Quelle: Archiv MG - BRD ALLGEMEIN - Auf dem Weg zur Weltmacht
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Der russische Bär auf dem Bonner Parkett
UNSER ALLER 'GORBI'
Vordergründig sah es so aus, als wäre Michail Gorbatschow in Bonn
am Rhein besser aufgehoben als zuhause an der Moskwa: Statt maro-
dierender Usbeken in der Provinz und dissidierender Perestroika-
Trittbrettfahrer Marke Sacharow im Volksdeputiertenrat, nichts
als jubelnde deutsche Menschen, die "Gorbi, Gorbi!" riefen, wo
immer der oberste Sowjet sich zeigte.
Dieser Russe soll deshalb so ungemein sympathisch sein, weil er
überhaupt nicht wirkt wie ein Kommunist. Dafür tut er auch eini-
ges: Mit weltmännischem Auftreten und entsprechender Frau richtet
er sich zum leibhaftigen Anti-Feindbild her. Diese Imagepflege
wäre freilich weitgehend unbemerkt geblieben, hätten nicht die
Politiker die Parole ausgegeben, daß der neue Geist in Moskau und
sein Initiator uns hervorragend in den Kram passen. Die Belege
dafür liefert Gorbatschow selbst, indem er zuhause alles so um-
krempelt, als wollte er noch dem letzten antisowjetischen Vorur-
teil bei uns rechtgeben. Zumindest will man hier Perestroika so
verstehen. Und dafür hat man hierzulande einen guten Grund: Der
Mann macht außen- und rüstungspolitische Angebote, die sich die
NATO früher kaum hätte träumen lassen. Und den Bonner Größen ge-
fällt es ganz besonders, daß Gorbatschow sie als westeuropäische
Führungsmacht hofiert. Da verkaufen wir ihm doch gern unsere süd-
westdeutsche High-Tech und glauben ihm, was er vorführen will:
Diese Sowjetunion ist auf dem Weg der Besserung. Das hat natür-
lich die BRD nicht zufriedengestellt, sondern nur noch an-
spruchsvoller gemacht.
Vor Tische las man's anders
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Kanzler Kohl ließ sich nicht durch die überholten Sitten der
Gastfreundschaft daran hindern, dem Besucher, noch ehe der erste
Gang serviert wurde, in offener und ehrlicher Unverschämtheit
hinzureiben, als was und wofür er einzig und allein die Ehre ge-
kriegt hat, in Bonn vorbeischauen zu dürfen. Beim Staatsfressen
in der Bonner Redoute gab's eine Tischrede des Wende-Kanzlers
fürs Stammbuch des Perestroika-Kommunisten, die an Deutlichkeit
nichts ausließ, was anscheinend inzwischen möglich ist in den
deutsch-sowjetischen Beziehungen.
Kohl hebt einerseits seine BRD und die komplette NATO über den
Schellenkönig in den Himmel als gelungenstes und allermenschlich-
stes Stück Staat mit Militärbündnis, das es je auf Erden gegeben
hat. Andererseits reibt er in den herzlichen Glückwünschen und
Ermutigungen zur grundlegenden Reform des Sowjetsystems dem Rus-
sen ganz plump hin, daß es ein einziger Scheiß gewesen sein muß,
was sich in den letzten 70 Jahren seit der Oktoberrevolution drü-
ben im Reich des Bösen abgespielt hat.
Dem bei deutsch-russischen Begegnungen unvermeidlichen Thema "II.
Weltkrieg" nimmt der Kanzler mit neuesten Ergebnissen der
Geschichtsforschung jegliche Peinlichkeit:
"Vor 50 Jahren begann der II. Weltkrieg mit dem Überfall auf Po-
len, das kurz zuvor durch einen schändlichen Pakt geteilt wurde."
Nachdem sich so Hitler und Stalin die Schuld am II. Weltkrieg
teilen dürfen, ist völlig klar, wer ein Recht auf die Korrektur
seiner Ergebnisse hat - schließlich haben wir ihn verloren:
"Unser Vaterland und seine alte Hauptstadt Berlin wurden geteilt.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen in Ost und West ist
ungebrochen. Die fortdauernde Teilung empfinden wir wie eine of-
fene Wunde."
Das ist der "neue Geist", der zu jenem "historischen Dokument" -
der "Bonner Erklärung" - geführt hat, das die deutsch-sowjeti-
schen Beziehungen auf eine "neue Ebene hebt". N e u ist das
schon: S o unverfroren hat noch niemand seinen sowjetischen Ge-
sprächspartnern den Wiedervereinigungsanspruch aus dem Hitler-
Stalin-Pakt abgeleitet.
Dazu passen dann auch die alten BRD-"Abrüstungsangebote", denen
zufolge die Russen eine weitere Wunde heilen sollen -
"Hier ist das Übergewicht auf Seiten des Warschauer Pakts für uns
besonders bedrückend." -,
selbstverständlich "durch e i n s e i t i g e n Abbau", damit
wir unsere amerikanischen Freunde dazu überreden können, unter
Umständen über Kurzstreckenraketen zu verhandeln.
Und selbst für die Abteilung 'kulturelle Artigkeiten' haben seine
Sachbearbeiter dem Kohl noch ein paar feine Anspielungen auf das
Zeitlose an der russischen Kultur ins Tischredenmanuskript ge-
schrieben: Als "große Vorbilder" für deutsch-russischen "Aus-
tausch in Kultur und Wissenschaft" darf der Pfälzer einen dich-
tenden zaristischen Großgrundbesitzer (Turgenjew), einen anti-
bolschewistischen Exilmaler (Kandinskij) und einen dank Hollywood
zu Weltruhm gelangten Sowjetdissidenten (Boris "Dr. Schiwago"
Pasternak) anführen.
Zum krönenden Abschluß gemahnt der bundesdeutsche Kanzler noch an
die Restbestände großdeutschen Volkstums in der Sowjetunion und
trägt dem Gorbatschow treuherzig eine Einmischung in die inneren
Angelegenheiten der Sowjetunion als "Hilfe" an:
"Wir wollen ihnen (den 'Wolgadeutschen') gerne helfen, ihre Reli-
gion, Sprache und Kultur zu pflegen."
Nach einem dezenten Hinweis auf die "mitmenschliche Solidarität",
mit der sich die Bundesregierung ins armenische Erdbeben einge-
schaltet hat, hebt Kohl sein Glas - und der sowjetische Gast be-
dankt sich artig. "Nahezu unglaublich!" kommentiert Egon Bahr für
die SPD diese neuen Verhältnisse zwischen der BRD und der UdSSR,
und erinnert sich und uns, "wie schwer wir uns noch mit Breschnew
getan haben." Unglaublich, aber leider wahr.
Ein Besuch der akzeptierten Zumutungen
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Die ganze Kohl-Rede, auch und erst recht die "Bonner Erklärung",
die in der Sache ebenso beinharte, wenn auch gewisse Formulierun-
gen vermeidende Weizsäcker-Rede - das alles macht dem Sowjet-
menschen lauter Posten auf, was von ihm und seinem Land an
N a c h g i e b i g k e i t, ja an Übernahme von Wertungen und
Positionen des Westens erwartet bzw. v e r l a n g t wird. Und
"Gorbi" redet über nichts anderes als über seine Bereitschaft zu
Vorleistungen, zum Nachgeben, zur Einsicht, daß die alten Posi-
tionen und Wertungen der Sowjetunion wenn nicht falsch, so doch
zumindest "mißverständlich" gewesen sind. In der "Bonner Erklä-
rung" erteilt die UdSSR vorbeugend ihre Zustimmung zur Auflösung
des Sozialistischen Lagers, während die BRD kein Jota von ihrer
Auffassung, die DDR sei ein Unstaat, der schleunigst weggehöre,
zurücknehmen muß. Alle Kampftitel der NATO in Sachen Menschen-
und Völkerrechte werden von den Unterzeichnern als
g e m e i n s a m e M a x i m e n innerstaatlicher Verhältnisse
und zwischenstaatlicher Beziehungen anerkannt. Ab sofort können
sich der westdeutsche Antikommunismus und der regierungsamtliche
Revanchismus auf eine mit dem Adressaten vereinbarte ideologische
Plattform berufen.
Dazu passen hervorragend die zahlreichen Bürger- initiativen, die
vor und während des Besuches per bezahlter Anzeige "Offene
Briefe" an Gorbatschow in westdeutschen Tageszeitungen drucken
ließen. Ihnen allen gemeinsam ist das vorgeschobene Kompliment an
den "Lieben Herrn Gorbatschow", mit dem der KPdSU-Generalsekretär
und Staatspräsident der Sowjetunion zum quasi natürlichen Patron
aller antisowjetischen Hetze ernannt werden soll. Da ist sich die
erzreaktionäre "Gesellschaft für Menschenrechte" mit dem aus der
Anti-AKW-Szene stammenden "David-gegen-Goliath"-Unterschriftstel-
lerverein darin einig, daß sich der Sowjetführer in fortschritt-
licher Anwendung der "Breschnew-Doktrin" um die Auflösung der DDR
zu bemühen hätte ("Sorgen Sie dafür, daß die Mauer weg kommt!"),
und ausgerechnet G o r b a t s c h o w wird aufgerufen,
"Vorleistungen in Sachen Abrüstung" zu erbringen.
So kommt er allen gerade recht, "unser Gorbi!" Ein sowjetischer
Politiker als Hoffnungsträger für Deutsche von der CDU u n d
aus den Reihen der Grünen. Ein Kommunist als Adressat aller anti-
kommunistischen Weltordnungs- und -beglückungsvorstellungen. Mit
einem Wort: So ziemlich der widerlichste Staatsbesuch, den es je
gab!
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