Quelle: Archiv MG - BRD ALLGEMEIN - Auf dem Weg zur Weltmacht


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       Bremer Hochschulzeitung Nr. 60, 18.10.1982
       
       Der Bonner "Neuanfang": Kohls Regierungserklärung
       

NEUE FREIHEIT FÜR ALTE POLITIK

"Unser Volk hat ein Recht auf Wahrheit, die Wahrheit über das, was getan worden ist, und die Wahrheit über das, was getan werden muß." (Der Neue) Die Stunde der Wahrheit war es wohl nicht, die letzte Woche im Bundestag schlug. Wäre es darum gegangen, die 500 Abgeordneten hätten den Saal mit hochrotem Kopf verlassen, ob der Lügen und Heucheleien; drei Tage Parlamentsdebatte wären einem erspart geblieben. Das Recht auf Wahrheit, das der neue Kanzler seinem Volk nicht vorenthalten will, muß wohl in etwas anderem bestehen als in der Aufklärung darüber, was in dieser Republik los ist. In der Regie- rungserklärung stellt die neue Führungsmannschaft ganz unverblümt klar, welche Sorgen sie hat, und wie wenig das mit den Sorgen zu tun hat, die sie den Bürgern bereitet. "Wir stecken nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise. Es be- steht auch eine tiefe Unsicherheit, gespeist aus der Angst und Ratlosigkeit - Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst vor Umweltzerstörung, vor dem Rüstungs- wettlauf, Angst vieler junger Menschen vor ihrer Zukunft." Wahrheiten? Wenn es wirklich so stünde um die Bürger dieser Repu- blik, warum läßt Kohl vor lauter Sorgen das Regieren nicht sein, warum macht ihm der Machtwechsel sichtlich Spaß? Für einen Kohl, nicht anders wie für seinen Amtsvorgänger, sind die "schweren Zeiten" nichts, was mit gesteigerten Abgaben an den Staat, mit gesenktem Lohn, Entlassung und Elend, mit Gefahr für Leib und Le- ben zu tun hätte. Wie auch? Denn daß eine Kohl-Regierung nicht g e g e n, sondern so unbedingt f ü r Rationalisierung, Kern- kraftwerke und Raketen einsteht, stellt sie selbst ganz außer Zweifel. Wenn also der neue Führer der Nation auf die Resultate der Politik der alten Führungsgarnitur a n s p i e l t, dann nicht, um die unter der Menschheit wirklich angerichteten S c h ä d e n anzuklagen, sondern um daraus angeblich folgendes geschädigtes Mitmachertum an die Wand zu malen. Angsthasen sind schlechte Untertanen für schwere Zeiten, die schließlich ja sie ausbaden sollen. So formt sich der neue Machthaber in Bonn die Bürger nach seinem Bilde: entstanden aus der Schuld der Sozialde- mokratie, voller Sehnsucht nach einer anderen Regierung, bereit- willig, regiert zu werden und doch zaghaft dabei - und profiliert sich selbst am vorgegebenen Maßstab der Handlungsfähigkeit: "Die Krise hat das Vertrauen vieler Menschen in die Handlungsfä- higkeit des Staates erschüttert." Diesen Menschen kann geholfen werden; ihnen fehlt ja nicht das Geld zum Leben, sondern der Glaube an die Politik - und wie der Ritter in der Sage macht sich der neue Kanzler daran, genau die- ses Problem zu lösen. Sorgen, Angst und Resignation sind, so der "geistig-moralische Führungsauftrag" der neuen Mannschaft, ein einziger Grund zur Dankbarkeit an die Adresse der neuen Regierung und zugleich eine einzige Verpflichtung, den Führungsqualitäten der Politiker auch die korrespondierenden Tugenden des Geführt-Werdens auf dem Fuße folgen zu lassen. Der Gedanke, der Bürger könne sich des Staates bedienen, paßt nicht zum Neuanfang heraus aus der selbsterfun- denen "geistig-politischen Krise"; gefragt sind Tugenden, sich aus voller Eigeninitiative vom Staat deckeln zu lassen. "Die Frage der Zukunft lautet nicht, wieviel mehr der Staat für seine Bürger tun kann." "Die Frage der Zukunft" lautet nämlich, wie sich der Neue aus dem angeblichen Mißerfolg des Alten einen unabweisbaren Auftrag zum Regieren abholt; wie er den Opfern der alten Politik neue Opfer beschert, die sie mit lauter Dankbarkeit über den vollzogenen Machtwechsel aufnehmen sollen; wie der Neue mit der Erfindung ei- ner geistig-moralischen Zersetzung im Lande seine eigenen Taten unter das ausschließlich gültige Kriterium der "Durchsetzbarkeit" stellt, so daß ab sofort jeder Bürger die Bonner Maßnahmen dar- aufhin prüfen darf, ob er ihnen auch ganz selbstverantwortlich gerecht wird. Oder anders: die Klarstellung der Gegenwart ist die, daß sich niemand vom Neuanfang etwas erwarten soll, es sei denn... Dringlichkeitsprogramm der Nation --------------------------------- Den kleinen Unterschied an seinen Bürgern will Kohl auch und ge- rade in "schweren Zeiten" durchaus nicht missen, wenn er sie alle auffordert, mehr für sich zu tun, indem sie weniger vom Staat wollen. Er hält es dabei mit dem Jubilar des nächsten Jahres, der auch ein frommer Mann war: "Gerechtigkeit ist, daß jeder tue, was seines Standes gemäß ist." (Martin Luther) Was ist standesgemäß? - Für den Arbeitnehmer: "Wir wollen vor allem Arbeitsplätze schaffen und erhalten." Niemand mißversteht diesen Hinweis als Versprechen auf Verpflegung. Daß sie nämlich "rentabel" sein müs- sen, diese Plätze, ist nicht nur ihre Bedingung, sondern der an- erkannte Zweck. Daß sie es sind, dafür hat also zu allererst der Arbeiter mit seiner Anstrengung gerade zu stehen, denn - die Wirtschaft "braucht eine Zukunftsperspektive": die Siche- rung ihres Gelingens durch viel Leistung der Lohnempfänger bürgt dafür, daß nicht wenige dieser Leistungsträger mit den Kapitaler- trägen ihrer eigenen Arbeit überflüssig gemacht werden. Die er- warteten 4 Millionen Arbeitslosen verschweigt ein Kohl nicht. Diesen Erfolg der Wirtschaft zu fördern, ist und bleibt das An- liegen auch der neuen Mannschaft. Nur: ebensowenig wie die Ver- pflegung der Löhner der Zweck staatlicher Politik ist, zielt ihre Betreuung der Wirtschaft auf die Finanzierung notleidenden Ge- schäfts. Nicht Investition überhaupt will die "Investitonshilfe 83/84" unterstützen, sondern "zukunftsorientierte". Soll heißen, eben solches Geschäft, das nach Maßgabe seines erreichten Erfol- ges einen konkurrenzfähige Säule deutscher Wirtschaft zu bleiben verspricht oder es auf jeden Fall bleiben soll: Energie, Fern- wärme, Rüstung... - Für den Steuerzahler: Geld, das ohnehin zu produktiver Vermeh- rung nicht fähig und gedacht ist, also zuallererst die Lohntüten, haben für die Finanzierung dieses Geschäfts geradezustehen: Mehr- wertsteuer hoch! Geldvermögen von Eigentümern wird zu demselben Zweck herangezogen, allerdings sorgsam geschieden. Nach solchem Geld nämlich, das als Kapital in Fabriken gesteckt wird - "steuerliche Entlastung für Investitionen" - und solchem Geld, das nach produktiver Anlage dann noch zum Verjubeln übrig bleibt. die Zwangsanleihe bei den "Reichen, die ein zinsloses Darlehen an den Staat aus ihrem versteuerten Einkommen darstellt." Für die Ausgemusterten dieser politischen Ökonomie: "Eine Atem- pause in der Sozialpolitik". Arbeitslose, Rentner, Krüppel Kranke und sonstiger Abfall dieser schönen Marktwirtschaft haben ein Recht darauf, daß sie kostengünstig abgeschrieben werden. Die Luft wegbleiben dürfte also zuallerletzt der Sozialpolitik, wenn "die Beiträge an die Rentenversicherung nach der Höhe der gewähr- ten Lohnersatzleistung zu bemessen sind: wer zur Ausbeutung nicht mehr zugelassen ist und mit dem Arbeitsplatz auch sein Einkommen gestrichen bekommt, braucht ja wohl auch weniger Rente im Alter! Dafür, daß die "Lohnersatzleistung", wie vornehm-verlogen die 68% Arbeislosengeld heißen, auch noch entsprechend sinken, sorgt die verstärkte "Staffelung" in der Auszahlungsdauer; wenn die "Rentenanpassung um ein halbes Jahr" verschoben wird: das Alter soll man schätzen, aber doch nicht das Geld, das den Alten ganz nutzlos, weil bloß fürs Verplempern tauglich, in den Rachen ge- schmissen wird; wenn Kranke endlich für ihre Krankheit zahlen und den medizinischen Mitteln zur Kurierung entsagen sollen, weil staatliche Kosten verursachend: "Krankenhaustagegeld" wird erho- ben, Tabletten teuer und der Vertrauensarzt ein krisenfester Job... Summa summarum: "Wir werden den Sozialstaat erhalten, indem wir seine wirtschaft- lichen Fundamente festigen." So bringt die "Krise", in deren Namen Kohl ein Volk zum Neuanfang aufruft, jedem etwas: - der Geschäftswelt eine Durchmusterung, die über staatliche Hilfe entscheidet; - der arbeitenden Menschheit die Aussicht, allseitig als Material für dieses Geschäft zu dienen; den Ausgemusterten, kostengünstig abgeschrieben zu werden; - allen Dreien: einen Beitrag für Deutschland abliefern zu dür- fen; und Kohl und Co. die volle "Handlungsfähigkeit", die schließlich Leistung und Gehorsam der Bürger benutzt, wenn sie beides voran- treibt. - der neuen SPD-Opposition ein neues Profil: "Sie blühen auf in ihrer neuen Stellung." (Frankfurter Rundschau) Die neue Opposition ------------------- Ihr fällt es nicht schwer, die politchristliche Tour zu "entlarven" - nur: wie? "Es ist die Wende zum Klassenkampf von oben nach unten und zur Umverteilung von unten nach oben." "Eine die Opferbereitschaft der Bürger zerstörende Entsolidari- sierung wird die Folge sein." (Ehmke) Auch diesem Herrn schlug nicht die Stunde der Wahrheit; denn wenn er die Sache mit dem christlich-liberalen Klassenkampf ernst ge- nommen hätte, hätte er wohl die Sache umgedreht - und das hätte mit einer Parlamentsdebatte nicht sein Bewenden gehabt. Die har- ten Töne über die wirklichen Kosten der Bonner Politik, der Rück- fall in den doch sonst so "überholten" Klassenkampf-Jargon - ha- ben mit der Parteinahme für die Gedeckelten der Politik herzlich wenig zu tun. Die Maßnahmen, die Kohl gar nicht zimperlich ankün- digt, sind dem Oppositionsführer scheißegal. Er beschwört eine Wirkung, die er daraus hervorkommen sieht: daß nämlich unter ei- ner CDU-Regierung die Botmäßigkeit der Gebeutelten Schaden nehmen könnte, die eine SPD mit ihren Solidaritätsappellen so gekonnt bewahrt hat bei i h r e r Durchsetzung eben derselben Opfer. Die Wahrheit also: in der Kunst, das Volk zu deckeln, will sich die Sozial-Demokratie nicht übertreffen lassen, "leider" ist ihr die Ausübung der Kunst zur Zeit etwas verwehrt. Soviel zur "Übergangsopposition". zurück