich von einem diplomatischen Entgegenkommen ihrer Kontrahenten
abhängig, für das sie selber mit einer Kombination von Warnungen
und der Räumung eigener Positionen sorgen müssen.
Diese widersprüchliche Politik einer zum N a c h g e b e n be-
reiten W e l t m a c h t wird schön deutlich am sowjetischen
Umgang mit der deutschen Wiedervereinigung, die für die Deutschen
in West und Ost inzwischen ausgemachte Sache ist. Da akkumuliert
die russische Außenpolitik Widersprüche, daß die Geschichte, die
ja bekanntlich vor Widersprüchen nur so trieft, kaum mehr nach-
kommt:
1. Gorbatschow entnimmt seiner Perestroika, daß es unpassend ist,
der sozialistischen DDR, so wie sie seit 40 Jahren geht und
steht, eine russische Beistandsgarantie zu geben.
2. Die Geschichte läßt sich nicht aufhalten: DDR kaputt, Mauer
weg, Wiedervereinigung auf der Tagesordnung. Kohl macht seinen
Stufenplan.
3. Gorbatschow kontert:
"Die deutsche Frage steht nicht auf der Tagesordnung."
Er vergißt aber nicht zu sagen:
"Die Geschichte wird über die Zukunft Europas entscheiden."
4. Nachdem der Kreml-Chef die DDR längst den Imperialisten über-
lassen hat, fällt ihm dann doch noch die Sicherheit der So-
wjetunion ein. Ob das nicht zu spät war?
"Wir unterstreichen mit aller Entschiedenheit, daß wir die DDR
nicht im Stich lassen; sie ist unser strategischer Verbündeter
und ein Mitglied des Warschauer Pakts. Es muß von den nach dem
Krieg entstandenen Realitäten ausgegangen werden, zu denen die
Existenz zweier souveräner deutscher Staaten zählt. Ein Abrücken
davon bringt die Gefahr einer Destabilisierung Europas mit sich."
(Vor dem Zentralkomitee am 9.Dezember 1989)
5. Gorbatschow überrascht:
"Und nun setzte sich die Geschichte unerwartet schnell in Bewe-
gung." (Prawda, 21.2.)
6. Gorbatschow reagiert auf diese Geschichte:
"Im Hinblick darauf bekräftigen wir ein weiteres Mal, daß die
Deutschen selbst zu bestimmen haben wie, zu welchen Fristen und
in welchen Formen ihre Vereinigung vor sich gehen soll." (ebenda)
7. Gorbatschow greift in die Geschichte ein, indem er das "Recht
der Deutschen auf Einheit" (ebenda) höflich behandelt:
"Bei allem Respekt vor ihrem nationalen Recht ist die Situation
doch so, daß man sich nicht vorstellen kann, daß sich die Deut-
schen untereinander einigen und danach allen anderen vorschlagen,
nur noch die von ihnen gefaßten Beschlüsse zu billigen." (ebenda)
8. Gorbatschow bemerkt - und pfeift schon wieder auf die Ge-
schichte -, daß das Recht der Deutschen "nur eine Seite des Pro-
blems und auch nicht das einzige" ist:
"Ferner muß von vornherein klar sein, daß weder der Prozeß der
Annäherung zwischen der BRD und der DDR selbst, noch ein geeintes
Deutschland eine Bedrohung oder Beeinträchtigung der nationalen
Interessen der Nachbarn und überhaupt irgendeiner anderen Seite
mit sich bringen darf. Ausgeschlossen ist natürlich auch jede In-
fragestellung der Grenzen anderer Staaten." (ebenda)
9. Der Kreml-Führer weiß also nicht - oder will das nicht wissen
, daß das Recht der Deutschen auf ihre Wiedervereinigung
s e l b s t die imperialistische Bedrohung ist und nicht erst
eine mögliche F o l g e dieser Wiedervereinigung. Dabei kann er
sich an den Folgen der geschichtlich anstehenden Veränderung in
Mitteleuropa sogar vorstellen, daß die ganze weltpolitische Kon-
stellation zuungunsten Rußlands verändert wird:
"Folglich muß auch eine Vereinigung Deutschlands unter Berück-
sichtigung dieser Gegebenheiten vor sich gehen, und zwar der Un-
zulässigkeit einer Störung des militärstrategischen Gleichge-
wichts dieser beiden internationalen Organisationen." (ebenda)
10. Gorbatschow denkt an die NATO, seinen Warschauer Pakt hat er
ja quasi abgeschafft, und wünscht sich von der, daß sie eine mehr
"politische Rolle" erfüllen möge. Der Kreml-Chef stellt sich so
eine "Auflösung der Blockkonfrontation" vor und ein neutrales
Deutschland als Hauptelement einer neuen "europäischen Friedens-
struktur".
11. Gorbatschow erfährt, daß die Anschlußstrategen der Bundesre-
publik Deutschland diese am liebsten ganz in der NATO belassen
wollen, und daß die NATO-Verbündeten der Deutschen das auch so
sehen.
12. Der sowjetische Außenminister warnt:
"Das Gespenst des Revanchismus geht in Europa Arm in Arm mit den
Ideen der Einheit und Vereinigung um, der Durst nach Gerechtig-
keit mit dem Durst nach politischer Rache."
13. Gorbatschow entwarnt ein wenig und bemüht dafür die Weltöf-
fentlichkeit:
"Wichtig ist natürlich auch, daß nicht nur von der Öffentlichkeit
der BRD und der DDR, sondern auch auf offizieller staatlicher
Ebene vor der ganzen Welt mehr als einmal erklärt wurde: Von
deutschem Boden darf niemals mehr ein Krieg ausgehen. Und im Ge-
spräch mit mir hat Helmut Kohl eine Erläuterung dieser Formel ge-
geben, die zu noch mehr verpflichtet: Von deutschem Boden darf
nur Frieden ausgehen." (Prawda, 21.2.)
14. Auf die Frage, ob eine Mitgliedschaft eines vereinten
Deutschland in der NATO von der Sowjetunion akzeptiert werde,
antwortet Gorbatschow mit einem eindeutigen "Njet". Zugleich be-
fürwortet er zum x-ten Male das Recht der Deutschen auf Wieder-
vereinigung. Ein außenpolitischer Berater des russischen Präsi-
denten sieht im Verbleiben Deutschlands in der NATO eine
"positive Funktion". Teile des Warschauer Pakts sehen das auch
so.
Mit dieser Methode benennt die sowjetische Politik keine Grenzen
mehr, auf denen sie im Interesse ihrer Sicherheit beharrt. Sie
definiert nicht mehr wo ihre Bereitschaft aufhört, westlichen An-
sprüchen nachzugeben. Und das liegt zunächst einmal durchaus in
der Logik der neuen sowjetischen Außenpolitik: Mit dem Verzicht
auf jede machtpolitische Drohung soll ja die bisherige Konfronta-
tion in Europa ihr Ende finden. Dann aber erscheint den russi-
schen Friedensstrategen jedes Beharren auf einer militärischen
Position, was ihnen immer dann einfällt, wenn sie die frechen An-
sprüche des Westens bemerken, wie ein Rückfall in "altes Denken".
Immanent ist der Widerspruch des neuen sowjetischen Friedenspro-
gramms für Europa ja auch nicht aufzulösen. Die Satelliten-Länder
der Sowjetunion sind faktisch aus dem Bündnis mit Moskau entlas-
sen. Diese Bruderstaaten von gestern haben ihre sozialistische
Staatsraison fallengelassen, basteln an einer neuen nach westli-
chem Vorbild und neigen allesamt sehr dazu, sich außenpolitisch
dem Westen zuzuwenden. Die DDR strebt den Anschluß an die BRD an,
obwohl sie das so nicht genannt haben möchte. Und alle diese Län-
der werden von den Wirtschaftsmächten und der Militärmacht der
NATO umworben, daß sie sich gefälligst zu entscheiden hätten, wo-
hin sie gehören, wenn sie in ihrem nationalen Interesse noch et-
was wollen. Damit - und nicht erst seitdem die Sowjetunion ihre
Truppen aus mehreren dieser Länder abzieht - wird das Beharren
der Sowjetunion auf der formellen Mitgliedschaft der Länder Ost-
europas im Warschauer Pakt bodenlos.
Dort, wo die Sowjetunion ihre Truppen belassen will - etwa im
östlichen Teil eines Deutschland, dessen westlicher Teil zur NATO
gehört? -, kann ihre isolierte militärische Präsenz nur mehr sym-
bolischen Charakter haben: russisches Militär als Garant, und
b l o ß das, für das Zustandekommen und die Einhaltung von Ver-
einbarungen, mit denen der Kreml Frieden für Europa und Sicher-
heit für die Sowjetunion anstrebt. Demgegenüber haben die Truppen
der USA in Westdeutschland weiter einen eindeutig militärischen
Auftrag im Programm der NATO. Die Sache, deutsche Wiedervereini-
gung, hat nur noch einen Haken. Und das wissen die NATO-Strategen
genauso wie die deutschen Einigungs-Politiker: die Position der
Sowjetunion. Aber diese Position hat längst nichts Ultimatives
mehr. Einerseits wird der Vereinigung der Deutschen aus russi-
scher Sicht recht gegeben, weil so eine Nahtstelle der Konfronta-
tion getilgt werde. Andereiseits soll daraus aber kein Vordringen
der NATO nach Osten werden - was aber die Auflösung des Ostblocks
längst ist -, also das russische Sicherheitsinteresse gewahrt
bleiben. Die sowjetische Forderung nach einem neutralen Deutsch-
land ist kein russisches "Njet" gegenüber jeder anderen "Lösung"
der deutschen Frage. Immerhin hat Moskau den Verhandlungen "2 +
4" zugestimmt. Immerhin werden da die 4 Siegermächte des Zweiten
Weltkriegs und zwei deutsche Verlierer über die anstehende Revi-
sion des Ergebnisses des letzten großen Kriegs beratschlagen. Da
freut sich die NATO, daß die Veränderung des Kräfteverhältnisses
in Europa schon feststeht und sich der Einspruch der Sowjetunion
auf die ebenso matten wie beliebten Fragen des Tempos beschränkt.
Die Bereitschaft der Sowjetunion, ihre Macht zurückzunehmen oder
im Verhandlungspoker nicht zu nutzen, wird dankend entgegengenom-
men.
Deutsche Wiedervereinigung - ein durchschlagender Erfolg
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der NATO. Ihre neue Parole: mächtig auf der Hut sein und
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den Sieg kontrolliert heimbringen.
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Mit dem militärischen Rückzug der Sowjetunion aus Osteuropa, mit
der anstehenden Heimholung des östlichen Frontstaats ins west-
deutsche Reich hat die NATO einen grandiosen Teilsieg errungen.
Das Ziel der NATO-Strategie für Europa ist im Grunde erreicht.
Das Programm des "Containment" des russischen Expansionsdrangs
kann endgültig ad acta gelegt werden - viel mehr ist gewonnen:
Ohne daß ein NATO-Panzer hat losfahren müssen, ist das östliche
militärische Bündnis zerbröckelt, die militärische Zuständigkeit
bis an die Grenze Rußlands vorgeschoben und Europa "befreit" wor-
den.
Sehr zu Unrecht heften sich die NATO-Strategen diese für sie so
erfreuliche neue Lage als ihren Erfolg an die Brust, indem sie
darauf verweisen, daß nur die solidarische und standhafte Erhal-
tung der Verteidigungskraft des westlichen Bündnisses die Ent-
wicklung in Osteuropa und der Sowjetunion erst ermöglicht habe.
Aber das kennt man ja von diesen Burschen. Bemerkenswerter ist,
daß die NATO - sehr im Unterschied zur Sowjetunion, die gewaltige
Vorgaben der Abrüstung und des militärischen Rückzugs macht -
erst einmal ob der neuen Lage keinen Grund sieht, an der militä-
rischen Planung, an der Strategie, am Bündnis überhaupt etwas zu
ändern. Immer hat die NATO aus der Bedrohung durch die So-
wjetunion und ihren Warschauer Pakt ihr Existenzrecht abgeleitet.
Jetzt geben die Herren des westlichen Bündnisses sogar zu, daß
die Sowjetunion zu einem Überraschungsangriff gar nicht mehr fä-
hig ist, daß Verbündete im Warschauer Pakt "im militärischen Sinn
nicht mehr als Verbündete funktionieren" und daß das "Aufmarsch-
feld" der Roten Armee problematisch geworden ist. Das soll aber
an der Wachsamkeit, also an der Notwendigkeit des westlichen
Pakts im Grunde nichts ändern.
"Es wäre ein schwerwiegender strategischer Irrtum, für den Fall
einer zunehmenden Erosion des Warschauer Pakts quasi im Gegenzug
die NATO zur Disposition zu stellen." (Verteidigungsminister
Stoltenberg)
Ohne Begründung! Offenbar gehört es zur Machtpolitik, daß sie
selbst ihr hinreichender Grund ist. Dennoch sind Strategen von
dem gleichen Kaliber in der Lage, auf demselben Felde konkreter
zu argumentieren.
"Heute haben wir eine militärisch starke Sowjetunion und viel Un-
ruhe in Osteuropa. Was die potentiellen militärischen Gefahren
angeht, ist die Situation in gewisser Weise mit der vergleichbar,
in der die NATO gebildet wurde. Damals passierten im Grundsatz
die gleichen Dinge. Die NATO war die Antwort darauf. Ich finde,
daß sie noch immer eine exzellente Antwort auf Unvorhersehbares
ist und auf die Möglichkeit der Instabilität im Europa von heute
sein kann, besonders auf die in Osteuropa. Wenn Osteuropa und die
Sowjetunion in Unruhe sind, und die Situation ist nicht ganz vor-
hersehbar, was sollten wir dann tun? Wir sollten sehr berechenbar
sein, sehr stabil. Und woher bekommen wir die Stabilität? Auf die
gleiche Weise wie in den letzten Jahren: mit der Allianz."
(General Galvin, NATO-Oberbefehlshaber Europa)
Das ist absolut gedacht, einmal gegenüber der natürlich zur
Kenntnis genommenen Veränderung des militärischen Kräfteverhält-
nisses in Europa; dann gegenüber dem Feind überhaupt. Schwäche
und Stärke des Gegners der NATO sind gleichermaßen Grund für ge-
diegene "Abschreckung und Verteidigung" (derselbe). Entgegen an-
derslautenden Gerüchten stimmt das Feindbild der NATO also immer
noch. Und neben dem alten Grund für ein starkes Bündnis - "Die
Erfahrung lehrt, daß wir wachsam bleiben müssen" (NATO-Erklärung,
Mai 1989) - wissen die Rechner aus den NATO-Zentralen neue Aufga-
ben für ihren Pakt, die der schon erreichte Erfolg erfordere.
"Wir dürfen niemals vergessen, daß eine neue europäische Ordnung
nur möglich ist auf der Grundlage weiterhin gesicherter Verteidi-
gungsfähigkeit in einem handlungsfähigen Bündnis."
(Verteidigungsminister Stoltenberg)
Jetzt sind es also sowjetische Streitkräfte, denen niemand von
den hiesigen Strategen mehr einen Angriff zutraut, vor denen die
NATO mit überlegeneren Kräften auf der Hut sein muß. Jetzt muß
sich die NATO mit aller Gewalt vor der Möglichkeit unberechenba-
rer politischer Entwicklungen in der Sowjetunion vorsehen. Jetzt
muß die NATO stark sein, um den Prozeß der Erneuerung und Demo-
kratisierung in Osteuropa als den Fortschritt der westlichen Ein-
flußnahme auf diese Länder zu garantieren und zu kontrollieren.
Die Herrschaften der NATO geben praktisch zu, daß ihr Militär-
bündnis zu mehr da ist, als zur Verhinderung eines Angriffs aus
dem Osten. Es geht ihnen um die Erledigung der Sowjetunion als
konkurrierende Weltmacht: Für die Durchsetzung westlicher Inter-
essen allüberall, für Einfluß und Kontrolle auf dem gesamten Glo-
bus, für dieses anspruchsvolle imperialistische Programm wird ein
Machtmonopol für unerläßlich gehalten.
Aus diesem Grunde ist ein neutrales, gar ein entmilitarisiertes
vereintes Deutschland für den westlichen Pakt nie eine überle-
genswerte Frage gewesen. Der sowjetische Vorschlag, so ein verei-
nigtes Deutschland in eine europäische Friedensstruktur einzubet-
ten, wird von den Friedensfreunden des Westens für unmöglich er-
klärt und abgelehnt. Die aberwitzigen Begründungen für diese Ab-
lehnung stehen nur dafür, was die verbündeten westlichen Militär-
mächte w o l l e n: Deutschland muß in der NATO bleiben.
"Ein freischwebendes neutrales Deutschland kann angesichts seiner
geostrategischen Lage und seines politischen, wirtschaftlichen
und militärischen Machtpotentials aus der Sicht aller Bünd-
nispartner ebenso wie auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der
Sowjetunion keine Lösung sein." (NATO-Generalsekretär Wörner)
Allen anderen Staaten und - ausgerechnet auch der Sowjetunion
soll es gut bekommen, wenn ein nach Osten ausgedehntes Deutsch-
land die Macht und die Reichweite der NATO stärkt und die neue
Großmacht Deutschland weiterhin die Potenz der NATO an ihrer
Seite weiß. Generäle und Politiker des westlichen Bündnisses ver-
suchen penetrant zu beweisen, daß ihr Interesse am Verbleiben des
vereinten Deutschland in der NATO "Stabilität in Europa" sichern
würde - und lassen dabei keinen Zweifel, daß sie Stabilität mit
ihrer militärischen Machtvollkommenheit gleichsetzen. Ein neutra-
les Deutschland, das erscheint den NATO-Strategen wie eine unsin-
nige Aufgabe eines schon erreichten Erfolgs.
Das Programm der NATO, den militärischen Rückzug der Sowjetunion
unumkehrbar zu machen, hat freilich noch eine andere Seite: Ei-
nerseits wird auf einer starken NATO und der Fortsetzung ihrer
Abschreckungspolitik bestanden; andererseits geht die westliche
Allianz auf die diplomatischen Vorstöße der Russen, die für diese
den Erfolg ihrer neuen Sicherheitspolitik erbringen sollen, ein
und berücksichtigt "berechtigte" Sicherheitsinteressen, wie sie
die Sowjetunion in der von ihr selbst veränderten Lage anmeldet.
Die westliche Diplomatie ist bemüht, alles zu vermeiden, was dem
raschen Fortschritt der neuen sowjetischen Außenpolitik Abbruch
tun könnte. Man will von sich aus keinen Vorwand liefern, der die
Sowjetunion dazu veranlassen könnte, bei der Rücknahme ihrer mi-
litärischen Bedrohung innezuhalten. Westliche Diplomaten und Ge-
neräle der NATO tun - wie früher einmal - die einseitigen Abrü-
stungsschritte, die Maßnahmen einer Demobilisierung des War-
schauer Pakts längst nicht mehr als bloße Scheinmanöver ab, son-
dern anerkennen großzügig die Schwächung der sowjetischen Mili-
tärmacht durch Moskau selbst als echten Beitrag zum Abbau der
Konfrontation und zur Sicherung des Friedens. Dem Wunsch der So-
wjetunion nach baldigen Vereinbarungen in Sachen Abrüstung der
atomaren und chemischen Waffen und Truppenreduzierung in Europa
wird ohne grundsätzliche Einwände entsprochen. Daß KSZE und die
Konferenz "2 + 4" im Herbst über die deutsche Einheit zu befinden
haben, ist auch schon beschlossene Sache.
In der Frage der Modalitäten einer deutschen Vereinigung erkennt
die NATO ein besonderes Sicherheitsinteresse der Sowjetunion an,
heißt es in den diplomatischen Verlautbarungen des Westens. In
dieser Hinsicht gehen die Verbündeten der Deutschen so weit, den
Russen einen trickreichen Kompromißvorschlag anzubieten: Zwar
soll das künftige Deutschland Mitglied der NATO bleiben, ohne daß
aber Truppen der Allianz auf dem Gebiet der heutigen DDR statio-
niert würden. Und selbst mit der von den Deutschen erfundenen
Idee können sich NATO-Politiker anfreunden, daß nämlich für eine
Übergangszeit auf dem östlichen Territorium des neuen Gesamt-
deutschland, das Mitglied der NATO ist, noch russische Truppen
verbleiben. Diese absurd erscheinenden Konstruktionen sind Pro-
dukt der neuen Konstellation zwischen Ost und West: Gegenüber dem
festen Willen der Sowjetunion, sich als Militärmacht aus Osteu-
ropa zurückzuziehen, dafür aber politische Sicherheitsgarantien
zu fordern, erscheint es dem Westen als kein zu hoher Preis, für
die Absicherung der Veränderung des Kräfteverhältnisses in Europa
- und die deutsche Vereinigung i s t ein wesentliches Stück
dieser Veränderung -, Moskau diplomatisch entgegenzukommen. Ein
NATO-freies Gebiet in NATO-Deutschland, Feindtruppen im freien
Gesamtdeutschland - Ost - das sind quasi verkörperte und damit
besonders unterstrichene Garantieerklärungen an die Adresse der
Sowjetunion. Das sowjetische Sicherheitsinteresse soll mit dem
Verzicht auf die Präsenz von NATO-Truppen in Ostdeutschland, mit
der Zulassung russischer Truppen auf ehemaligem DDR-Gebiet fun-
diert bedient werden. Mehr aber auch nicht. Denn Voraussetzung
dieser Zugeständnisse ist, daß Deutschland nicht neutral wird,
sondern in der NATO bleibt, also die NATO die Reichweite ihrer
militärischen Souveränität grundsätzlich nach Osten ausdehnt. Und
es ist keine Frage, in welche Richtung das widersprüchliche Si-
cherheitsvertragswerk - sollte es so oder so ähnlich zustandekom-
men - auf seine Auflösung drängt. Nicht wegen des Völkerrechts,
sondern weil der neue deutsche Staat selbstverständlich das Recht
für sich in Anspruch nimmt, unbedingte Souveränität über ganz
Deutschland auszuüben, also auch in militärischer Hinsicht die
ganze Hoheit zu besitzen.
Russische Politiker, aber auch westliche Zeitgenossen liegen gar
nicht so falsch, wenn ihnen heute die 1936 vollzogene Besetzung
des vom Versailler Vertrag zur entmilitarisierten Zone erklärten
Rheinlands durch deutsche Truppen einfällt.
Das deutsche Sicherheitsinteresse:
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Mit der NATO zu einem stabilen deutschen Europa
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In den 50er Jahren wies die Bundesrepublik alle Vorschläge Mos-
kaus für eine deutsche Wiedervereinigung mit neutralem Status zu-
rück mit der Begründung, daß ein entmilitarisiertes Deutschland
ohne Rückhalt in einem Militärbündnis des Westens hilflos dem
russischen Expansionsdrang ausgesetzt wäre. Heute, da die Wieder-
vereinigung kommt, wird das Konzept eines neutralen Deutschland
abgelehnt, weil ein "zwischen Ost und West schwankendes Deutsch-
land die Stabilität Europas gefährde" (Kohl). Deutsche Einheit,
das ist eben überhaupt kein Selbstzweck. Die Bundesrepublik ver-
folgt mit der Eingemeindung der DDR allein das imperialistische
Ziel, als deutscher Staat an Macht zu gewinnen in der Konkurrenz
der Staatenwelt. Deshalb ist die Begründung der Ablehnung eines
neutralen Deutschland von gestern genauso verlogen, wie die von
heute.
Daß es darum geht, Deutschland zu einer europäischen Großmacht
auszubauen, das wissen die Politiker in Bonn ganz genau. Ebenso
sind sie sich darüber im klaren, daß das für die verbündeten
Staaten im Westen, für den Ostblock und den Feind Sowjetunion
sehr viel bedeutet. Dabei steht nicht einmal der Aspekt im Mit-
telpunkt der Auseinandersetzung um den Modus des neuen Deutsch-
land, daß den konkurrierenden anderen Staaten ein noch größerer
ökonomischer Riese erwächst. Gleich ist die abstrakteste und
grundsätzlichste Frage der Nation auf dem Tisch, die Gewaltfrage.
Wer denn, wenn nicht der, der sie stellt, fühlt sich bemüßigt,
immer wieder - zu erklären, daß Deutschland die Rechte der ande-
ren Nationen achten will? Woher kommt der Erklärungsbedarf?
"Wir müssen neue, übergreifende Sicherheitsstrukturen aufbauen.
Das heißt für uns Deutsche:
- Wir achten die berechtigten Sicherheitsinteressen aller europä-
ischen Länder, gerade auch der Sowjetunion,
- und wir respektieren die Sicherheitsbedürfnisse und die Gefühle
aller Europäer, selbstverständlich und vor allem auch unserer
Nachbarn." (Regierungserklärung des Bundeskanzlers)
Die befreundeten Konkurrenten der Deutschen im Westen und der
Feind im Osten, der mit seinen Truppen noch in der DDR steht,
kriegen natürlich mit, was da mitten in Europa auf sie zukommt.
Auf Freund und Feind, auf alle also, die auch noch etwas zu sagen
haben, richtet sich die bundesdeutsche Beschwichtigungspolitik,
damit die deutsche Einheit bald unter Dach und Fach ist. Der Gen-
scherismus hat Hochzeit, diese Tour der bundesdeutschen Außenpo-
litik, als dickwolliges Schäflein mit lauter Friedensabsichten
überall aufzukreuzen, um Rechte anzumelden, die im Interesse al-
ler lägen, über die sich also kein realistisch denkender Staats-
mann hinwegsetzen könne.
Der N A T O gegenüber bzw. ihren Verbündeten geben die Bonner
Herren zu verstehen, daß die Expansion des deutschen Staats, die
sie natürlich Wiedervereinigung nennen, nur der Sache der NATO
diene, nämlich dem Aufrollen des Ostblocks. Und das ist ja auch
nicht zu bezweifeln, daß der Anschluß des ehemaligen Frontstaats
des Ostens die Speerspitze der Allianz weiter in den Ostblock
hineintreibt, als es auf der Landkarte den Anschein hat, und den
Deutschen eine noch bessere Position als bisher verschafft, die
Aufgabe des Bündnisses zu erfüllen, die Länder Osteuropas ins
westliche Lager zu ziehen und unter die Kontrolle dieser Wertege-
meinschaft zu bringen. Nur ist das bei weitem nicht das ganze In-
teresse der Bundesrepublik: Sie will ihre Souveränität ausweiten
und ihre Machtmittel vermehren. Dafür, also auch dafür, daß die
Stellung Deutschlands in der NATO an Gewicht gewinnt, wissen
westdeutsche Politiker das immer noch nicht zuende gebrachte Pro-
gramm des westlichen Militärbündnisses zu instrumentalisieren -
und erklären ihre unverbrüchliche Treue zum westlichen Bündnis.
Gegen den naheliegenden Verdacht, daß sich da ein deutsches Son-
derinteresse breit macht, wird die übertreibende und historisch
vergleichende Kritik "Gefahr eines deutschen Sonderwegs" aufge-
nommen, um sie um so leichter zurückweisen zu können mit einer
erneuten Bekräftigung der treuen Zugehörigkeit Deutschlands zum
Bündnis, so als wären damit dem nationalen Interesse der deut-
schen Großmacht straffe Zügel angelegt.
"Deutschland im festen Bündnis mit freiheitlichen Demokratien und
in zunehmender politischer und wirtschaftlicher Integration in
der Europäischen Gemeinschaft ist der unerläßliche Stabilitäts-
faktor, den Europa gerade auch in seiner Mitte braucht."
(Regierungserklärung des Bundeskanzlers)
Die Bundesregierung bekommt von ihren Verbündeten, was sie will:
die Unterstützung für die Vereinigung Deutschlands und die Zu-
sage, daß das neue Deutschland Militärmacht bleiben soll.
"Berechtigte Ängste" westeuropäischer Nachbarn vor einer deut-
schen Großmacht werden mit dem Hinweis auf die Mitgliedschaft in
der NATO und in der EG besänftigt. Weil die westeuropäischen
Partner bisher schon nicht an der ökonomischen und politischen
Macht der BRD vorbeikommen, lassen sie sich von den Deutschen den
Unterschied zwischen einem "europäischen Deutschland" und einem
"deutschen Europa" erklären, obwohl es den gar nicht gibt.
In die Sowjetunion fahren höchste deutsche Politiker mit dem
Rückhalt der NATO im Gepäck und rechnen damit, daß Gorbatschow
sein "neues Denken" in der Außen- und Militärpolitik fortsetzen
wird. Den Russenchef wegen seiner Friedenspolitik per Rückzug zu
loben, macht sich immer gut. Dieses "Macht so weiter! " läßt sich
sogar mit frechen Ansprüchen der Bundesrepublik verbinden.
"... haben Geralsekretär Gorbatschow und ich sowie Bundesaußenmi-
nister Genscher und Außenminister Schewardnadse - die wohl
schwierigste Frage angesprochen: die Zukunft der Bündnisse. Ich
habe meine Überzeugung ausgedrückt, daß auch bei vernünftiger
Würdigung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion ein künftiges
Deutschland
- nicht neutralisiert oder demilitarisiert werden darf - dies
ist, kurz gesagt, "altes Denken" -,
- sondern daß wir im westlichen Bündnis eingebunden bleiben sol-
len und wollen." (Regierungserklärung des Bundeskanzlers)
Klar, was "wir" vom Feind wollen; seine Zustimmung zu einem mili-
tärisch starken Gesamtdeutschland, das ist nichts als sein "neues
Denken". Den nicht geringen russischen Vorbehalten gegen ein ge-
eintes Deutschland in der NATO begegnen Kohl und Genscher mit der
trickreichen Variante, daß das Aufkommen alter nationalstaatli-
cher deutscher Unarten am besten durch die Einbindung Deutsch-
lands in ein Militärbündnis verhindert werden könne. So soll aus-
gerechnet eine vergrößerte Militärmacht, die zudem noch eine
ganze NATO hinter sich weiß, dem sowjetischen Sicherheitsinter-
esse entgegenkommen. Auch sonst gibt sich die Bundesrepublik
rücksichtsvoll gegenüber der immer noch großen Sowjetunion. NATO-
Streitkräfte auf (ehemaligem) DDR-Gebiet, die Bundeswehr in Sach-
sen, das braucht vorerst nicht zu sein. Ein kleiner Koalitions-
streit darüber belebt das ernste Spiel, wie man am geschicktesten
die Russen hereinlegt: Stoltenberg darf nicht mehr sagen, was
alle denken, daß nämlich seine Bundeswehr in ganz Deutschland
stehen soll. Gorbatschows Statement
"Die Deutschen selbst müssen die Frage der Einheit der deutschen
Nation lösen und selbst ihre Wahl treffen, in welchen staatlichen
Formen, in welchen Fristen, mit welchem Tempo und unter welchen
Bedingungen sie diese Einheit verwirklichen werden." -
wird von der Bundesregierung wie ein Durchbruch für den Erfolg
der Position der Bundesrepublik vorgestellt und gefeiert. Die
Westdeutschen setzen eben darauf, daß die Großmacht im Osten nach
dem Recht des deutschen Volkes auf Selbstvereinigung auch das
Recht des deutschen Volkes auf Selbstverteidigung anerkennt. Und
diese Kalkulation ist keineswegs hoffnungslos. Immerhin weiß die
BRD die NATO und insbesondere die drei westlichen Siegermächte
des Weltkriegs auf ihrer Seite.
*
Die noch real-existierenden Souveräne der DDR haben bei der Fest-
legung des militärischen Status im Grunde kein entscheidendes
Wort mehr mitzureden. Sicher, sie sind an der Deutschland-Konfe-
renz "2 + 4" beteiligt. Sie mögen für eine Entmilitarisierung
Deutschlands plädieren oder für ein "gesamtdeutsches Bundesheer
mit 150000 bis 100000 Mann" und für eine "stärker politische"
Funktion der beiden Bündnissysteme, wie der DDR-Verteidigungsmi-
nister Theodor Hoffmann. Aber die Politiker der DDR sind ja ent-
schlossen, ihre Souveränität an die Bundesrepublik abzugeben. Wo-
für sollen also ihre Vorschläge zur militärischen Ausstattung Ge-
samtdeutschlands gut sein? Eine Menge Politiker der DDR redet
auch schon genauso verantwortungsvoll daher wie die bundesdeut-
schen Freunde. Ja, wenn's um Deutschland geht!
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