Quelle: Archiv MG - BRD ALLGEMEIN - Auf dem Weg zur Weltmacht
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DAS GRUNDGESETZ - DER BODEN DES RECHTSSTAATES
I
Bundesdeutsche Bürger können sich glücklich schätzen: Sie genie-
ßen ein Leben in M e n s c h e n w ü r d e, F r e i h e i t
und G l e i c h h e i t, was immer ihnen sonst zustößt und zu-
gemutet wird. Der Garant dieses Glücksfalls ist die staatliche
Hoheit, der die Inhaber bundesdeutscher Pässe unterstellt sind;
sie ist Rechtsstaat aufgrund einer V e r f a s s u n g, die mit
den G r u n d r e c h t e n anfängt, denen dann freilich noch
andere Paragraphen folgen. Auf diese Aufmöbelung der seit der
Französischen Revolution in Umlauf gekommenen bürgerlichen
Staatsideale: liberte, egalite, fraternite waren die "Väter des
Grundgesetzes" mächtig stolz: Erst die Menschenrechte, die den
Zweibeinern per Natur angewachsen sind, und dann ab Art. 20 der
Staat, der mit Regierung, Parlament, Justiz und Polizei dem
"Menschen" dient und dieses etwas haltlose Wesen vorm Umfallen
bewahrt. Das hob den neu geschaffenen demokratischen Rechtsstaat
entscheidend ab von seinem "Unrechts"-Vorgänger und von der Wei-
marer Republik, die an ihrer eigenen (Verfassungs-) Schwäche zu-
grunde gegangen sein soll.
Dabei bekennen politische Verwalter dieses glorreichen Staatswe-
sens durchaus manchmal, daß sie bei ihrer aufreibenden Tätigkeit
"nicht ständig mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen können"
(Der ehemalige CSU-Innenminister Höcherl). Solche Fälle gelten
bei "Spiegel"-Schreibern und -Lesern als Skandal und erzeugen
heftige Kritik. Wenn die einmal grundsätzlich wird, also von
links kommt, dann wird den entlarvten Politikern ein Grundgesetz-
fanatismus entgegengeschleudert, der sich gewaschen hat. An den
unangenehmen Folgen, die sich einstellen, Wenn Politiker die Ver-
fassung bis in die letzten Lebensbereiche zur gesetzlichen Gel-
tung bringen, fällt diesen Kritikern immer nur auf, daß hier der
Geist des Grundgesetzes mit Füßen getreten und mißbraucht worden
sei. Eine Entartung der Republik zum totalitären Machtstaat
drohe, der das Grundgesetzversprechen "lebendige Demokratie" par-
tout nicht einlösen wolle. So - getrennt von den Ansprüchen und
Härten, mit denen der Staat seine Bürger praktisch konfrontiert -
legen alternative Politiker wie Otto Schily ein Bekenntnis zu ei-
nem ganz grundsätzlich guten Zweck der BRD-Staatsgewalt ab und
können sich für ihre kritischen Einwände kein besseres Gütesiegel
vorstellen als den Einklang mit Geist und Buchstaben der Verfas-
sung. Sie nehmen die demokratische Vorstellung von einer Verfas-
sungswirklichkeit, die mit ihrem Anspruch immer nicht überein-
stimmen soll, bitter ernst und wollen deshalb im politischen
Treiben nie den sachgemäßen Gebrauch des GG in seinem "Geiste"
entdecken. Der schlagendste Nachweis, daß es den regierenden Po-
litikern nicht auf die Achtung, sondern auf den Mißbrauch der
Verfassung ankommt, ist die Auflistung der Abänderungen des GG
seit 1949 - statt daß sie vor dem GG wie Moses vor den Gesetzes-
tafeln zur Salzsäule erstarren. In der Hochzeit linker Bewegung
wurde sogar entdeckt, daß das GG bei konsequenter Anwendung die
Revolution überflüssig macht: richtig interpretiert würde es von
einem Tag auf den anderen mit dem Kapitalismus Schluß machen,
weil das E i g e n t u m, wenn schon von sonst niemandem, so
doch vom Staat angetastet werden darf - wären da nicht die
"restaurativen" Verfassungsverwalter, die der sozialistischen Na-
tur der Verfassung Gewalt antun.
Den normalen Sterblichen geht dieser Streit um Anspruch und Wirk-
lichkeit, also um die rechtmäßige A u s l e g u n g der bundes-
deutschen Verfassung nichts an. Er lebt gemäß den Chancen, die
seine verfassungskonform organisierte Umwelt ihm bietet. Wenn er
nicht gegen sie verstößt, braucht er nicht einmal zu wissen, wel-
chen gesetzlichen Bestimmungen er nachkommt, wenn er arbeiten
geht und heiratet - die Pflichten, die sich daraus ergeben, be-
kommt er frei Haus von der Instanz mitgeteilt, die über die Ein-
haltung ihrer Gesetze wacht.
Der sich einstellenden Unzufriedenheit, die darin manches Unrecht
erblickt, tut der Gesetzgeber Genüge. Er erlaubt den seltenen
Rechtsfanatikern, die den Gang durch alle Instanzen bis zum Bun-
desverfassungsgericht nicht scheuen, gegen bereits erlassene Ge-
setze zu klagen. Die Berufung auf die höchsten Hämmer der Verfas-
sung, deren Verletzung beklagt wird, kontrastiert dann etwas mit
der kleinen gesetzlichen Münze, um die da gehandelt wird -
'Schutzhelmpflicht für Kraftradfahrer verstößt nicht gegen Frei-
heit der Person'; 'Hebammen-Altersgrenze als subjektive Zulas-
sungsvoraussetzung verfassungsgemäß'. Um einen Streit, in dem
Bürger ihr verletztes Interesse gegen ein staatliches Gesetz ein-
klagen, geht es bei diesen Rechtsverhandlungen nicht. Das Bundes-
verfassungsgericht nimmt die Klage zum Anlaß, als judikative Ab-
teilung des Staates zu überprüfen, ob der Gesetzgeber im Einzel-
fall sich selbst und seinem rechtlichen Anspruch widersprochen
oder "verfassungskonform" gehandelt hat. Darüber erweisen sich ab
und an Gesetze als "nicht Rechtens". Die Freude über die Verhin-
derung des ersten Volkszählungsgesetzes wird jedoch schnell ge-
trübt, sobald der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Anweisung
beherzigt, sein Gesetzesvorhaben "wasserdicht" zu machen. Der
Zweck staatlichen Wollens steht nicht zur Disposition, wenn auf
das rechtskonforme Zustandekommen der Gesetze geachtet wird. Das
so bediente Rechtsbewußtsein läßt sich freilich weniger darüber
belehren, wofür und für wen Recht und Verfassung gut sind, son-
dern kultiviert noch in den eingesteckten Niederlagen vor Gericht
den guten Glauben, die Grundrechte wären eine n e u t r a l e
S c h i e d s i n s t a n z jenseits von Bürger- und Staatswil-
len.
Demokratische Bürger haben alle ein "gesundes" Rechtsbewußtsein.
Das drängt sie dazu, bei allen erfahrenen Schädigungen und Opfern
die ihnen ihr Staat ganz rechtsstaatlich zufügt und abverlangt,
nicht nach den Zwecken und Absichten dieser Staatsgewalt zu fra-
gen und sich dem Gegensatz, der ihnen da aufgemacht wird, zu
stellen, sondern eine ganz andere Frage aufzuwerfen: D a r f
d e r d a s? Bei dieser moralischen Quizfrage ist eines unüber-
hörbar: das totale und freie Zugeständnis zum uneingeschränkten
Verfügungsrecht der Staatsgewalt: "Sie darf alles, außer..."
II
Während die Trümmerfrauen - heute in ihrer Eigenschaft als Opfer-
gestalten in den Rang nationaler Vorbilder erhoben - den Kriegs-
schutt beiseiteräumten und normale Sterbliche ihre Lebensmittel-
rationen durch Hamsterfahrten aufbesserten, hatten die "Väter des
Grundgesetzes" 1949 Wichtigeres zu tun. An den Hunger- und
Elendsfiguren der Nachkriegszeit wollte ihnen auffallen, daß
denen glatt das wichtigste Lebensmittel fehlte: eine eigene
Staatsgewalt, die die Verwaltung der Not selbst in die Hände
nahm, um daraus eine Quelle nationalen Reichtums zu machen. Ver-
langt hat das keiner von denen, für die gestandene Politiker und
Juristen - die hatte das Kriegsende nicht arbeitslos gemacht -
eine nagelneue Verfassung schmiedeten, die das Volk von Kriegs-
entlassenen, Hinterbliebenen, Flüchtlingen und Zigarettenschnor-
rern als brauchbares Mittel für einen genuin deutschen Staatswil-
len anerkannte. So kam wieder eine neue Lebensqualität zustande,
die deutsche Politiker aller Parteien in der schrecklichen Zeit
nach 1945 vermißt hatten. Sie verschaffte den Beglückten zwar
nichts zum Beißen, aber eine Regierung und ein gewähltes Parla-
ment.
Den Gründungsvätern ging es auch nicht um die Wiederherstellung
von "Recht und Ordnung" als ein zweifelhaftes Angebot an ein
durch Nachkriegswirren verloren gegangenes Ordnungsbedürfnis der
Massen. Da war gerade nach '45 überhaupt nichts versäumt worden
von seiten der alliierten Besatzungsmächte und des deutschen
Staatsapparats, dessen verwaltungsmäßige und polizeiliche Nütz-
lichkeit - Hitler hin oder her - überhaupt nicht in Zweifel
stand, von kleineren Umgruppierungen, "Entnazifizierung" genannt,
abgesehen. Das deutsche Volk, von Hitler zu begeisterten Staats-
bürgern erzogen und von radikalen Elementen gesäubert, hatte mit
einer Wiederholung von 1918 nichts im Sinn. Wo dennoch Streiks
stattfanden und die staatsfeindliche Agitation der KPD störend
bemerkt wurde, da wurde mit Hilfe von Militär und Polizei Abhilfe
geschaffen. Schwarzmarkt und Kriminalität gediehen auf der Grund-
lage dieser gesicherten Rechtsordnung, wie ja überhaupt alle Ver-
brechen - die staatliche Gewalt nicht v e r h i n d e r n, son-
dern b e s t r a f e n will - ihre feste Heimstatt im Rechts-
staat haben.
Die Rechtsordnung, der mit einer Verfassung auf die Füße geholfen
werden sollte, zielte auf Höheres. Eine eigenständige nationale
Staatssouveränität sollte her, die den Ü b e r l e b e n s-
k a m p f d e r M a s s e n auf den Dienst an die durch
Marshall-Plan und Währungsreform sanierte W i r t s c h a f t s-
k r a f t d e s h e i m i s c h e n K a p i t a l s festleg-
te, damit der neuen Staatshoheit auch die ihr gemäßen Mittel zur
Verfügung stünden. Was die Gründungsväter von Herrenchiemsee als
süße Pflicht auf sich nahmen, war ja nicht die Gründung einer
Bananenrepublik, sondern die vorausblickende Absicht, daß das
neue Deutschland, Marke West, berufen war, in der o b e r-
s t e n E t a g e d e r S t a a t e n k o n k u r r e n z
mitzumischen. Der Staatsauftrag, für den dieser Staat sein
Daseinsrecht in Anspruch nahm, war kein geringerer als die
Neuordnung der Welt; deren Ordnung sahen deutsche Politiker im
Verein mit den westlichen Alliierten durch den unbefriedigenden
Ausgang des 2. Weltkriegs grundsätzlich verletzt. Dieser oberste
Staatszweck, aus eigener Machtvollkommenheit die Landkarte der
Welt zu verändern, geht als W i e d e r v e r e i n i g u n g s-
g e b o t dem GG voraus. Für dieses Staatsprogramm haben die GG-
Väter das Staatsmaterial auf den Dienst am kapitalistischen
Eigentum und für die dabei unvermeidlichen Kollisionen gesetz-
liche Vorsorge getroffen. Die Präambel des GG legt die
vielgerühmte Freiheit der Person auf die F r e i h e i t s-
o r d n u n g fest, für die der BRD-Staat seit seiner Gründung
innen- und außenpolitisch alles getan hat, um der Erledigung der
östlichen Unfreiheit näherzukommen. Freiheitlich gesinnten BRD-
Untertanen ist das übrigens kein Geheimnis: Ihnen ist die
Freiheit, in den Grenzen des Erlaubten, mit oder ohne Arbeit, auf
alle Fälle aber mit schmalem Geldbeutel ganz selbstbestimmt
irgendwie über die Runden zu kommen, der gute und einzige Grund,
die Russen und die DDR-Verhältnisse nicht leiden zu können.
Ausgerechnet linke Bewunderer des GG sind aufgrund der Tatsache,
daß sich der neue Staat in der Präambel seiner Verfassung zum
P r o v i s o r i u m erklärte, darauf verfallen, die Gründung
eines Staatswesens wäre hier mit der Absicht einer zukünftigen
freiwilligen Abdankung erfolgt; als wäre das Eingeständnis einer
noch unvollkommenen Staatshoheit, die sich auf Bürger anderer
Staaten erstreckt - "Es hat auch für jene Deutschen gehandelt,
denen mitzuwirken versagt war." - etwas anderes als eine
p r i n z i p i e l l e K r i e g s e r k l ä r u n g.
Wie weit die reichen sollte, legte das GG fest - wenigstens bis
zu den Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 (Art. 116). Daß
diese Aufgabe für den jungen Staat schlecht allein zu erledigen
war, haben die GG-Erfinder nicht übersehen. Sie haben den künfti-
gen politischen Verwaltern erlaubt, staatliche Hoheitsrechte auf
ein "kollektives Sicherheitssystem" zu übertragen, um damit "eine
friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völ-
kern der Welt herbeizuführen" (Art. 24). An die UNO war dabei we-
niger gedacht - eher schon an den Staatenbund, der mit allem, was
gut und teuer ist, seit vierzig Jahren den Frieden in Freiheit
schützt; auch wenn beschränkte Nachkriegspolitiker von der Wucht
der NATO noch nichts wissen konnten und erst einmal mehr darauf
aus waren, darüber dem künftigen Staat wieder den Status einer
M i l i t ä r m a c h t zu verleihen. Auf dieses grundsätzliche
Lebensmittel einer Staatsgewalt kann kein Staat verzichten, auch
wenn er als Kriegsverlierer erst einmal entwaffnet wird. Ohne
Bundeswehr und im Einklang mit Politikerschwüren, nie wieder ein
Gewehr anfassen zu wollen, haben die Verfasssungsgeber gleich
darauf geachtet, daß das staatliche Interesse an Waffen und deren
heimischer Produktion nicht von simplen Geschäftsinteressen ihrer
Produzenten abhängig sein darf (Art. 26 II). Die staatsbürger-
liche Pflicht zum Dienst an der Waffe ist die Grundlage des schon
vor der Existenz der Bundeswehr gewährten Rechts auf Kriegs-
dienstverweigerung (Art. 4 III). Ob Staat sein soll, stand eben
nie zur Diskussion. Deshalb konnten die Väter des GG auf die
gesetzlich verbrieften Staatsnotwendigkeiten ihrer Rechtsvor-
gänger auf deutschem Boden zurückgreifen. Der selbsterklärte
Rechtsnachfolger des verabscheuten faschistischen Staatswesens
hat an den bewährten allgemeinen Staatszielen und -zwecken nichts
geändert und seine Staatsbürger mit der neuen Modalität
d e m o k r a t i s c h g e w ä h r t e r R e c h t e u n d
P f l i c h t e n beglückt.
In Herrenchiemsee waren eben keine Antifaschisten versammelt, die
sich moralphilosophischen Diskussionen über die Natur des Staates
und über die menschenfreundlichste Staatsform widmeten, sondern
V e r f a s s u n g s h ü t e r, die die Weimarer Verfassung und
die faschistischen Ermächtigungsgesetze nach ihren
s t a a t s s c h ä d l i c h e n S c h w a c h s t e l l e n
überprüften. Die wurden dann ausgemerzt, und die faschistisch ge-
sinnten Überlebenden des Kriegs wachten von einem auf den anderen
Tag als stolze Demokraten auf - ganz - ohne großartige Umerzie-
hung.
Eine gewohnte Kontinuität und Lebenshilfe wollten die Gründungs-
väter der BRD ihrem wieder zum Staatsvolk erklärten Menschenmate-
rial ja keineswegs wegnehmen: die Verhaltenssicherheit, die sich
durch die Arbeit für den Profit einer Gegenseite einstellt, die
über die Produktionsmittel verfügt.
III
Die Verfassung der BRD gewährt ihren Bürgern zuallererst viele
Grundrechte, auch M e n s c h e n r e c h t e genannt. Die gibt
es im Unterschied zu Tier- und Pflanzenrechten, weil die Staats-
gewalt das ihr unterstellte, mit Willen und Bewußtsein begabte
Menschenmaterial zu ihrem obersten Naturrohstoff ernannt hat
(siehe "Die Sache mit den Menschenrechten", MSZ 10/84). Da kommt
Freude auf: "Der Staat ist für den Menschen da" - dieses Wesen
unterscheidet sich freilich vom jeweiligen Individuum mit seinen
kleinlichen Besonderheiten. Den sozialkundlich gebildeten Bewun-
derer stört es dabei überhaupt nicht, daß so eine billige, weil
kaum zu verlierende Eigenschaft wie Menschenwürde durch einen
ganzen nachfolgenden Gewaltapparat gewährleistet wird, und daß
die gerühmte Freiheit der Person einen sicheren Halt durch Justiz
und Polizei bekommt. Das Lob der Freiheitsrechte für jeden ein-
zelnen gilt allemal dem gewährenden Staat, der ihretwegen nicht
abtritt, sondern mit ihnen regiert.
In bescheidener Münze lautet das Lob: "D e r S t a a t d a r f
n i c h t a l l e s!" - woran mag da gedacht sein, wenn das ein
Lob ist? Dem kann mit der, den Juristen eigentümlichen, fachbor-
nierten Offenheit gekontert werden:
"Der Staat soll seinen Bürgern jederzeit entgegenhalten können,
daß sie ihre Unterworfenheit unter ihn wollen, daß sie dieses
Wollen zumindest durch Unterlassung der Auswanderung kundtun und
sich daher nicht durch Aufsässigkeit in Widerspruch zu sich
selbst setzen dürfen." (Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre,
1965, S. 981)
Wenn man einmal vergißt, daß diese totale Abhängigkeit erst ein-
mal hergestellt sein muß, bevor sie gewollt werden kann, und daß
die bloße Unzufriedenheit damit gleich die gewohnte Existenz aufs
Spiel setzt, dann gilt: Die Staatsgewalt erlaubt ihren Untertanen
die Abhängigkeit, die sie garantiert, andernfalls schaden die
Leute sich selbst, weil der Staat sein Recht auf Unterwerfung
geltend macht.
Das gesetzlich gewährte Grundrechtsverhältnis ist eben k e i n
K o m p r o m i ß zwischen den Interessen der Menschenrechts-Be-
glückten und dem staatlichen Wollen, sondern s i c h e r t
d e n r e c h t l i c h e n Z u g r i f f d e r S t a a t s-
g e w a l t, indem die sich selbst auf die Schranken des für sie
nützlichen Umgangs mit ihrem Menschenmaterial festlegt - und
schon herrscht keine Willkür, und private Lust und Laune kann
sich austoben, wo alles erlaubt ist, was nicht verboten ist.
"(Grundrechte) gewähren dem einzelnen einen Abwehr-, einen nega-
tivus-Status, mit dessen Hilfe der 'allmächtige' Staat, dem ge-
genüber das Individuum im Unterworfenheits-Status steht - in
'Schranken zurückgewiesen' werden kann." (Georg Scholz, Grundge-
setz I, 1985, S. 30)
in die Schranken nämlich, die der Staat sich selbst setzt. Für
diese Hilfe, die ja nun wirklich kein Sterblicher sich selbst
leisten kann, braucht es eine letzte schützende Hand, damit die
sich selbst in den Arm fallen kann:
"Der Staat sei für den Menschen da, heiße auch, daß der Staat
sein muß, damit der Mensch in Freiheit und Würde leben könne und
daß es auch (!) einen Vorrang des Staates vor dem einzelnen Men-
schen gebe." (Georg Scholz, ebda., S. 26)
Was da an Menschenrechten zur staatlichen Anerkennung gelangt -
und bei demokratischen Menschenfreunden Bewunderung über die ge-
regelte Allmacht des Staats auslöst - ist e i n e r s e i t s,
von den Betroffenen aus betrachtet, herzlich wenig. Die Staatsge-
walt bürgt dafür, auf Massenexekutionen und Massensterilisierun-
gen verzichten zu wollen; dieses Recht auf Gesundheit und körper-
liche Unverletzlichkeit hebt die Welt der Grundgesetzordnung
wohltuend vom unmenschlichen Vorgängerstaat wie von östlicher Un-
freiheit ab. Das Mißverständnis, das Recht auf Leben wäre so et-
was wie ein materieller Anspruch seiner Bürger, soll nicht erst
aufkommen; mit einem Recht auf Arbeit, Wohnung und Versorgung
will unser Staat - anders als drüben - der Freiheit seiner Bürger
nicht zu nahe treten:
"Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG räumt dem einzelnen kein Grundrecht auf
angemessene Versorgung durch den Staat ein. Man hat sich darauf
beschränkt, negativ ein Recht auf Leben und körperliche Unver-
sehrtheit zu statuieren, d.h. insbesondere den staatlich organi-
sierten Mord und die zwangsweise durchgeführten Experimente an
Menschen auszuschließen." (Schmidt-Bleibtreul/Klein, Kommentar
zum Grundgesetz, 1967, S. 41 )
Dashalb ist a n d e r e r s e i t s der frei zustande kommende
und nützliche G e b r a u c h und V e r b r a u c h d e r
G e s u n d h e i t im Dienst an der nationalen Institution des
profitablen Geschäfts geboten und erlaubt. So kommt unter dem
Dach des GG der Sozialstaat zum Zug mit seinen Renten-, Versiche-
rungs-, Arbeitslosen- und Krankenkassen. Je größer die Klientel
dieser Armutsverwaltung wird, desto unabweisbarer wird die Ver-
antwortung der Gesetzgeber, daraus keine Lücke der Staatskasse
werden zu lassen.
Das Recht auf Leben schützt noch nicht einmal die physische Exi-
stenz des einzelnen Untertanen. Ihr geht das "Recht auf Leben an-
derer" voraus, und wer mit "andere" gemeint ist, daraus macht der
Gesetzgeber kein Geheimnis:
"...für den Fall, daß ein Leben nur durch Aufopferung eines ande-
ren Lebens geschützt werden kann... darf eine Lebensvernichtung
stattfinden... Aus dem gleichen Grunde sind , auch 'Notwehr und
Notstandsregelungen verfassungsmäßig, ebenso wie das polizeiliche
Recht zum Waffengebrauch und das Recht des Staates, vom Bürger
den Lebenseinsatz und die Tötung im Verteidigungsfall zu for-
dern." (G. Scholz, ebda., S. 134)
Selbst die kümmerliche Existenzgrundlage, am Leben zu sein, ist
ein Akt staatlicher Gewährung, mit der die Staatsgewalt die
D i s p o s i t i o n ü b e r L e b e n u n d T o d ihrer
Menschenrechtsuntertanen sich selbst vorbehält.
Da bleibt für die Person und deren Menschenwürde nichts übrig von
deren besonderen Interessen und ihren willentlich ausgebildeten
Vorlieben. Anerkannt ist sie als Material staatlichen Zugriffs
und deshalb hat die GG-konforme Person so überhaupt nichts zu tun
mit den frei herumlaufenden Individuen, die bundesdeutsches Ter-
ritorium bevölkern. Die werden als Rechtspersonen gewürdigt, und
da fällt der Foetus, auf den der Staat sich beruft, wenn er be-
völkerungspolitisch unerwünschte Abtreibungen verbietet, genauso
darunter wie die Menschenwürde von Leichen. Die Aufgaben, die der
Staat seinem Staatsbürger zugedacht hat, adeln den ungewaschenen
Menschen zur anerkannten Person. Dessen Würde mag dann durch ein
"Arschloch" verletzt werden, lebenslange Haft können ihr dagegen
nichts antun.
Daß sich aus Rechten Pflichten ergeben, läßt sich der Alltagsver-
stand täglich von den Verwaltern unseres Rechtsstaates vorbuch-
stabieren; bloß ist das gar nicht die Wahrheit der Grundrechte.
Bei denen geht die s t a a t l i c h e
I n p f l i c h t n a h m e d e s
M e n s c h e n m a t e r i a l s voraus und s c h a f f t
R e c h t e. Juristen sehen ihre oberste Aufgabe darin, die
Menschheit mit immer mehr Rechten zu beglücken, und ihr Bedauern
ist unüberhörbar, wenn sie darauf "verzichten", nicht auch noch
die letzten Alltäglichkeiten menschlichen Treibens in den Grund-
rechtskatalog aufzunehmen.
"Das Recht, Bier oder Wein trinken zu können, ein Fußballspiel
anzusehen, Skat spielen zu können, Pilze zu sammeln, Blumen
pflücken zu dürfen, ja das Recht, in das Ausland reisen zu dür-
fen... und viele andere Rechte mehr sind nicht in den 'benannten'
Grundrechten abgesichert. Hier eine 'Grundrechtslücke' anzuneh-
men, entspricht nicht der vom GG konzipierten 'Freiheit des Men-
schen'..." (Georg Scholz, ebda., S. 122)
Was diese erfreulichen Vergnügungen noch lange nicht zum
"rechtsfreien Raum" macht!
IV
Der Schutz, den der Rechtsstaat seinen Staatsbürgern angedeihen
läßt, gilt nicht den "Menschen, für die der Staat da ist", son-
dern den von der Staatsgewalt für n ü t z l i c h
a n e r k a n n t e n I n s t i t u t i o n e n, auf die die
Untertanen als das ihnen zustehende Lebensmittel verwiesen wer-
den. Soweit und damit sie sich im Dienst an der Ehe, in Schule
und Beruf und am Privateigentum bewähren, sind sie GG-begnadet.
Daß die meisten dabei alt aussehen, ist im Sinn dieser Veranstal-
tung - und kein Gegensatz zu ihr:
"Die Einrichtungsgarantien schützen den Bestand der Institution
als solche, nicht aber unmittelbar die 'Nutznießer' dieser Insti-
tution: So darf z.B. nicht die Ehe abgeschafft werden." (G. Sc-
holz, ebda., S. 41 )
Daß sich zwei nicht mehr leiden können, weil unter dem täglichen
Arbeiten und Abwaschen das bißchen Gefühl abhanden gekommen ist,
entbindet sie keineswegs davon, auch nach der Scheidung die Last
und die Kosten für die Aufzucht der Nachkommen zu tragen: "Ehe
und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen
Ordnung" (Art. 6). Die Zeugungsunfähigkeit des Staates darf dem
Anspruch auf genügend künftiges Menschenmaterial nicht im Wege
stehen; er zwingt seine Bürger zur Elternliebe, weil er die
Gründe kennt, weswegen denen nur zu oft die Liebe zu ihren Bamb-
sen vergeht.
"Art. 14
(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt
und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle
der Allgemeinheit dienen.
(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.
Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen,
das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung
ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und
der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung
steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten
offen."
Am meisten leistet das GG für seine Menschenrechtsordnung durch
den Schutz des Privateigentums. Das haben die "Väter des Grundge-
setzes" zwar nicht er-, sondern nur vorgefunden, aber durch ge-
setzförmige Gewährung und Ausgestaltung zur Grundlage der taufri-
schen Demokratie BRD gemacht. Gemeint ist nicht die häusliche Un-
tertasse und das Auto, sondern ein ganzes P r o d u k t i o n s-
v e r h ä l t n i s. Maschinen, Wertpapiere und Aktien kann man
zwar nicht essen, sie erlegen dem Besitzer dieses Kapitals aber
die süße Pflicht auf, die Arbeitsdienste derer, die außer ihrer
Arbeitskraft nichts anzubieten haben, in Anspruch zu nehmen,
damit die getätigten Investitionen sich lohnen. Harmonie mag da
freilich nicht einkehren, und der Gesetzgeber stellt ein
eingerichtetes K l a s s e n v e r h ä l t n i s unter staat-
liche Regie.
Wo die gleich geachteten, wenn auch gegensätzlichen Mittel Kapi-
tal und Arbeit zusammenwirken, wobei der erfreuliche Erfolg
höchst einseitig ausfällt, da beginnt das grundgesetzlich ge-
schützte Reich von F r e i h e i t und G l e i c h h e i t.
Ohne eine gewaltsame Klammer, die ihre Bürger der Freiheit aus-
setzt, sich ganz nach Lust und Laune und dabei den objektiven
Zwängen dieser Gesellschaftsordnung gehorchend, arbeiten zu gehen
und Gewinne zu machen, käme dies schöne Zusammenspiel gar nicht
zustande, weil es die lebenslange Schädigung der einen, Arbeit-
nehmerseite genannten, Abteilung einschließt. Diese
S c h ä d i g u n g unterstellt, garantiert und befördert die
Staatsgewalt - wegen des unübersehbaren E r f o l g s, der sich
für die nationale Ökonomie und damit für ihn einstellt. Sie
auszuhalten, überläßt er der Freiheit seiner Untertanen - in die
mag der Sozialstaat nur nachträglich und ungerne eingreifen. Die
verfassungsmäßig gegebenen Freiheiten des einzelnen finden ihre
Schranke an der Freiheit des anderen. Das ist zwar ein Irrwitz,
wenn es um die privaten Besonderheiten der Interessen und des
Wollens einzelner Subjekte ging, ist aber vernünftig, wo der
Staat die Betreuung eines grundsätzlichen Interessengegensatzes
und seines nützlichen Wirkens zu seiner Verfassung macht, an die
er sich hält und seine Untertanen sich halten läßt. Wo sich so
ungleiche Lebenschancen in schöner Regelmäßigkeit herausstellen,
da ist die Verfassung um so mehr auf den Gleichheitsgrundsatz
verpflichtet:
"Der Gleichheitssatz verleiht dem Ungleichen die Rechtsmacht, zu
verlangen, daß er wegen seiner Ungleichheit nicht auch ungleich
behandelt werde." (G. Scholz, ebda., S. 137)
Das ist allerdings kein nachträgliches "Wenigstens": Mit der Bin-
dung aller Staatsbürger - ganz unabhängig von ihrer ökonomischen
Stellung - an die staatliche Hoheit, vor der sie alle gleich
sind, werden sie auf die höchst ungleichen Lebensbedingungen Ar-
beitskraft und Kapital festgelegt, die dem Staat gleich nützlich
und wichtig sind. Da es die ungehinderte Funktion von Arbeits-
dienst und damit bewirktem privaten Geschäft ist, die die Verfas-
sung gleichermaßen schätzt und schützt, werden beide Seiten mit
den Auflagen versehen, die für sie dienlich sind. Während das Ge-
bot: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem
Wohle der Allgemeinheit dienen" (Art. 14 Abs. 2) darüber belehrt,
daß unternehmerische Privatinitiative der geborene Arbeitsplatz-
beschaffer ist - siehe die unter deren Regie erzeugten Arbeitslo-
sen -, wird der Verfassungshüter beim gewährten Recht auf
V e r s a m m l u n g s- und gewerkschaftlicher K o a l i-
t i o n s f r e i h e i t den Verdacht mangelnder Funktionalität
nicht los. Die sind grundgesetzlich erlaubt, so weit sie "zur
Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen"
beitragen, ein Interesse, das Lohnempfängern nicht ohne weiteres
zugetraut wird, - zurecht.
So kommen unter dem Freiheitsreich des GG alle u n s c h ö n e n
"M i ß s t ä n d e" zum Zug, die dem Verfassungshüter eine Ver-
längerung seines gesetzgeberischen Wirkens um BGB und StGB gebie-
ten. Die dauerhafte Scheidung seiner Volksmannschaft in arm und
reich - ganz ohne persönliche Diskriminierung und nur zur Wahrung
und Förderung der ökonomischen Grundlage der Nation - macht den
größeren Teil der demokratischen Menschheit mit Not, Elend,
Krankheit, Arbeitslosigkeit als gewöhnlichem Lebensschicksal ver-
traut und beschert den Verfassungshütern die Sorge um Verbre-
chensbekämpfung, Sozialhilfeansprüche und Volksgesundheit. So
kommt alles das zur besten Blüte, was Kritiker als Verstoß gegen
den "Geist" des GG geißeln: So sehr schätzen sie die demokrati-
sche Ordnung in all ihren Härten, daß sie ihr einen absoluten
guten Zweck - genannt GG - nicht absprechen wollen.
V
Das GG gewährt das Menschenrecht auf einen d e m o k r a-
t i s c h e n R e c h t s s t a a t und dessen "v e r-
f a s s u n g s m ä ß i g e O r d n u n g". Die grundgesetz-
lichen Freiheiten, mit denen die Bürger beglückt werden, binden
diese an den Staatswillen, haben ihre lebendige Geltung also nur
darin, daß sie Dispositionsmittel des gesetzlichen Wollens
staatlicher Hoheit sind.
"Art. 11
(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.
(2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Ge-
setzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine
ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allge-
meinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen
es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die
freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines
Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastophen oder
besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor
Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erfor-
derlich ist."
"Der Zusatz 'in diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes
eingegriffen werden' oder 'das Nähere regelt ein Bundesgesetz'
oder 'kann durch Gesetz geregelt werden' ermächtigt den Gesetzge-
ber, das Grundrecht aus Gründen des allgemeinen Wohls einzu-
schränken." (Schmidt-Bleibtreu/Klein, ebda., S. 29)
Marx hat darin noch einen Gegensatz gesehen -
"Jeder Paragraph der Konstitution enthält nämlich seine eigene
Antithese, sein eignes Ober- und Unterhaus in sich, nämlich in
der allgemeinen Phrase die Freiheit, in der Randglosse die Aufhe-
bung der Freiheit." (Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, S. 127) -,
weil ihm an der Rebellion gegen Gesetzeswerke gelegen war, die
mit dem Schein großartiger historischer Genehmigungsverfahren die
Beschränkung gerade stattfindender "sozialer Bewegungen" vollzo-
gen. Dies hätte ihn freilich davon abhalten müssen, den Gegen-
satz, der ihn interessierte, als einen Widerspruch der Konstitu-
tion auszugeben, in der schließlich schon im "Oberhaus" die Glei-
chung: Freiheit = Recht = Pflicht nicht zu übersehen war. Er be-
zog sich auf eine Schwäche, die dem damaligen bürgerlichen Staat
eigen war, insofern in ihm und um ihn gekämpft wurde. So etwas
läßt sich heute kein demokratisches Staatswesen mehr zuschulden
kommen: mit Klassenkampf zu rechnen, ihn rechtsförmig zu befrie-
den und aus den streitenden Parteien ein einig Volk von braven
Bürgern zu machen.
Die Unzufriedenheit, die sich bei Staatsbürgern allenthalben ein-
stellt, ist grundgesetzlich erlaubt. Mit der kleinen Einschrän-
kung: Als verletztes Interesse, das sich gegen die praktischen
Urheber der eigenen Schädigung richtet, stört das den "sozialen
Frieden". Die f o l g e n l o s e M e i n u n g, die den
Durchblick seines Trägers ehrt, wenn er nichts von ihr hält und
sie an den in Umlauf gebrachten anderen Meinungen relativiert,
genießt rechtliche Duldung. Das macht die grundgesetzmäßige Prü-
fung der kursierenden Meinungen nicht überflüssig. An manchen
entdecken die Hüter der Verfassung eine "Unrechtsgesinnung"; so
folgen aus der M e i n u n g s- u n d W i s s e n-
s c h a f t s f r e i h e i t - Wissenschaft hält die demokra-
tische Staatsgewalt für genauso schützenswert und kontrollbedürf-
tig wie Religion und Gewissen - eine Bindewirkung, die zu
B e r u f s v e r b o t und zu "V e r w i r k u n g v o n
G r u n d r e c h t e n" (Art. 18) führt. Die Pressefreiheit ruft
die staatliche Institution "öffentliche Meinung" ins Leben, die
sich nur an eines zu halten braucht:
"Wenn die Vielfalt der Weltanschauungen und Interessen nicht die
Bildung eines einheitlichen Staatswillens überhaupt unmöglich ma-
chen soll, dann muß bei denen, die zu dieser Willensbildung beru-
fen sind, wenigstens Einmütigkeit in der Bejahung der verfas-
sungsrechtlichen Grundwerte bestehen (BVerfGE 5, 134)." (Schmidt-
Bleibtreu/Klein, ebda., S. 57)
Und auch, wo die Meinungs-Volksbeauftragten keinen Anlaß zu
staatlicher Zensur geben und ihrer Informationspflicht nachkom-
men, indem sie die Probleme der Politiker wiederholen und breit-
treten, entdecken diese überall linksverseuchte Fernsehanstalten
und verantwortungslosen Journalismus.
So darf jeder seine private Meinung haben, auch und weil sie sich
in der Regel darin erschöpft; von der maßgeblich-unmaßgeblichen
Meinung zu zehren, daß Staat sein muß, damit Meinungen wissen
können, woran sie sich zu halten haben. Meinungen dürfen tatsäch-
lich öffentlich kundgetan werden, sogar und vor allem die daß man
sich seine persönliche Meinung garantiert nicht vorschreiben
läßt. Wer das D e m o n s t r a t i o n s r e c h t in Anspruch
nimmt, muß sich allerdings darüber klar sein, daß der Staat sol-
ches Tun keineswegs für eine Selbstverständlichkeit hält, sondern
bei der Gewährung der Versammlungsfreiheit (Art. 8) seinerseits
sofort an Bürgerkrieg denkt. Deswegen hat er festgelegt, daß, so-
bald zwei oder drei Bürger unter freiem Himmel zusammenkommen,
dies "friedlich und ohne Waffen" zu geschehen hat und außerdem
immer ausdrückliche Erlaubnis einzuholen ist. Daß eine kritische
Meinung das mit ihr geäußerte Interesse durchsetzt, ist sowieso
verboten. Die Demonstration von Unzufriedenheit ist genug verfas-
sungsmäßiges Zugeständnis und umgekehrt das Begehren nach prakti-
schem Erfolg der oppositionellen Auffassung "Nötigung von Verfas-
sungsorganen". Da der Gebrauch des Demonstrationsrechts den Ver-
dacht auf Mißbrauch rechtfertigt, kann dieses Recht nicht sorgsam
genug geschützt werden: durch Polizeiketten, durch die dem Ver-
fassungsschutz übertragene Aufgabe, "freie Bürger mit freiem Ge-
sicht" abzulichten und durch den nahtlosen Übergang vom Demon-
strations- zum Demonstrations s t r a f recht - und alles belebt
vom Geist des GG.
"Art 18
Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Presse-
freiheit (Art. 5 Abs. 3), die Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 1), die
Versammlungsfreiheit (Art. 8), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9),
das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10), das Eigentum
(Art. 14) oder das Asylrecht (Art. 16 Abs. 2) zum Kampfe gegen
die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt
diese Grundrechte..."
Der demokratisch Staat gewährt sich mit dem Grundgesetz die Ver-
pflichtung seiner Bürger auf das uneingeschränkte Existenzrecht
der Staatsgewalt. Der kleinlich gesetzlich-kodifizierte Totali-
tätsanspruch entwickelt da eine weit größere Schlagkraft als
staatliche Willkür, die Kritiker manchmal bei der verfassungskon-
formen Anwendung des GG durch staatliche Maßnahmen entdecken wol-
len. Gemäß den und für die weitreichenden Zwecke, denen die BRD
sich verpflichtet und mit ihrer Staatsgewalt dienstbar erweist:
"innere Ordnung", "sozialer Friede", "Wohl der Wirtschaft",
"sittliche Ordnung" und überhaupt "freiheitliche demokratische
Grundordnung" gibt es die Grundrechte. Wo diese Grundlage nicht
mehr anerkannt wird, gehen nicht die Politiker in Pension, son-
dern der Rechtsstaat radikalisiert sich und bringt die
N o t s t a n d s g e s e t z e (Art. 115) in Anwendung. Über
die in Mode gekommenen Mißverständnisse zum Recht auf Widerstand
"gegen jeden, der es unternimmt diese Ordnung zu beseitigen, wenn
andere Abhilfe nicht möglich ist" (Art. 20 Abs. 4), schütteln
nicht nur Juristen den Kopf: Mit der nachträglichen wie folgenlo-
sen Anerkennung antifaschistischen Treibens gegen Hitler will der
Rechtsstaat doch nicht seine Existenz in die Hände der Beherrsch-
ten legen. Ein solcher Ersatz der drei Gewalten, schließlich auch
noch des BVerfG, durch eine Prüfung von unten käme schließlich
einer Entmachtung der demokratischen Staatsmacht gleich. Das wäre
allemal verfassungswidrig und ein Fall für die Anwendung der Not-
standsgesetze. Die Situation, in der dieses Gesetz praktisch be-
deutsam werden könnte, ist zwar offiziell vorgesehen, der Ge-
brauch dieses Rechts allerdings nicht. Eventueller Widerstand
wird dann - wie immer - aufs Recht verzichten müssen.
VI
Mit der grundberechtigten Anerkennung seines Volksmaterials er-
wachsen dem demokratischen Staat lauter P f l i c h t e n, die
d i e e i g e n e H o h e i t betreffen. Demokratie will ge-
lebt sein und braucht ihre Mittel: F i n a n z - u n d
S t e u e r h o h e i t des Staates. Eine n a t i o n a l e
W ä h r u n g legt Geldbesitzer und Lohnempfänger auf den Erfolg
der Wirtschaft fest, der deutsch ausfällt (Bundesbank Art. 88).
Die faux frais eines Staatsapparats, der sich um die Belebung der
Konjunktur samt allen dabei anfallenden Kosten kümmert, wollen
verdient sein: R e g e l u n g d e s S t e u e r a u f-
k o m m e n s u n d s e i n e r g e r e c h t e n V e r-
t e i l u n g auf Bund, Länder und Gemeinden (Art. 104a - 109).
Für den H a u s h a l t s p l a n gilt stabile Deckung. Die
darf die notwendigen Aufgaben des Staates nicht abhängig machen
von den Launen des Geschäfts und dem begrenzten Geldbeutel der
Leute, kommt also, grundgesetzlich verbürgt, nie zustande (Art.
111, 112). K r e d i t b e s c h a f f u n g u n d V e r-
s c h u l d u n g des Staates ist geboten (Art. 115); und mit
den ausgegebenen Staatspapieren, die ein bombenfestes
Geschäftsmittel sind, betreibt er W i r t s c h a f t s-
p o l i t i k.
Die Ausführung der lebensnotwendigen Staatsaufgaben obliegt dem
B e r u f s b e a m t e n t u m. Damit die gesetzliche Garantie
und Förderung eines ökonomischen Zwangsverhältnisses gelingt,
gibt es die G e w a l t e n t e i l u n g. Von dieser Teilung
wußte schon der alte Marx, daß ihre gegenseitige Kontrolle der
wirksamen E i n h e i t der Staatsgewalt dient:
"Die Voraussetzung für eine 'freie Regierung' ist nicht die Tren-
nung, sondern die Einheit der Gewalten. Die Regierungsmaschinerie
kann gar nicht einfach genug sein. Es ist immer die Kunst der
Spitzbuben, sie kompliziert und geheimnisvoll zu machen." (Die
Konstitution der Französischen Republik, MEW 7, S. 498) -
so daß die Klage nie verstummt, die "unabhängige" Justiz würde
oft genug "politische" Urteile fällen.
Den Wunsch der Alliierten nach einem föderalistischen Staatswesen
BRD haben die Väter des Grundgesetzes glücklich mit dem Gebot der
Staatseinheit verbunden. Eine so schöne Gewaltenkontrolle zwi-
schen Bundestag und Bundesrat hat keine andere Demokratie aufzu-
weisen. Der Bayer hat davon, daß er auf Bonn schimpfen und sich
im Trachtenhut seines Landesvaters wiedererkennen kann; wenn der
aus Bonn wieder da ist.
"Art. 21
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des
Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demo-
kratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft
und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich
Rechenschaft ablegen.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer
Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grund-
ordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand
der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswid-
rig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das
Bundesverfassungsgericht."
Das aufreibende Geschäft des Regierens nehmen ihm P a r t e i-
e n, P a r l a m e n t und B u n d e s r eg i e r u n g ab.
Die stehen unter besonderem Schutz des GG und dürfen sich keinem
in der Gesellschaft existierenden besonderen Interesse gemein
machen. Nur durch die Trennung in grundberechtigte Menschen und
in zur Gewaltanwendung verpflichtete Staatsträger ist das
nützliche Zusammenwirken eines Klassenverhältnisses gewährlei-
stet. Auf die entsprechende "politische Willensbildung des
Volkes" sind die Parteien verpflichtet (Art. 21).
Diesem fix und fertigen Staatswesen darf die demokratische Reife
ihrer Mitglieder einen letzten Dienst erweisen. Bei dem behaupte-
ten Kernstück der demokratischen Verfassung, den allgemeinen,
gleichen, freien und geheimen W a h l e n steht keine staatli-
che Maßnahme und Institution zur freien Verfügung des Stimmzet-
tels - gewählt werden V o l k s r e p r ä s e n t a n t e n,
die den Fortgang der unabweisbaren Staatsgeschäfte besorge, damit
andere sich ihrem Dienst in der Fabrik, bei der Bundeswehr und in
der Familie widmen können. Ein Test auf den staatsbürgerlichen
Gehorsam, für den ja die demokratische Einsicht verlangt ist, aus
den erfahrenen Folgen der Abhängigkeit auf eine grundlose Zustim-
mung zum Staat zu schließen, sind die grundgesetzlich erlaubten
Wahlen allemal. So lange dieser Test positiv ausgeht, so lange
finden Wahlen statt - und so lange ist der wahrgemachte Fanatis-
mus einer totalen demokratische Staatsgewalt R e c h t e n s.
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