Quelle: Archiv MG - BRD ALLGEMEIN - Auf dem Weg zur Weltmacht
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Die Mauer ist weg!
DDR KAPUTT - SCHÖNSTE ÜBERNAHMEPERSPEKTIVEN IN BONN
Nach Lexikondefinition besteht ein Staat aus 3 Grundelementen:
Staatsmacht, Staatsterritorium und Staatsvolk. Ein Angriff auf
die ersten beiden ist allgemein als aggressiver, eigentlich nur
kriegerisch durchführbarer Akt bekannt. Ein durchgeführter An-
griff auf das dritte Element ist ein Unikum in der Staatenwelt.
Bekannt ist dergleichen nur als internationaler Anspruchs- und
Rechtstitel. Hitlers und der BRD Volkstumspolitik im Osten ist da
einschlägig: In Polen, Rumänien und der Sowjetunion leben Men-
schen deutscher Rasse unter undeutscher Regierung, also unter
Fremdherrschaft; Teile der Untertanen dieser Länder unterstehen
einer besondern Obhut der deutschen Regierung, die darauf auf-
paßt, ob sich die rassefremden Herren auch nicht an unseren
Deutschstämmigen vergehen. Im Fall der DDR wird gleich das ganze
Volk dieses Staates als deutsches Volkstum unter Fremdherrschaft
definiert und als eigentlich unter Bonner Regie gehörig bean-
sprucht.
Die Mauer
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Die frühe Nichtanerkennungspolitik gegenüber dem "Gebilde" hat
sich nach dem Scheitern der Kalten-Kriegs-Hoffnungen auf schnelle
Wiedervereinigung zur Nichtanerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft
gewandelt, einer Form des Angriffs auf diesen Staat, die neben
dem Ausbau wirtschaftlicher Kooperation und dem Aufbau von Abhän-
gigkeiten auch schon vor einer Auflösung des DDR-Staates prakti-
kabel und wirkungsvoll war. Daß die DDR Mauer und Stacheldraht
braucht, um ihren Laden zusammenzuhalten, weiß jeder. Und zwar
als Anklage an den ostdeutschen Staat, dem die Leute davonlaufen
wollen, wenn sie können. Daß die Bürger diesem Staat davonlaufen
können, wenn sie wollen, ist den wenigsten als Besonderheit auf-
gefallen. Normalerweise werden Bürger eines Landes nämlich des-
halb von ihrem Staat nicht am Grenzübertritt gehindert, weil sie
dort, wo sie aus geschäftlichen oder touristischen Gründen hin-
reisen, ohnehin nicht bleiben dürfen: Asylbewerber und Türken in
der BRD können davon berichten. Auch wo es um die Anwerbung von
Gastarbeitern und ums Ziehen-Lassen, wo es um Ein- oder Auswande-
rung geht, ist alles dies Gegenstand zwischenstaatlicher Verein-
barungen, denn es ist Völkerrecht, daß jedem Staat sein Volk ge-
hört, und nur dieses auf seinem Territorium ohne Sondergenehmi-
gung leben darf. Den jetzt bekannt gewordenen Übersiedlungswunsch
von einigen Hundert Süditalienern in die DDR, die das realsozia-
listische Sozialstaatsangebot mit dem Leben in ihrem EG-Erfolgs-
land verglichen haben, lehnt die DDR bedauernd ab: Es bestünden
keine entsprechenden Vereinbarungen mit Italien - und der feind-
seligen Abwerbung will sich das völkerrechtsliebende Land, das
unter einer solchen zu leiden hat, nicht schuldig machen.
Daß auch die DDR ihr Volk als Staatseigentum behandelt, als Res-
source der Nation, die sie sich nicht stehlen läßt, kann man an
der DDR wohl sehen. Das unterscheidet sie aber von keinem Staat
der Welt. Daß man es an ihr so gut sehen kann, kommt nur daher,
daß sie darum kämpfen muß. So hat die grundsätzliche Nichtaner-
kennungspolitik der BRD der DDR erst einmal die Notwendigkeit des
Mauerbaus aufgezwungen: diesen allen sozialistischen Idealen von
Volksbeglückung hohnsprechenden Offenbarungseid. Mit schlechtem
Gewissen und unter Verleugnung der wirklichen Gründe (der
"antifaschistische Schutzwall" ist offiziell gegen die Infiltra-
tion von Konterrevolutionären und den Ausverkauf guter Ostware
gegen schlechtes Westgeld errichtet worden!) hat sich die SED
1961 zu diesem Akt staatlicher Selbstverteidigung entschlossen,
sich als Staat konsolidiert und die existenzbedrohenden Ansprüche
aus der Westzone abgeschmettert, d.h. für lange Zeit auf bloße
Ansprüche und Rechtspositionen zurückgestuft. Im Sommer 1989 ist
der erfolgreiche und, wie es lange schien, immer erfolgreichere
Kampf um die Sicherung der DDR-Hoheit über ihr Staatsvolk verlo-
ren gegangen.
Sozialistischer Frontstaat ohne Hinterland
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Daß aus der Anmaßung der BRD gegenüber der DDR-Staatsbürgerschaft
ein wirklicher Angriff und eine tatsächliche Destabilisierung der
DDR wurde, hängt gerade nicht am puren Verhältnis dieser beiden
Staaten. Die kleine DDR konnte ihre Absage an den Anspruch der
großen BRD, das Deutsche Reich wiederherzustellen, als dessen am-
putierter Nachfolger sich die BRD sieht, überhaupt nur dadurch
entgegentreten, daß sie - Produkt des Systemgegensatzes nach dem
2. Weltkrieg - die militärische Macht und die politische Exi-
stenzgarantie des sozialistischen Blocks hinter sich wußte. Nur
die Rote Armee, deren Präsenz "mitten in Europa" im Westen ja
auch als Unrecht beklagt wird, hat die Bundeswehr 40 Jahre lang
vom Wiedervereinigen abgehalten. Deshalb war die DDR, bei der
nicht nur die Staatsform, sondern die E x i s t e n z a l s
S t a a t auf dem Systemgegensatz beruht, stets der treueste
Bündnispartner der Sowjetunion und der zweifellos
"sozialistischste" aller sozialistischen Staaten. Seitdem man im
Kreml unter dem Stichwort "Perestroika" den Systemgegensatz unin-
teressant findet, vom Kapitalismus lernen und importieren will,
soviel man kriegt, seitdem man die militärische Konfrontation
durch einseitigen Rückzug aus möglichst vielen Konfliktfeldern
obsolet machen möchte, hat der DDR die Stunde geschlagen. Sie muß
nun die historische Ungerechtigkeit erleben, daß das sozialisti-
sche Musterländle, das mit seiner erfolgreichen Wirtschaftspoli-
tik keine Perestroika nötig hatte, nun doch neu und ganz neu ta-
pezieren muß. Ironischerweise nicht, weil ein Befehl aus Moskau
gekommen wäre, und das Politbüro nun wieder einmal von der So-
wjetunion das Siegen lernen dürfte, sondern gerade deshalb, weil
in Moskau an so etwas kein Interesse mehr besteht: Gorbatschow
schafft mit dem sowjetischen Teilrückzug aus Europa, mit dem
Beendigen jeder inneren Blockpolitik und Disziplin im Warschauer
Pakt schlicht eine Lage, in der die DDR nicht mehr nach ihren
Maßstäben weitermachen kann. Ihre Eigenständigkeit beruhte näm-
lich auf der feindlichen Entgegensetzung gegen den deutschen Ka-
pitalismus und damit auf dem sozialistischen Block.
Die innere noch nicht äußere, Auflösung des Ostblocks setzte in
Ungarn und Polen ein Nationalinteresse frei, das sich längst an
dem Blockzusammenhang gerieben hatte. Die wirtschaftliche Ruinie-
rung durch Westhandel und die Devisenverschuldung vor allem ge-
genüber der BRD ist in diesen Ländern schon so weit gediehen, daß
sie die Chance für ihre Nation im Systemwechsel zum Kapitalismus
sehen und sich, so gut es geht, an die westeuropäische Vormacht
ranschmeißen. Zuerst rissen die Ungarn öffentlichkeitswirksam den
Stacheldraht an ihrer Grenze zu Österreich ein und eröffneten der
halben Million DDR-Urlauber die freie Wahl der Deutschlands, die
ihr Staat bisher durch die Unterstützung des Bündnisses
(weitgehend) unterbunden hatte. Als die Fluchtwilligen durch die
Leichtigkeit der freien Auswahl dann immer mehr wurden, brach Un-
garn die Verträge mit der DDR über den Transit von DDR-Bürgern
und schloß sich der bundesdeutschen Definition der automatischen
BRD-Staatsangehörigkeit aller Deutschen an. In der Liebedienerei
gegenüber der westdeutschen Anmaßung einer "besondern Obhuts-
pflicht" gegenüber den Bürgern der DDR ging Polen nicht so weit,
noch weniger die CSSR: Letzten Endes behandelten jedoch alle
Nachbarstaaten der DDR die Sache als "deutsch-deutsches Problem",
über dessen Lösung sich "die beiden deutschen Staaten einig wer-
den müßten." Dies aber ist schon die ganze Schwächung der DDR,
deren Fähigkeit, ihrem Rechtstandpunkt Geltung zu verschaffen,
darauf beruht hatte, daß die Nachbarn den westdeutschen Angriff
darauf als einen auf sich betrachteten, die Zurückweisung dessel-
ben als ihre Angelegenheit und nicht als ein Problem, mit dem die
DDR selber fertigwerden muß. Nun kann sie in ihrem eigenen Block
ihr Recht nicht mehr gegen die Ansprüche des reichen und mächti-
gen Feindes im Westen durchsetzen. Sie stimmt den Ausreisen zu,
die sie überhaupt nicht mehr kontrolliert, wahrt den Schein von
Souveränität, indem sie die schon unter der Schirmherrschaft des
Feindes stehenden eigenen Bürger nachträglich ausweist und die
Züge des Flüchtlingstrecks über DDR-Territorium leitet. Die Ber-
liner Mauer steht als Bauwerk noch, ihre Leistung ist dahin. Und
jeder wußte doch, daß die DDR die Mauer braucht!
Gelegenheit macht Fluchtwellen
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Während alle rechtgläubigen Westler nun wissen wollen, die gebro-
chenen Dämme in Budapest Warschau und Prag offenbarten nur einen
ewig niedergehaltenen, unbändigen Ausreise- und Freiheitswillen
von potentiell Millionen DDR-Bürgern, verhält es sich tatsächlich
umgekehrt: Die erwiesene Unfähigkeit der DDR, ihrer Staatsbürger-
schaftsdefinition Geltung zu verschaffen, produzierte erst den
zigtausendfachen Ausreisewunsch; so sehr, daß viele DDR-Urlauber
in Ungarn, die daheim nie daran gedacht hatten, einen Ausreisean-
trag zu stellen, ihren Wunsch danach erst durch die leichte
Flucht anderer verspürten. Je mächtiger die BRD als Schutzmacht
Fluchtwilliger auftrat, desto mehr wurden es und desto frecher
wurden sie; und je mehr kamen, desto mehr wollten kommen - es ist
wie mit der Hausse an der Börse: Die Bewegung nährt sich selbst.
Solange die Mauer undurchlässig war, hatte das "Völkergefängnis"
nicht einen feststehenden, millionenfachen Fluchtwillen an der
Ausführung gehindert, sondern so einen Willen (nachdem er durch
den Mauerbau einmal entmutigt war) jahrzehntelang gar nicht erst
aufkommen lassen. Da hatte der abgesägte Honecker seine opportu-
nistischen Pappenheimer gar nicht so falsch eingeschätzt.
Erst die Unfähigkeit der DDR, das Sonderangebot der BRD an ihre
Bürger - automatische Anerkennung als Staatsbürger samt Einglie-
derung in alle sozialen Systeme - zu unterbinden, macht jeden be-
liebigen Gesichtspunkt persönlicher Unzufriedenheit zu einer
praktisch gültigen, konsequenzenreichen Staatsangehörigkeits- und
Systemfrage. Es stimmt nämlich nicht, daß das Leben in anderen
Staaten so viel attraktiver wäre, Unzufriedenheit ausbliebe und
die Leute ihrem Land nur nach reiflicher Überlegung und Abschät-
zung aller Vor- und Nachteile die Treue hielten. Die Bürger sind
nur das Spiegelbild des staatlichen Besitzanspruches auf sie,
d.h. sie gehören einer Nation einfach und fraglos an. Diese Basis
steht gar nicht zur Diskussion, wenn Unzufriedenheit laut wird,
zum leisen Maulen, Protestwählen oder gar mal zu einem Streik
führt. Den berühmten Blick in die Welt und die Suche, wo es viel-
leicht schöner, reicher oder bloß wärmer wäre, kennen die Bürger-
jedes Staates als theoretisches Vergnügen, mit dem man sich be-
weist, daß man es daheim letztlich doch ziemlich gut getroffen
hat; man weiß auch, wohin man dafür den vergleichenden Blick zu
wenden hat (am besten auf das Elend der "Dritten Welt", und auf
das 19.Jahrhundert). Soweit sich DDR Bürger dieses Vergnügen zu-
gänglich machen wollen, finden auch sie reichliches Vergleichsma-
terial, im eigenen Block und anderswo.
Aber für sie, und nur für sie, hat dieser ideologische Spaß auch
eine praktische Seite: Der Vergleich gilt auch, wenn er negativ
ausgeht! Und dazu brauchen sie gar nicht zu entscheiden, ob ihr
Unmut sich einer persönlichen Stimmung verdankt oder einem öf-
fentlichen Mißstand, ob der Mißstand das Versagen eines Menschen
im guten System oder eine systembedingte Unmenschlichkeit ist, ja
nicht einmal, ob der Anlaß ihres Unmuts überhaupt wichtig ist
oder nicht. Er ist wichtig, weil ihn der Feindstaat im Westen mit
einer Macht ausstattet, gegen die die DDR nichts ausrichten kann.
Nur wegen der bundesdeutschen Absicht, die DDR aufzulösen, gibt
es diesen praktizierten Systemvergleich von DDR-Bürgern. Sie mei-
nen, sie betätigten ihre höchst persönlichen Vorlieben, und kom-
men sogar in ihren Wünschen nur auf das, was ihnen im Rahmen der
Zerstörung des Ost-Staates als Gelegenheit angeboten wird: Über-
siedlung zum Feind. Sobald sie sich für den Wechsel entschieden
haben, wissen sie auch, daß sie gesamtdeutsche Konjunkturritter
sind, geben mit dem Unterschied von echten Deutschen zu Türken an
und hassen die DDR, bloß weil sie dürfen.
"Der Staat beruht auf dem Willen des Volkes" -
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ein klarer Fall von Staatskrise
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Tausende siedeln aus der DDR also nicht deshalb in den Westen
über, weil im Inneren der DDR irgend etwas anders geworden wäre
als die ganzen Jahre bisher. Nicht weil es in der DDR eine Krise
gäbe, hauen sie ab, es gibt vielmehr eine Krise, weil sie ab-
hauen. Die ungebremste und unabsehbar unbegrenzbare Abwanderung
ist überhaupt die ganze Krise der DDR. Sicher fehlen schon jetzt
die 100000 an den Arbeitsplätzen, funktioniert manche Krankensta-
tion und manche Planerfüllung nicht mehr. Entscheidend aber ist
das Prinzip: Dieser Staat hat sein Volk nicht mehr im Griff; er
kann sich ihrer nicht mehr sicher sein, sie nicht mehr einplanen
und damit seine eigenen Pläne nicht mehr sicherstellen. Die DDR
ist auf einmal der einzige Staat der Welt, der auf der guten
Laune seiner Mannschaft beruht. Während sich sonst das staatsbür-
gerliche "Ja" zu den angeordneten (Sach-)zwängen schon wegen de-
ren Unvermeidlichkeit einstellt, braucht die SED die Macht der
Gewohnheit und den freien Willen der Mannschaft zum Dableiben und
Mitmachen, dafür, daß sie überhaupt kommandieren kann.
Wo ein ganzer, durchaus schlagkräftiger Apparat von Polizei,
Stasi und Betriebskampftruppen sich so an seinen Grenzen zur Ohn-
macht verurteilt sieht, da ist der Staat in Nöten: Jenseits von
politischer Opposition und Aufstand hat er sein Volk nicht mehr
im Griff. Das muß Opposition und Unmut hervorrufen. Verantwortli-
che Patrioten finden das nämlich furchtbar, gehen auf die Straße
und fordern lautstark: "So kann es nicht weitergehen!" Diese For-
derung an den SED-Staat muß keineswegs so offen - ja "objektiv" -
ausgedrückt werden, wie das die Vertrauensleute beim Berliner VEB
Bergmann-Borsig taten: "Die ruinöse Ausreisewelle muß gestoppt
werden!", man kann auch, wie die demonstrierende Leipziger Bevöl-
kerung einfach meinen, dieser Staat hat das Vertrauen seiner Bür-
ger verspielt und hat es schleunigst wiederherzustellen: Wie
dringend das ist, entnehmen auch die aufmüpfigen Leipziger den
Flüchtlingszahlen. An den Rübermachern sehen sie es: Die Menschen
glauben nicht mehr an diesen Staat und sehen keine Perspektive
mehr. Deshalb sehen auch sie es so und ziehen einen anderen
Schluß: "Wir bleiben hier!" Sie versichern ihren Staat der prin-
zipiellen Treue und drohen zugleich damit, daß er ihr Mißtrauen
nicht so leicht loswird wie die Rübermacher. Sie klagen als ihr
Recht und als absolute Notwendigkeit ein, daß die nur in diesem
Staat gültige, durch die Ausreisen bloßgelegte und als fehlend
bloßgelegte Staatsgrundlage wieder hergestellt werde: Der Staat
muß sich ihres Vertrauens würdig erweisen - und zwar vor allem
dadurch, daß er ihnen Vertrauen entgegenbringt und sie nicht miß-
trauisch beaufsichtigt: R e i s e f r e i h e i t - denn gute
Bürger kommen wieder, wenn sie nicht gehalten werden.
Ehrliche, n i c h t b e s c h ö n i g e n d e B e r i c h t-
e r s t a t t u n g - denn gute Bürger brauchen für den Staat
nicht mit, auch noch erschwindelten, Leistungen gewonnen zu
werden, sie vertragen die ungeschminkte Wahrheit. Sie wollen auch
in verfahrenen Lagen ins Vertrauen gezogen werden und im
D i a l o g den gemeinsamen Weg finden; weil der dann besser
ist.
Die innere Opposition, von der die FAZ noch im September berich-
tete, sie bestehe aus kleinsten Grüppchen in Leipzig, Dresden und
Berlin, die sich untereinander nicht leiden könnten, ist nicht
durch die überzeugende Programmatik des "Neuen Forums", nicht
durch eine andere selbständige innere Kritik der DDR zur Massen-
bewegung angeschwollen, sondern durch die reale Schwächung der
Herrschaft der SED. D i e ermutigt Leute, ihre Unzufriedenheit
mit ihr auf die Straße zu tragen und ein grundsätzlich neues Ver-
hältnis der Staatspartei zu ihnen, dem "Volk", einzuklagen - wie
auch immer das aussehen soll.
Die SED: "Wir werden ideologisch wieder in die Offensive gehen!"
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Was der DDR als Gegenwehr gegen die ihr von der BRD bescherte
Staatskrise bliebe, wird im Westen genüßlich diskutiert: "Eine
Mauer nach Osten bauen." Dann würde, "der Druck im Kessel" frei-
lich bedenklich steigen. Ganz realistisch spekulieren westdeut-
sche Humanisten auf blutige Volksaufstände. Andererseits, die
Bündnispartner im Osten zu Feindesland erklären, das, wissen sie,
kann sich die DDR sowieso nicht leisten: "Eine albanische Rolle
kommt für ein hochentwickeltes Industrieland mitten in Europa
nicht in Frage." Der DDR bliebe nur die Radikalisierung der Iso-
lation, in die sie in ihrem eigenen Block und im Rest der Welt
ohnehin geraten ist. Das verträgt sich aber nicht mit ihrer
Staatsräson: Sie will Exportnation bleiben, weltpolitisch aktiv,
eine getragte Adresse in der Welt, vom Sport bis zur Beteiligung
an UNO-Polizeitruppen; und nach wie vor will sie ihren Bürgern
Reisemöglichkeiten bieten, die sie für einen Bestandteil des eu-
ropäischen Lebensstandards hält. Alles andere wäre ein Rückfall
hinter den immerhin erreichten Erfolg, die zweitwichtigste Macht
im sozialistischen Lager zu sein.
So gibt es k e i n e A b w e h r dieses Angriffs für sie und
die SED geht, wie sie sagt, eben nur ideologisch in die
O f f e n s i v e. Sie anerkennt die grundsätzliche Schwächung,
die der DDR zugefügt wurde, beschließt damit zu leben; sie aner-
kennt die Staatskrise und daß die alte Konsolidierung unter
Honecker nicht mehr zu haben ist, wechselt die Mannschaft aus und
kündigt eine Wende an.
Diese besteht 1. darin, daß die DDR die für sie demütigende
Fluchtbewegung über BRD-Botschaften in befreundeten Ländern da-
durch bekämpft, daß sie daheim Dienststellen "für eilige Ausrei-
seangelegenheiten" einrichtet, die in Stunden erledigen, was die
Obhut der Botschaften in Tagen und Wochen schafft.
Diskutiert wird 2. eine allgemeine Reisefreiheit für jeden. Die-
ses Ende der ewig eifersüchtig gehüteten Hoheit über das Volk
soll nun auf einmal gar kein Schaden mehr sein, viel lieber sieht
man es als Zugeständnis und Vertrauensbeweis ans gute Volk; als
Probleme gelten jetzt nur mehr die Devisen, die es fürs allge-
meine Reisen ins kapitalistische Ausland bräuchte, und die man
nicht hat.
Das führt 3. zu der Suche nach neuen Devisenquellen und damit
zielsicher an die Adresse des Feindes, der der DDR ihre ganze
Staatskrise beigebracht hatte: Nachdem er sich ein paar Sätze
lang bitter über die völkerrechtswidrige BRD-Anmaßung der Obhuts-
pflicht für die DDR-Bürger beklagt, macht der neue Generalsekre-
tär Egon Krenz dem Feind Angebote für "engere Zusammenarbeit";
ein Wirtschaftsprofessor im immer pluralistischeren DDR-Fernsehen
faßt gleich Joint Ventures mit dem System ins Auge, das sich zum
Sozialismus mal "wie Feuer und Wasser" verhielt, die daraus erlö-
sten Devisen könnte man in den Reiseverkehr stecken.
Dazu muß natürlich 4. die DDR-Wirtschaft auch intern noch mehr an
die Maßstäbe des kapitalistischen Außenmarkts angepaßt, d.h.
"effizienter" gemacht werden, man will das "Leistungsprinzip
durchsetzen", die "Akkumulation beschleunigen ", "die Konsumgü-
terproduktion steigern", und alles gleichzeitig.
Der von unten diagnostizierte, ganz unbestimmte Vertrauensverlust
von Partei und Medien wird 5. von oben ebenso grundsätzlich und
unbestimmt bekämpft: Mut, Kritik, Offenheit, Ehrlichkeit und To-
leranz beherrschen nun ein lebhaftes Debattieren, und zwar als
Themen.
Die i d e o l o g i s c h e O f f e n s i v e der SED besteht
darin, die Niederlage, die sie nicht verhindern kann, in einer
Weise zu akzeptiern, daß der Eindruck entsteht, es sei nun ihr
Wertewandel und nicht die Macht der BRD die die neue Lage
schafft. Mit dieser hinreißenden Idee bemüht man sich um die Er-
neuerung des Vertrauensverhältnisses von Staat und Volk, von dem
man nun ja mehr denn je abhängt.
Wiedervereinigung - schon gelaufen?
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Durch den Rückzug der sowjetischen Garantie sieht sich die DDR
für ihre Zukunftssicherung auf das Arrangement mit und die Annä-
herung an eben den Feind verwiesen, der ihre Existenz selbst für
unerträglich erklärt und so behandelt. Hier präzisiert sich der
Sinn von Gorbatschows im Juni in Bonn erklärten Verzicht auf die
"Breschnew-Doktrin": "Jedes Land muß seine Probleme selbst lö-
sen!" - eine NATO-Eroberung wird darin ausgeschlossen, ein sowje-
tischer Beistand zur Erhaltung des politischen Systems der DDR
aber ebenso. So eröffnet die Sowjetunion nun nach Polen und Un-
garn, wo es "nur" um die Eingliederung sozialistischer Länder in
die westdeutsche kapitalistische Einflußzone geht, sogar im Fall
der DDR, wo die Eingliederung eines Staates in einen anderen Sinn
gemeint ist, dem neuen weltpolitischen Partner die Perspektive
einer f r i e d l i c h e n E r o b e r u n g, als ob die Rus-
sen den Wahnsinn der Grundgesetzpräambel wahrmachen wollten: Wie-
dervereinigung in Frieden und Freiheit.
In Bonn gibt man sich diesbezüglich jedenfalls unverschämt sie-
gessicher und scheint schon fast mehr Sorgen mit der Absegnung
dieses Fortschritts durch die westlichen Verbündeten zu haben als
mit einem möglichen "Njet" der Sowjetunion. Die Hetze gegen die
sogenannten Alt-Stalinisten im Politbüro, das Geschrei vom Un-
rechtsstaat ist der gar nicht mehr giftigen, sondern fast schon
mitleidigen Diagnose einer grundsätzlichen Krise des deutschen
Sozialismus gewichen, zu deren Bewältigung "Wir" gefordert sind
und die nur mit "uns" noch geht. "Wir", die die Abwerbung der Zo-
nis so erfolgreich betrieben haben, "müssen dafür sorgen, daß die
Menschen in der DDR bleiben wollen und dort für sich auch eine
Perspektive sehen." "Wir" müssen ihnen zu ihrem Recht auf freie
Wahlen, Demokratie, Dialog und einen, dem unseren vergleichbaren
Lebensstandard" verhelfen, "wir" organisieren, finanzieren und
garantieren drüben "Reformen ", die SED muß uns nur lassen; d.h.
zugeben, daß sie am Ende ist und sich unseren Bedingungen beugen
muß. Die DDR ist in der Zwangslage, bei der Bundesrepublik um ein
denkbar seltsames politisches Geschäft nachzusuchen: Anerkennung
von Souveränitätsrechten der BRD im eigenen Land gegen eine Be-
standsgarantie aus Bonn. Die Bonner Regierung prüft das Gesuch,
verspricht nichts und erhöht den politischen Preis.
Auf dieser Basis - die Bonner Parteien kann man schon gar nicht
mehr unterscheiden kann man auch für Hilfe ohne erpresserische
Bedingungen plädieren, und auf die Wirkung von Kredit und Ver-
schuldung vertrauen, wie darauf, daß die SED um so weicher sein
wird, je mehr sie "das Gesicht wahren" kann, d.h. je mehr ihr er-
laubt wird, aus ihrem Anschluß, oder dem nächsten Schritt
dorthin, wieder eine "ideologische Offensive" zu machen - etwa
das Projekt der "Fortentwicklung des weltoffenen Sozialismus der
90er Jahre". Das Volk im Westen ist wie immer demokratisch voll
dabei und darf sich in Pro und Contra spalten über die Frage:
"Wollen wir die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands oder
nur Freiheit und Demokratie für die DDR verwirklichen?"
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