Quelle: Archiv MG - BRD AUSSENPOLITIK ANSCHLUSS - Die Eroberung der DDR
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"Wir helfen der DDR"
HILFE ZUR SELBSTAUFGABE
Die Formel von der "Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit"
kündete 40 Jahre lang einerseits von dem Recht, die Freiheit,
also die Prinzipien kapitalistischer Produktion und Verteilung
mitsamt der dazugehörigen Sorte politischer Herrschaft, auch im
anderen Deutschland durchzusetzen; und zwar als Tat der westdeut-
schen Politik. Andererseits verriet sie auch das Bewußtsein, daß
dieser deutsche Traum eigentlich nur zu verwirklichen wäre mit
Gewalt, über die man - 'realistisch' betrachtet - nicht zur Ge-
nüge, auf jeden Fall nicht allein verfügt. Mit einem Schlag ist
aus der Phrase des Anspruchs das Projekt einer friedlichen Erobe-
rung geworden.
Die DDR öffnet sich: Nichts wie hin und her damit!
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Der Osten ist tot. Und was er braucht zur Wiederbelebung, das
weiß heute jedes Kind: eine Marktwirtschaft, genau wie bei uns,
mit freien - vom Unternehmer gestalteten - Preisen und einem
echten Geld, von dem nur wenige genug besitzen, damit seine Taug-
lichkeit zum Geschäftemachen nicht leidet. Mit Polen, Ungarn und
der DDR eröffnet sich dem geschäftstüchtigen Auge ein Territorium
gut doppelt so groß wie die Bundesrepublik mit einer Bevölkerung
von etwa 65 Millionen als Perspektive einer grandiosen Koloniali-
sierung durch die westliche Geschäftswelt.
Das Schöne daran - schließlich gibt es ungenutzte Flächen mit
hungernden Leuten drauf zuhauf auf der Welt -: es gibt auch alle
Bedingungen, unter denen sich die vielgerühmte Privatinitiative
entfalten kann: Eine Arbeiterklasse, also Menschen, die daran ge-
wöhnt sind, von Lohnarbeit zu leben. Die Organisation des Lebens,
die diese Klasse befähigt, ihren Dienst zu verrichten. Und ein
leidliches Funktionieren des Systems von Produktion und Vertei-
lung. Nur eines fehlt - die Verfügungsgewalt über all die schönen
Produktionsfaktoren. Ihre Verwandlung in Kapital steht noch aus.
Immerhin herrscht da großes Entgegenkommen von seiten der DDR.
Alle bekunden sie, neuerdings auch Jürgen Kuczynski, daß man "vom
Kapitalismus vieles lernen" könne und wolle. In der Volkskammer
verlangt ein Redner die "drastische Einschränkung der Planwirt-
schaft und die Einführung der sozialistischen Marktwirtschaft"
(Manfred von Ardenne, SED); daß Joint-Ventures, auf alle Fälle
aber erheblich mehr Geschäfte mit dem Westen sein müssen, kann
man mittlerweile auch im "Neuen Deutschland" täglich lesen. Vor
allem aber hat die Staatsführung selbst eine ebenso radikale wie
demonstrative Wende eingeleitet. Mit einer Personalpolitik, die
sich in ihrem Entstalinisierungseifer und ihrer vertrauenshei-
schenden Selbstkritik weder vor den Gorbatschowschen noch den
Stalinschen Säuberungen zu verstecken braucht. Mit einer Grenz-
öffnung, die in der westlichen Doktrin über das Verhalten östli-
cher Betonköpfe nicht einmal als Ding der Unmöglichkeit verzeich-
net war, weil sie sich keiner ohne Krieg hat träumen lassen. Mit
politischen Entscheidungen, die jahrzehntelange Forderungen gegen
das "Unrechtsregime" über Nacht gegenstandslos werden lassen, so
daß die Chefankläger für einen Moment fast in Schwierigkeiten ge-
raten. Mit einem Tempo, das die Presse veranlaßt, Nachtlager ein-
zurichten, um für "historische Augenblicke" gerüstet zu sein, und
echt demokratische Politiker vor einem zu f r ü h e n Termin
für allgemeine Wahlen warnen läßt.
Die DDR hat sich also mit einem rasanten Befreiungsschlag an die
Tabellenspitze der östlichen Bewerber um westliche Kapital"hilfe"
gesetzt. Sie empfiehlt sich als erste Adresse für Kapital und
Kredit, obwohl deren umfassende Kritik dort immer noch für gut 30
Mark zu haben ist. Und ihre Werbung, sie "verfüge" über "fleißige
und geschickte Arbeitskräfte", bekommt sie glatt von höchster
westlicher Stelle bestätigt:
"Kein Volk auf der Welt ist für die Marktwirtschaft so geeignet
wie das Volk der DDR." (Waigel, Bundesfinanzminister).
Auch wenn jetzt seit einigen Tagen von einem "Schuldendesaster"
die Rede ist, noch Mitte November wollte kein Handelsblatt etwas
davon wissen; die DDR galt und gilt unter Bankern als gute
Adresse:
"Polze (Präsident der DDR-Außenhandelsbank) hat mit fast 11 Mil-
liarden Dollar Guthaben bei westlichen Banken vorgesorgt...
Polzes konsequente Politik der vollen Devisenkassen der letzten
Jahre - oft ohne Rücksicht auf klaffende Importlücken der DDR-
Wirtschaft - dürfte heute den Reformern zugute kommen... Erstens
hat Ostberlin viel Geld in der Devisenkasse; zweitens kann die
DDR auf den internationalen Märkten, wenn auch zu etwas angezoge-
nen Konditionen, in noch erheblichem Maße Kredit aufnehmen, drit-
tens kann die DDR mit neuen Finanzhilfen der Bundesrepublik rech-
nen." (Volker Franzen, Sprecher des Bundeswirtschaftsministeri-
ums, in: "Handelsblatt", 14.11.)
Das 11 Mrd. Dollarguthaben wird nicht an kudammverrückte Trabi-
fahrer verteilt werden, wie es sich Rechenkünstler in den Wirt-
schaftsredaktionen aus lauter Sorge(rechtsgeilheit) um die DDR
ausmalen. Dann wäre bei "drittens" sicher nichts drin! Und
schließlich ist über den Mauertränen nicht zu vergessen, daß wäh-
renddessen brauchbare Waren über die Grenze rollen zum Nutz und
Frommen von 7000 bundesdeutschen Firmen, so daß so mancher Sachse
mit einer Mischung aus Stolz und Verbitterung feststellt, daß er
sich in westlichen Läden tatsächlich in der DDR hergestellte Ge-
räte kaufen k ö n n t e, die es drüben gar nicht g i b t.
So gesehen ist dieses Ersuchen der DDR nicht bloß ein Angebot wie
das der Polen und Ungarn auch, sondern geradezu ein Sonderange-
bot, das ganze Zonenrandgebiete auf den Kopf stellt, bei Indu-
strie-, Handels- und Handwerkskammern hektische Betriebsamkeit
auslöst und an der Börse Kaufhaus-, Automobil- und Baubranchen-
werte boomen läßt. Den Kapitalisten tut sich eine Gelegenheit
auf, die sie nicht auslassen können wollen, so daß sie sich
schon ein "neues Wirtschaftswunder" ausmalen, über das sich ga-
rantiert niemand mehr wundern wird.
Dabei ist nicht einmal bloß an eine Kolonie gedacht. Der politi-
sche Anspruch verheißt nicht nur ökonomischen Erfolg im Ausland,
sondern Integration ins "Mutterland". Und im Vorgriff aufs Ziel
werden gemeinsame Sozialprodukts- und Exportquoten hochgerechnet.
Der Bundeskanzler hat mit seinem 10-Punkte-Programm nach allge-
meiner Auffassung die deutsche Einheit vom bloßen Ideal zum poli-
tischen Programm befördert. Dieses Programm geht über die Schaf-
fung von Geschäftsmöglichkeiten und außenpolitische Einmischung
weit hinaus. Alles, was normalerweise so zwischen S t a a t e n
läuft, kriegt hier die Perspektive n a t i o n a l e
E i n h e i t. Darin hat auch der Ausbau der wirtschaftlichen
und politischen Beziehungen allein sein Maß.
Ein schönes Dilemma: Schadet das Hin nicht dem Her?
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Eins haben sie sofort gemerkt, die Politprofis hierzulande: Ihre
Kollegen im Osten haben mitgedacht. Alles, was die westdeutsche
Geschäftswelt sich als Gelegenheit in der DDR ausrechnet, sieht
die DDR-Führung als möglichen Beitrag zur Erhaltung und Sanierung
ihrer nationalen Ökonomie; eben genauso wie ihre realsozialisti-
schen Brüder in Warschau, Budapest und anderswo, die ihre
"Planwirtschaft" weg"reformieren", um ihrer Nation eine neue Zu-
kunft unter den Fittichen des Imperialismus zu verschaffen. So
auch Krenz:
"Bei der Überwindung der Wirtschaftsprobleme hält Krenz alle For-
men der Zusammenarbeit mit westlichen Ländern und Firmen, ein-
schließlich der Gründung von Gemeinschaftsunternehmen, für mög-
lich. Eine der vordringlichsten Aufgaben der Wirtschaftsreform
sei die Konvertibilität der Ostmark." (Süddeutsche Zeitung,
27.11.)
Allerdings kann er es nicht lassen, immer auch wieder zu betonen:
"Die DDR sei bereit, Ratschläge anzunehmen, wie 'unser Staat ef-
fektiver und attraktiver' werde. 'Aber wir sind nicht bereit, uns
die Bedingungen von irgendeinem anderen Land diktieren zu lassen,
besonders nicht von der Bundesrepublik.'" (ebd.)
Und nicht einmal auf einem Jubelparteitag der CDU in Nordrhein-
Westfalen läßt sich ein wendiger Ost-CDU-ler einfach total ein-
sacken:
"In einem nachdenklichen Grußwort bekannte sich auch der stell-
vertretende Vorsitzende der Ost-CDU Winfried Wolck, unter dem
Beifall der Delegierten zur Einheit der deutschen Nation, frei-
lich nicht ohne, als der Applaus abgeebbt war, anzufügen 'die in
zwei Staaten lebt'. " (Süddeutsche Zeitung, 27.11.)
Das Interesse der DDR-Führung, ihre im Westhandel relativ erfolg-
reiche Wirtschaft dafür einzusetzen, daß sie die politische Sou-
veränität über Land und Leute wiedergewinnt, indem sie die wirt-
schaftlichen Beziehungen zum Westen auf breiter Basis intensi-
viert, das ist für die bundesdeutsche Seite das entscheidende Är-
gernis. Da hilft es gar nichts, wenn sich Kapitalexport in der
DDR bombig lohnt und darüber auch der politische Einfluß auf die
Regierung drüben steigt. Einfluß a u f einen Souverän ist eben
alles andere als seine Beseitigung. Und selbst die engste
"Vertragsgemeinschaft" (Modrow) ist, verglichen mit der Wieder-
vereinigung fast das Gegenteil. Da gibt es ja immer noch den
staatlichen Partner, der anerkannt werden muß.
Die Gelegenheit zu einem Jahrhundertgeschäft darf also auf keinen
Fall den Blick dafür trüben, daß immer noch die Schwächung der
DDR ihren Anschluß bringen soll. Zur Euphorie des Einsteigens ge-
hört deswegen notwendigerweise die Warnung davor, schönes westli-
ches Geld "in ein Faß ohne Boden zu werfen". Im Fall der DDR ist
diese Parole nicht bloß die Erinnerung daran, daß selbstverständ-
lich das ortsansässige Volk - und nicht der Geber von Kapital-
hilfe - die Unkosten für die Heimholung des Realen Sozialismus in
die kapitalistische Welt zu tragen hat. Jeder Vorbehalt, und sei
er noch so kapitalistisch-sachzwangmäßig formuliert, der in Bezug
auf eine Kapitalhilfe für die DDR vorgebracht wird, ist eine Ant-
wort auf die n a t i o n a l e Frage: Wie wird aus ge-
schäftstüchtiger Einmischung eine Ausgrenzung der DDR-Regierung
von der Verfügungsgewalt über ihren eigenen Laden?
Lohnende Kapitalhilfe: ein Hebel zur Entmachtung der DDR
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Mit dem nationalen Interesse Polens oder Ungarns kann bundesdeut-
sche Politik sehr wohl leben, indem sie es zum Hebel der Erpres-
sung dafür macht, daß der Partner die ökonomischen Bedingungen
für lohnende Geschäfte schafft und politische Zugeständnisse ein-
räumt, die den eigenen Einfluß mehren. Wie gut das funktioniert,
hat die DDR im deutschen Herbst zu spüren gekriegt. Gerade die
Spekulation der östlichen "Bruderstaaten" auf westliche Hilfe hat
ja die DDR so offen und damit abhängig von "gemeinsamen Regelun-
gen" mit Bonn gemacht.
Nun ist natürlich ein solches Verhältnis auch zwischen zwei deut-
schen Staaten denkbar. Mehr noch: es wird ja schon feste prakti-
ziert. Die erklärte Bereitschaft der neuen DDR-Spitze, zur radi-
kalen Intensivierung der Zusammenarbeit mit der BRD wurde zur
Kenntnis genommen. Die Ernsthaftigkeit der Bereitschaft auch.
Aber genügen tut das noch lange nicht. Es kommt nicht bloß darauf
an, ob die DDR-Regierung bereit ist, ihre Macht auch ernsthaft
und unwiderruflich in den Dienst kapitalistischer Interessen zu
stellen - das wird sowieso verlangt. Das betrifft die nächsten
praktischen Schritte, wie: Die Abschaffung des Außenhandelsmono-
pols, also die Erlaubnis zu direkten Geschäften mit DDR-Unterneh-
men, die dann aber auch in ihrer Entscheidung frei sein müssen,
also den Rückzug des Staats aus der Wirtschaft. Die Freiheit, in
und mit DDR-Firmen zu investieren, zu dieser Freiheit aber auch
den Schutz, über Investition und Gewinn frei verfügen zu können.
Die Freiheit der Personalplanung, also die Erlaubnis des Arbei-
ter- und Bauernstaats, mit seinen Arbeitern und Bauern als bloßen
Kostenfaktoren umzuspringen. Nur unter diesen Bedingungen zeigt
die westdeutsche Industrie- und Bankenszene ihr Interesse an
schnellen Geschäften mit dem Nachbarstaat. Die Helden der unter-
nehmerischen Freiheit, die bekanntlich von ihrem Geist leben, in-
dem sie aus Risikobereitschaft Milliarden machen, dringen auf
nichts geringeres als auf einen umfassenden Sack voller Garantien
dafür, daß sich ihre Geschäfte auch lohnen.
Gleichzeitig ist das alles vom politischen Standpunkt der BRD aus
betrachtet noch immer nicht das Eigentliche, solange die Hoheit
noch bei der DDR verbleibt. Oder andersherum: Daß die Herrichtung
des Landes zur kapitalistischen Anlagesphäre den zuständigen
Machthabern die reale Verfügungsgewalt über ihre Ökonomie ent-
zieht, ist gegenüber der DDR die beabsichtigte und berechnete
Konsequenz, auf die es ankommt und die auch allen formellen Sou-
veränitätsrechten der anderen Seite ein Ende machen soll. Dafür
ist natürlich mancher Kapitalist zu borniert:
"Ich würde es als eine Katastrophe empfinden, wenn man die SED,
wie man es so oft hört, heute auf einen Schlag absägen würde. Es
würde ein Vakuum entstehen, wirtschaftspolitisch in der DDR, das
im Moment nicht auszufüllen wäre. Auch habe ich sehr viele Leute
kennengelernt in der Vergangenheit, die in der SED sind und die
heute und in der Vergangenheit wirtschaftliche Positionen hatten.
Diese Leute waren schon immer reformwillig, sie wollten reformie-
ren, sie mußten nur den geeigneten Zeitpunkt abwarten. Und ich
bin der Überzeugung, daß diese Leute zur heutigen Situation sehr
viel beigetragen haben." (Helmut Schmid, Firma Bellmer, Brenn-
punkte, 12.11.89)
Der Mann verbürgt sich für die E i g n u n g der alten Mann-
schaft, jedenfalls bedeutender Teile davon, indem er darauf ver-
weist, daß ihre bisherige B e r e i t s c h a f t viel dazu
beigetragen habe, die G e s c h ä f t e mit der DDR
l o h n e n d zu machen. Er übersieht allerdings ein wenig, daß
es im Falle der DDR um mehr geht als um lohnende Geschäfte. Um
die auch. Aber sie müssen sich dazu noch als Mittel der schritt-
weisen Entmachtung der DDR-Staatsgewalt bewähren. Jeder Kredit,
jedes Geschäft, jede Devisenvereinbarung soll sich daran messen,
inwieweit sie Mittel dafür ist, die Führung der DDR - ob sie nun
Krenz, Modrow oder sonst wie heißt - bis zur Selbstaufgabe
g e f ü g i g zu machen. Wo die kapitalistische Krämerseele im-
mer dummdreist an das 'Wozu?' - fürs Geschäft nämlich - denkt, da
kommt es dem Politiker, der ja dem ganzen deutschen Volk ver-
pflichtet ist, auf das nationale 'Wozu?' an: nämlich auf ein ein-
ziges Großdeutschland.
Deutschlandpolitik geht zur Zeit also so: Die Bundesregierung tut
alles, um das Interesse der DDR-Führung, sich durch neue Abhän-
gigkeiten vom Westen zu erhalten, für die stückweise Beseitigung
dieses Staates für den Anschluß der DDR zu funktionalisieren.
Nicht bloß, daß man die durch Geschäftsbeziehungen geschaffenen
Abhängigkeiten zum Mittel der Verbesserung weiterer Geschäftsbe-
dingungen macht und so den Partner in immer größere Abhängigkeit
bringt - das ist der ganz normale Gang erfolgreicher imperiali-
stischer Betätigung. Die Schwächung der Souveränität des Part-
ners, die in anderen Fällen durchaus zum eigenen Problem werden
kann, so daß man den Partner stützen muß, ist im Falle der DDR ab
sofort die beabsichtigte Folge des ganzen Stützens der DDR. Je
mehr die DDR-Führung sich den Erfordernissen des Geschäfts an-
paßt, desto mehr soll sie sich überflüssig und damit übernahmebe-
reit machen.
Das DDR-Volk als Daumenschraube
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Dafür läßt sich in bewährter Weise das Volk der DDR einspannen.
Da spielt erstens sogar ein so luxuriöser Genuß wie der West-Tou-
rismus eine Rolle, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. In den
Westen reisen zu dürfen, und zwar mit ehrenvoll umgetauschter Va-
luta, zählt nämlich für jeden DDR-Bürger zu den Menschenrechten,
die er sich von keinem Grenzposten mehr nehmen läßt - sonst wird
nämlich gleich ganz ausgereist. So kriegt die DDR ein ernsthaftes
Devisenbeschaffungsproblem, an einer Stelle, wo in jedem anderen
Land der Welt der Wechselkurs das Urlaubsbedürfnis in die richti-
gen Bahnen lenkt. Ein DM-Fonds für touristische Zwecke wird zur
unabweisbaren Notwendigkeit, der man aber nur mit bundesdeutscher
Hilfe nachkommen kann. Das klärt die DDR-Bürger schon mal darüber
auf, wer ihnen das gute deutsche Geld vorenthält und wer es ihnen
großzügigerweise trotzdem zukommen läßt.
Verplant ist das Volk vom Westen aus - zweitens - aber noch in
ganz anderer Hinsicht als freizeitmäßig:
"Der Umbruch in Polen und Ungarn zeigt, was auf die DDR zukommen
wird: steigende Preise für bisher billige Güter, Versorgungungs-
lücken, Inflation neureiche Krisengewinnler, absterbende Wirt-
schaftszweige und besonders bitter: Arbeitslose." (Spiegel 47/89)
So weit, so gut - wenn es "bloß" um die Ablösung sozialistischer
Bequemlichkeit durch kapitalistische Effektivität ginge. Jetzt
geht es aber um ein nationales Sanierungsprogramm auf Kosten ei-
nes Volkes, das schon jetzt höchstens noch sehr bedingt die Manö-
vriermasse DDR-nationaler Wirtschaftspolitik sein will. DDR-Bür-
ger nehmen ja schon für so ungemein hohe Güter wie "Zukunft" und
"Perspektive" das Einbürgerungsangebot der BRD wahr und bekennen,
daß sie nicht mehr die Dummen des deutschen Schicksals bleiben
wollen. Wie bei unbegrenzter Ausreisefreiheit in den mächtigeren
deutschen Staat eine kapitalistische "Sanierung" der DDR durch-
zuziehen wäre, weiß im Grunde jeder: überhaupt nicht.
Da müßte ja schon glatt die Bundesregierung den Z w a n g zum
Daheimbleiben schaffen, der dann allenfalls auch einem DDR-Bürger
den W i l l e n zum Mitmachen eingeben könnte - das wäre dann
aber todsicher nie ein Mitmachen bei einem anderen deutschen
Staat.
Es ist also keine Prognose: Die Wiedervereinigungspolitik der BRD
führt einen Zustand herbei in dem endgültig nur noch die Existenz
einer eigenen DDR-Staatsgewalt all den Fortschritten im Wege
steht, die die Bundesregierung sowieso will, auf die die DDR-Re-
gierung irgendwie auch gesetzt hat und auf die das DDR-Volk ein
abgrundtiefes deutsches Recht zu haben meint. Auch das ist keine
Prognose: Wenn die Lage so ist, gibt es auch keinen ehrlichen
Bürger mehr, der sie nicht genauso sieht. Spätestens dann, wenn
die allgemeinen, freien, gleichen und öffentlichen Wahlkämpfe un-
ter dem Motto "Wiedervereinigung ja, aber in welchen Grenzen?" in
den beiden deutschen Republiken herumtoben. Dann ist auch endlich
der letzte Sachse reif für die Wahrnehmung seines deutschen
Selbstbestimmungsrechts.
Und die Russen?
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Was ist mit der Roten Armee, die immer noch in der DDR steht: Die
doch immer das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen mit Füßen ge-
treten und verhindert hat?
Deren Interessen an einem Bündnispartner DDR sind mit der Fahnen-
flucht der SED nicht erloschen. Aber bis auf weiteres unterschei-
det die Führung der Sowjetunion auch im Falle der DDR und der
bundesdeutschen Wiedervereinigungspolitik wieder einmal zwischen
zwei Sachen, zwischen denen kein Unterschied besteht. Sie erklärt
eine "Annäherung" bis hin zur Konföderation für eine
"Angelegenheit der Deutschen", in die sich niemand einmischen
dürfte - aber beim Übergang in einen Einheitsstaat, da wollen sie
dann noch mitzureden haben. Sie gibt die Herrschaft des Realen
Sozialismus in der DDR preis - aber die DDR selbst will sie damit
noch nicht abgeschrieben haben. Sie findet nichts dabei, wenn die
Bundesrepublik ihr Geschwätz vom "europäischen Haus" als diploma-
tische Rückendeckung für ihr imperialistisches Europaprojekt be-
nutzt - aber an der Grenze zwischen West- und Ost-Deutschland
will sie dann doch nicht rütteln lassen.
So produzieren Staaten unhaltbare weltpolitische Konstellationen,
die dann zur großen Verwunderung der Nachwelt meistens nur mit
Gewalt haben gelöst werden können.
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Die deutsche Wiedergeburt: Kaiserschnitt, Zange oder sanft?
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Auf Basis dieses klaren Programms gibt es notwendigerweise einen
heißen Parteienstreit, nämlich um so heiße Fragen wie, ob da auch
wirklich s c h n e l l genug gehandelt wird, ob man die aktive
Herstellung von politischen, sozialen und ökonomischen Bedingun-
gen in der DDR nun "Hilfe" oder "Erpressung" tauft und ob der
E i n d r u c k, der damit v.a. drüben erweckt wird, der Sache
dient, parteichinesisch: "dem Prozeß des Zusammenkommens der
deutschen Menschen" nützt oder schadet.
Die Opposition:
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"Nochmaliger Appell des SPD-Chefs an die Bundesregierung: 'Keine
Bedingungen für Hilfe an die DDR'
Auch für das Engagement westdeutscher Unternehmen müßten keine
Bedingungen gestellt sondern lediglich Voraussetzungen geschaffen
werden, so Abkommen zum Investitionsschutz, für Joint-Ventures,
die Sicherung der Rechtsform und die Minimierung administrativer
Hürden. Auch gehe es nicht darum, der DDR... Geld zu schenken,
sondern vernünftige Kredite anzubieten. " (Süddeutsche Zeitung,
25.11.)
"Ich lehne es ab, daß wir unsere Partnerschaft nach dem Prinzip
von Wurst und Hund gestalten und die Wurst immer höher hängen,
wenn der Hund sie fast erreicht hat." (Lothar Späth, Süddeutsche
Zeitung, 28.11.)
Da sorgen sich nicht nur zwei Reservedompteure um das Gelingen
des Dressuraktes, sie übernehmen auch noch die psychologische Be-
treuung des Hunds, der die Lust daran nicht verlieren darf, daß
immer noch e r es sein muß, der die Ausführung der gewollten
Akte zu vollziehen hat. Nichts anderes meint auch der "scharf
kritisierte" Bundeskanzler:
"Was wir vorschlagen (siehe: Vogel), sind keine Vorbedingungen,
sondern die sachlichen Voraussetzungen dafür, daß Hilfe wirklich
greifen kann." (im Bundestag, 28.11.)
Weil es sich hier quasi um eine schleichende Übernahme handeln
soll, lassen sich die "unerfüllten Bedingungen" und "fehlenden
Faktoren" für "unseren" Einstieg auch im Lichte der fortbestehen-
den "Zweistaatlichkeit" begutachten. Die kann man entweder als
Chance fürs langsame Zusammenwachsen der Teile oder als Schranke
der schnellen Wiedervereinigung betrachten.
Modrows Idee einer " Vertragsgemeinschaft" entnimmt man deshalb
sowohl das Interesse an der Aufrechterhaltung der Zweistaatlich-
keit wie auch das an einer verstärkten Zusammenarbeit mit der
BRD. Der Vorschlag wird also nicht einfach abgelehnt, sondern
"aufgenommen" und von der Bundesregierung im "Bonner Sinne defi-
niert" (Süddeutsche Zeitung, 28.11.). Das sieht dann so aus, daß
der Bundeskanzler sie in seinen "Stufenplan zur Wiedervereini-
gung" einbaut, die Vertragsgemeinschaft also als Mittel zu ihrer
und der DDR Auflösung definiert. Damit sie aber auch garantiert
als solche wirkt, ist sie nicht Stufe 1, sondern Stufe 4. Die er-
sten drei Stufen sind die berühmten "Voraussetzungen" dafür, daß
die "Hilfe nicht im Sand versickert": 1. Die Schaffung eines ge-
meinsamen Devisenfonds 2. Technologische Zusammenarbeit (Umwelt,
Verkehr, Telefon) 3. Freie Wahlen. Das heißt, daß die DDR-Regie-
rung sich um so mehr Anerkennung verdient, je mehr sie an Souve-
ränität zurückschraubt, indem sie sich dem Verhandlungspartner
und dem nicht zuletzt von der BRD bei mürrischer Laune gehaltenen
Volk ausliefert. Also genau andersrum als die neue DDR-Führung
sich das gedacht hat: Sie wollte ja wohl durch Abschlüsse mit der
BRD die schon versprochenen Wahlen wahlkämpferisch vorbereiten.
Spätestens hier stellt sich die Frage, ob die Anerkennung der
"Staatsbürgerschaft der DDR" dem Einigungs p r o z e ß nicht
förderlich sein könnte. Weil das bislang noch genau umgekehrt ist
- die Übersiedler kommen weiterhin und fehlen der DDR -, sind
wieder mal die bundesdeutschen Vordenker dran: Oskar Lafontaine
und Lothar Späth stellen ihre T a u g l i c h k e i t für die
denkbare Wiedervereinigung in Frage und ernten empörte Vorwürfe,
sie setzten die Wiedervereinigung aufs Spiel. Natürlich werden
die ebenso empört zurückgewiesen: Sie haben nur daran gedacht,
daß die Entvölkerung Ostdeutschlands doch nicht im Sinne der ko-
lonialisierenden Einheitsstiftung sein könne:
"Die finanziellen Leistungen, die wir erbringen, sollten nicht
Prämien für das Weggehen sein, sondern Prämien fürs Dableiben."
(Lafontaine, Süddeutsche Zeitung, 25.11.)
Offensichtlich weiß der Mann, daß die "Hilfen" für die DDR gar
nicht als "Prämien fürs Dableiben" gedacht sind und darum auch
nicht so wirken werden, sonst würde ihm ja nicht ausgerechnet die
Ausschließlichkeit der Staatsbürgerschaft einfallen, die die BRD
der DDR bislang erfolgreich bestreitet und deren Anerkennung jede
Prämie überflüssig macht, weil sie sie durch den Zwang zum
Dableiben ersetzt. Einem Mann, der so selbstverständlich Bevölke-
rungsmassen manipuliert und manövriert, vorzuwerfen, er lasse den
Anspruch auf sie fallen, ist schon ein wenig ungerecht. Deshalb
schlägt er mit dem Vorwurf des beschränkten Nationalismus zurück:
"Ihr wollt die Wiedervereinigung ja gar nicht, weil ihr gar nicht
an die andere Hälfte Deutschlands denkt... Ich werfe den Leuten
einen gespaltenen Kopf vor, sie reden von Deutschland, aber sie
haben nur die Bundesrepublik im Kopf." (Süddeutsche Zeitung,
29.11.)
Zumal er schon provokativ Kohls 5. Stufe andenkt, die
"Konföderation". Natürlich ist auch sie, streng genommen, ein
Verbrechen gegen den Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes,
wegen des "Kon", das die Trennung ja weiterhin unterstellt. Aber
das Helmut Kohl vorzuwerfen, wäre seinerseits ungerecht. Wie man
zu hören bekommt, hat ihm diese Passage viel Mühe gemacht.
Schließlich soll damit schrittweise die Zusammenarbeit durch den
Zusammenschluß ersetzt werden:
"Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt
weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen in Deutschland zu
entwickeln, mit dem Ziel, eine Föderation, d.h. eine bundesstaat-
liche Ordnung in Deutschland zu schaffen." (Kohl im Bundestag,
28.11.)
Bleibt noch die letzte konstruierte Alternative: die Einheit
Deutschlands oder die Europas? Die alberne Vorstellung, die Bun-
desrepublik könnte die EG verlassen, in der sie sich die unab-
dingbare Grundlage ihrer neuen Großmachtstellung geschaffen hat,
um als vereintes Deutschland Europa zu dominieren, ohne an ihm
teilzuhaben, wird nur aufgemacht, um sie zu verwerfen. Die deut-
sche Einheit soll im "europäischen Rahmen" verwirklicht werden.
Was damit in die Welt gesetzt werden soll, ist erstens die Harm-
losigkeit des deutschen Expansionswillens. Einerseits durch den
Vergleich mit der Fiktion eines "Deutschland zwischen den Blöc-
ken". Zum andern dadurch, daß die Expansion gemeinsam mit anderen
betrieben wird und so schon keine mehr sein soll. Gorbatschows
"Europäisches Haus" hat da wieder mal seine Dienste leisten müs-
sen. Wenn Politiker nationale Bescheidenheit an den Tag legen,
dann nur deshalb, weil ihnen der Anspruch eines Schönhuber - "Das
ganze Deutschland soll es sein! " - viel zu bescheiden ist. Sie
erheben nicht einfach einen Anspruch, sondern sie legen sich
zweitens ganz viel Verantwortung für Europa auf. So nennen sich
Ansprüche, derer man sich nicht erwehren kann, weil man sie mit
einer höheren Weihe versehen hat. Und keiner denkt an Imperialis-
mus, wenn der Bundeskanzler "ganz einfach" erklärt:
"Ich will's ganz einfach so formulieren: Die EG darf nicht an der
Elbe enden, sondern muß ihre Offenheit auch nach Osten wahren.
Nur in diesem Sinne - und wir haben EG-Europa immer nur als einen
Teil, nicht als das Ganze verstanden -, kann die Europäische Ge-
meinschaft wirklich die Grundlage einer wirklich umfassenden eu-
ropäischen Einigung werden." (ebd.)
Und drittens kommt so der bundesdeutsche Revanchismus nicht bloß
ganz modern und unschuldig daher, er spannt auch gleich die Part-
ner für den deutschen Zwischenschritt und die daraus fast logisch
folgenden Weiterungen ein:
"Die Frage der Wiedervereinigung ist für uns beantwortet: Die SPD
ist für eine europäische Einigung, die die DDR ebenso wie Polen
und damit auch die Gebiete jenseits der Oder und Neiße umfaßt.
Jetzt geht es um Zwischenschritte zu diesem Ziel, und wer die eu-
ropäische Einigung will, kann als Zwischenschritt einer staatli-
chen Einheit der DDR und der Bundesrepublik nicht widersprechen."
(Oskar Lafontaine, Süddeutsche Zeitung, 25.11.)
Die Methode der Auseinandersetzung in dieser Frage ist also keine
in der Sache. Sie besteht allein darin, das Ziel gegen den Weg
und vice versa auszuspielen. Und dafür brauchen noch nicht einmal
Differenzen über den Weg zu bestehen.
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Selbstbestimmungsrecht des Volkes contra
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Selbstbestimmungsrecht der DDR
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Da muß man genau sein, wenn man sich auf dem Boden der Verfassung
bewegen will. "Die Menschen" in der DDR haben "die erste erfolg-
reiche und friedliche Revolution auf deutschem Boden" durchge-
führt. Und schon gibt es wieder ein deutsches Wesen, das den Völ-
kern der Welt beispielhaft voranleuchtet. Mit dem Prädikat "Auch
im Umsturz gewaltfrei" haben sich diese Revolutionäre sofort die
Herzen der alten deutschen Frontkämpfer erobert. Als aufrechte
Kämpfer gegen den ostdeutschen Unrechtsstaat haben sie nicht nur
im Auftrag der Menschheit, sondern auch der NATO gehandelt, ihrem
"Recht auf Selbstbestimmung" zum Ausdruck verholfen.
Nur erhebt sich sofort die Frage, ob die Menschen in der DDR
überhaupt wissen, was sie da selbst bestimmen. Die Gefahr war ja
zumindest bislang nicht von der Hand zu weisen, daß sie sich, wie
andere Staatsbürger auch, so sehr in den 40 Jahre währenden
Zwangszusammenhang gewöhnt haben, daß sie sich einbilden, sie
hätten ihn sich ausgesucht, weil er ihrer Natur entspreche. Es
besteht Grund zur Annahme und es gibt Indizien dafür, daß dieser
ordinäre Nationalismus nicht nur bei den Genossen von der SED,
sondern auch bei den Trägern des Umsturzes anzutreffen ist. Da
muß was unternommen werden, der deutschen Menschennatur muß auf
die Sprünge geholfen werden.
Das "Selbstbestimmungsrecht des Volkes" ist nämlich nicht einfach
etwas, das sich die Menschen so aussuchen könnten. Das des deut-
schen z.B. ist genau umrissen: Es hat sich in den Grenzen von
1937 zu bewegen. Das verlangt das Grundgesetz. Und das haben des-
sen Väter verfaßt, die es nicht mehr umschreiben können, weil sie
schön lange tot sind. Ein "Volk der DDR" - das hätte der Momper
wissen müssen, ohne von Rühe vergattert zu werden - gibt es also
gar nicht, weil es dem Grundgesetz der Bundesrepublik wider-
spricht, in seiner Existenz glatt ein Verstoß gegen die Einheit
des deutschen Volkes ist.
Deshalb kann genau genommen die Bevölkerung der DDR gar nicht
drüber entscheiden, ob sie allein oder zusammen sein will. Wenn,
dann müßte schon das gesamte deutsche Volk darüber abstimmen, und
dann müßten sich die, die nicht so dafür sind, dem eben fügen.
Und obwohl die Abstimmung eigentlich dem Selbstbestimmungsrecht
widerspricht, weil es keine Sache der Entscheidung der in so ei-
nem Volk zusammengefaßten Menschen ist, ist es natürlich schön,
wenn die selbstbestimmten Figuren auch noch offen und freudig ihr
Ja zu Deutschland sagen. Davon wußte schon ein Vorgänger des heu-
tigen Kanzlers, der aus seiner Sicht bis zum Endsieg, aus der
Sicht friedlicher Demokraten mindestens bis zum Anschluß Öster-
reichs und des tschechoslowakischen Sudetenlandes für dieses
hehre Recht gekämpft hat, bei der Besetzung des Rheinlands:
"Über die schwerste Schicksalfrage der Nation, da hätten nun die
kleinen Menschen da draußen am Ende entscheiden müssen. Man wird
mir vielleicht sagen, ja sie haben ja auch eine Volksabstimmung
gemacht. Ich habe erst gehandelt, erst gehandelt, und dann aller-
dings habe ich der anderen Welt nur zeigen wollen, daß das deut-
sche Volk hinter mir steht. Darum handelte es sich. Wäre ich der
Überzeugung gewesen, daß das deutsche Volk hier vielleicht nicht
ganz mitgehen könnte, hätte ich trotzdem gehandelt, aber ich
hätte dann keine Abstimmung gemacht." (Adolf Hitler, 7.3.1936)
Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, wenn der neue Kanzler "den
Menschen draußen im Lande" erklärt:
"Das Ziel der Bundesregierung ist und bleibt die Wiedervereini-
gung... Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich ausse-
hen wird, weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird,
wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich si-
cher." (Bundestag, 28.11.)
Er macht sich hier nämlich nur zum Schein von dem Willen der
Leute, ob nun in ganz Deutschland oder bloß in der DDR, abhängig.
Dafür, daß "die Menschen in der DDR" auch wollen, dafür sorgt die
Politik der Bundesrepublik. Erstens indem er die mißtrauische Op-
position, die offensichtlich jetzt hauptsächlich unter dem Rei-
che-Vettern-Trauma leidet und sich über die Bedingungen für bun-
desdeutsche Hilfe beschwert, zum Gespräch vorlädt. Der Kanzler
muß sehr überzeugend gewirkt haben, denn am Tage drauf, nach dem
Gespräch, vertraten sie schon fast eine korrekte Linie:
"Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch) ergänzte, bei keinem
der Gespräche (mit Kohl und Vertretern der Bonner Parteien) hät-
ten er und Wolfgang Schnur den Eindruck gehabt, daß für bundes-
deutsche Hilfe Bedingungen gestellt würden... Ihre Meinung zur
Wiedervereinigung wollten Schnur und Eppelmann nicht darlegen."
(Süddeutsche Zeitung, 25.11.)
Zweitens läßt sich eine Kritik an der Politik der BRD, die in
nichts anderem als der "Angst vor dem Ausverkauf" (Bärbel Bohley)
besteht, auch ziemlich leicht beschwichtigen. Dafür tut schon die
Betonung ihre Wirkung, daß man niemanden vergewaltigen wolle.
Schließlich ist ja der 10-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung so
zurückhaltend, daß die Opposition nicht umhin konnte, ihn als
"weitgehende Übernahme eigener Vorstellungen" (Bohley und andere)
zu loben. Aber trotzdem wolle sie der CDU nicht trauen und werde
ihre Angst nicht los (wieder Bohley). Keine Angst Bärbel, Ver-
trauenswerbung ist billig, die kriegst Du noch reichlich!
Drittens ist nämlich jetzt schon klar, daß die Zusammenarbeit
zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West ein eindeutiges Er-
gebnis kriegt, auf das eine demokratische Vertrauenswerbung gut
aufbauen kann. Wenn alle Überreste von Sozialismus und DDR-Eigen-
staatlichkeit als letzte Hindernisse für die endgültige Bereini-
gung der Lage übrig geblieben sind, dann kommt das Vertrauen der
Massen in die richtigen großdeutschen Politiker ganz von allein
zustande.
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"SPIEGEL: Die Daumenschrauben der wirtschaftlichen Zwänge sollten
bleiben, damit das politische System zu den gewünschten Reformen
gepreßt wird?
HERRHAUSEN: Warum hat sich das alles so ergeben in der DDR, wie
es jetzt ist? Weil die Menschen offenbar ein anderes System wol-
len. Wenn das so ist, dann sollten wir nichts tun, was diesen
Schwung erlahmen läßt. Das wäre doch wohl gegen das Interesse de-
rer, die diese Entwicklung durch ihr Verhalten erzwungen haben.
Das ist eine Daumenschraube, die in der demokratischen Entschei-
dung der Bürger liegt. Und die möchte ich ganz gern erhalten se-
hen." (Spiegel, 43/89)
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