Quelle: Archiv MG - BRD ALLGEMEIN - Auf dem Weg zur Weltmacht


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DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 1980 - UND WAS MARXISTEN IN DEN 80ER JAHREN AN IHR ZU ÄNDERN HABEN

Inhalt I. Das Funktionieren der politischen Herrschaft 1. Das öffentliche Leben in Westdeutschland: Indiz einer gelunge- nen Politisierung 2. Wirtschafts- und Sozialpolitik: der Klassenkampf von oben 3. Die Rolle der BRD in der imperialistischen Arbeitsteilung II. Die Lage der arbeitenden Klasse und ihre Gewerkschaften 1. Ausbeutung und Armut im Modell Deutschland: Lohn ohne Leistung 2. "Lebensqualität" '80 3. Die Rolle der schwarz-rot-goldenen Gewerkschaft oder: die ar- beitende Klasse in ihrer Eigenschaft als "Basis" III. Der Geist der Intelligenz 1. Von der Geistesfreiheit 2. Ein Blick in die Werkstatt des Geistes 3. Die praktischen Bedürfnisse des Intellektuellenstandes IV. Die Linke 1. Die BRD als Projekt des Revisionismus 2. Die agitatorischen Leistungen des BRD-Revisionismus 3. Konsequenter Opportunismus: Der Rechtsrutsch der Linken V. Die Linken haben das Kräfteverhältnis verschieden interpre- tiert... *** I Das Funktionieren der politischen Herrschaft -------------------------------------------- 1. Das öffentliche Leben in Westdeutschland: -------------------------------------------- Indiz einer gelungenen Politisierung ------------------------------------ Der westdeutsche Staat genießt im Urteil der internationalen Be- obachter einige Anerkennung. Vormals unter dem Titel des "deutschen Wirtschaftswunders", seit einem Jahr "Modell Deutsch- land" beglückwünschen ihn die mit den Maßstäben moderner Staats- kunst vertrauten Theoretiker und Praktiker der Politik zu seinen Leistungen. Und da diese Maßstäbe allesamt verwandelte Ausdrücke des einen Interesses an einer gelungenen Kontrolle und Steuerung der sozialen Gegensätze sind, die den Kapitalismus nun einmal auszeichnen, geraten die einschlägigen Urteile zu regelmäßigen Grußadressen an die westdeutsche Regierung, der versichert wird, sie mache ihre Sache gut. Die dazugehörige Botschaft ans deutsche Volk erschöpft sich in der Ideologie, es habe mit seinen Machern einen guten Griff getan und allen Grund, dankbar zu sein mit der Fügung seines Nachkriegsschicksals. Da wird ohne große Umstände das Wachstum des nationalen Reichtums bewundert und als Resultat wirtschaftspolitischer Künste dargestellt, obwohl jedermann klar ist, daß die ökonomische Potenz eines Landes nicht im Kabinett, sondern in den Fabriken zustandekommt. Sooft die niedrige Anzahl der Streiktage in der BRD zur Sprache kommt, gilt sie nicht als Beleg für den Gewohnheit gewordenen Gehorsam der arbeitenden Klasse und für recht eigentümliche Anliegen ihrer Gewerkschaften, sondern als Beweis dafür, daß westdeutsche Arbeiter außer zum Ar- beiten zu nichts mehr einen Grund haben. Und selbst dann, wenn auswärtige Nationalisten ihre Komplimente um den Neid auf den Konkurrenten ergänzen und einmal zu Vorwürfen gegen die Praktiken der westdeutschen Staatsgewalt schreiten - so geschehen anläßlich des Umgangs mit Terroristen, AKW-Gegnern sowie angesichts der Be- rufsverbote -, blamieren sich die Kritiker an der offensiven Rechtfertigung, die deutsche Politiker an den Tag legen und mit der sie bei ihren ausländischen menschenrechtsbewanderten Kolle- gen auf ebenso großes Verständnis stoßen wie bei ihrem Volk. Sämtliche Versuche oppositioneller Minderheiten in der BRD, durch die Entlarvung eindeutiger Praktiken von Polizei und Justiz, von Verfassungsschutz und Geheimdiensten einen öffentliche n Skandal herbeizuführen, sind gescheitert. Die demokratische Öffentlich- keit hat noch jeden "Fall" abschlägig beschieden und sich beharr- lich geweigert, irgendeinen Anlaß als einen zur Kritik an den staatlichen Organen zu akzeptieren. Dabei ist keineswegs die Ver- heimlichung der Tatsachen der Usus, sondern ihre ausführliche Be- sprechung als P r o b l e m, und zwar als eines, das die R e g i e r u n g hat: politischer Stil, Vertrauensverlust, Rechtssicherheit sind die Kategorien, in denen das Vorgehen der Staatsgewalt hierzulande abgewogen zu werden pflegt; und damit sind auch die Grenzen klar abgesteckt, innerhalb deren sich Empö- rung und Kritik bewegen. Was immer die Regierung auch beschließt und durchsetzt, sei es in bezug auf den handfesten Verkehr mit politischen Minderheiten oder handle es sich um Maßnahmen der Wirtschafts- und Sozialpoli- tik, die "uns alle" betreffen - daß vom Standpunkt der B e t r o f f e n e n geurteilt und gestritten wird, ist in der BRD nicht demokratische Sitte. Aber nicht deshalb, weil der Men- schenschlag der Westzone das zur Demokratie nötige Gebaren nur mangelhaft beherrscht, sondern aus dem gegenteiligen Sachverhalt heraus: die Relativierung sämtlicher Ansprüche in der Welt der Arbeit und Politik, die nur bedingt vorgetragene Forderung nach Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ist hierzulande nicht nur üblich, sondern anerkanntes Prinzip, auf das sich freie Mei- nungsäußerung, von Interessengruppen wie von Individuen, ver- pflichtet weiß. Es gehört sich einfach nicht, ein partikulares oder Klasseninteresse durchsetzen zu wollen; da gibt es nicht erst ein Gegeneinander der Interessen, aus dem sich durch staat- liche Auflagen vermittelt oder sogar in Gegensatz zu den Absich- ten der Regierung ein "Kompromiß" herstellt, an dem die große Mehrheit der Bürger zu spüren bekommt, wie wenig ihre Interessen und Bedürfnisse mit dem Allgemeinwohl vereinbar sind. Die bundes- republikanische Praxis ist die einer fortgeschrittenen Demokra- tie, in der sich kein Anspruch rücksichtlos, ohne den Blick auf den "Rahmen des Möglichen", ohne die Legitimation durch die Ver- nunft der Selbstbeschränkung überhaupt vorträgt. Die einzige Aus- nahme in dieser Hinsicht bilden die Lieblingskinder der modernen Republik, die es an Selbstbewußtsein, an der Sicherheit nicht fehlen lassen, daß die Erfüllung ihrer Wünsche noch allemal mit dem Geschäftsgang des Ganzen zusammenfällt - es ist eben ein Un- terschied, ob sich ein herrschendes oder ein untergebügeltes In- teresse aufs Gemeinwohl verpflichtet. In der BRD haben sich die Bürger daran gewöhnt, daß sie als Ar- beiter und Angestellte, als Mieter und Benützer der öffentlichen Verkehrsmittel, als Arbeitslose und AKW-Gegner usw. ihre Anliegen nur in p o l i t i s i e r t e r Form vorzubringen haben. Statt etwas zu verlangen und auf Mittel und Wege zu sinnen, i h r e Notwendigkeiten durchzusetzen, pflegen die Geschädigten der Na- tion unter verschiedensten sozialen Titeln K l a g e zu führen über d i e Notwendigkeiten, die ihnen Staat und Kapital aufer- legen. B e r e c h t i g t hat ein Interesse zu sein, sonst zählt es nicht, und der erlittene Schaden wird als U n g e r e c h t i g k e i t betrachtet. Geläufig ist einzig die Suche nach denen, die der S t a a t nicht ebenso in ihre Schranken weist; und sooft es zu einer organisierten Form der In- teressenvertretung kommt, stellt sich regelmäßig jene biedere Meinungsäußerung ein, die aus dem vertretenen Interesse eine Sorge ums Gemeinwohl verfertigt, in dem die Geschädigten ihren Platz reklamieren. So ist es kaum überraschend, daß diese Ver- bände zu Gesprächspartnern und Anhängseln der Parteien werden, die bereits in ihren Programmen die verschiedenen Ansprüche aner- kennen, um sie aneinander und dem höheren Ganzen zuliebe zu rela- tivieren. Der Verzicht auf zählbare Erfolge im "sozialen Vertei- lungskampf" wird mit dem Recht auf Gehör und viel Verständnis entgolten; die P o l i t i s i e r u n g der gesellschaftlichen Gegensätze lohnt den "verantwortungsvollen Umgang" mit den eige- nen Bedürfnissen durch die trostreiche Gewährung der Mit s p r a c h e. Politische Alternativen dürfen artikuliert werden, als M e i n u n g e n u n d M ö g l i c h k e i t e n sind sie geduldeter und geachteter Ausdruck bleibender Unzufrie- denheit. So sehr bestimmen demokratische Tugenden die Abwicklung aller sozialen und politischen Konflikte in der BRD, daß häufig nicht einmal mehr auszumachen ist, ob Empörung, Protest und Kri- tik auf seiten Betroffener sich unabhängig von ihrer öffentlichen Ein- und Unterordnung entwickelt haben oder ob sie nicht gleich als "unser Problem" auf die Tagesordnung der öffentlichen Konfe- renz kamen, die den politischen Willen bildet, indem sie ihn zu- richtet. Dafür bietet die Bundesrepublik 1980 Woche für Woche Beispiele. Eine Regierung, der angesichts der neuesten Höhepunkte in der weltpolitischen Konfrontation im Mittleren Osten einfällt, die Opposition öffentlich zu befragen, inwieweit sie bereit sei, "unpopuläre Maßnahmen" mitzutragen, fürchtet ganz gewiß nicht um ihre Popularität. Das von vorneherein feststehende Ergebnis - alle "Verantwortlichen" aus Politik und Wirtschaft sind bereit, in Sachen Steuern, Rüstung, Inflation, Benzinpreis etc. etc. den arbeitenden Bürgern einiges mehr noch als bisher abzuverlangen - erfährt in Westdeutschland keine öffentliche Kritik, sondern all- seitiges Lob. Der "Mut" jener Herrschaften wird herausgestrichen, daß am Ende fast Mitleid um sich greift mit denen, die unter der Last, anderen einige zusätzliche Lasten aufzuhalsen, schier zu- sammenbrechen und dennoch nicht das Handtuch werfen. Mit derselben Souveränität haben Regierung und Parteien die Ar- beitslosigkeit mit viel Verständnis für die Betroffenen zum Pro- blem Nr. 1 erklärt, sind damit bei den (Gewerkschaften auf Ver- ständnis gestoßen - und haben den Beschäftigten wie den Arbeits- losen außer regelmäßigen Statistiken eine Diskussion über Ar- beitsscheu und Faulenzertum präsentiert. An diesem Verfahren ist weniger bemerkenswert, daß Politiker und Unternehmer, Journali- sten und Wissenschaftler kein Interesse für den Grund der Ar- beitslosigkeit und auch nicht für die Beseitigung des mit ihr verbundenen Elends entwickeln; nicht einmal aus Gewerkschafts- kreisen hat man andere als volkswirtschaftliche Bedenken zu den Arbeitslosen vernommen. Solche Bedenken zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich streng an die Ideologie der g e m e i n s c h a f t l i c h e n Betroffenheit und der g e m e i n s c h a f t l i c h e n Schwierigkeiten bei der Ver- folgung der hehren Ziele Wachstum, Geldwertstabilität und Vollbe- schäftigung halten - also deswegen ständig leugnen, daß Inflation und Arbeitslose konsequent eingesetzte Mittel des kapitalisti- schen Wachstums sind, wovon die grundgesetzlich vorgesehene Staatsverschuldung sowie die staatliche Definition der Vollbe- schäftigung gleich 3% Arbeitslose ja hinreichend Zeugnis ablegen. Daß Arbeit eine Ehrensache sei, deswegen nie zu knapp werden dürfe, ist den offiziellen Vertretern der Arbeiter ebenfalls ein- gefallen, weil für sie die Einbuße an "Sinn" - die ja mit dem Verlust eines Arbeitsplatzes in der Akkordabteilung einer Auto- firma unmittelbar ansteht - höher steht als die Frage des Einkom- mens. In dem Hin und Her über das "Problem Nr. 1", das inzwischen lockerer an der Meinungsbörse gehandelt wird - die runde Million Arbeitslose sind Gewohnheit; die auf sie per Gesetz ausgeübten Zwänge sind nach allen Regeln der sozialstaatlichen Kunst ausge- staltet worden -, haben alle Beteiligten streng an dem Grundsatz festgehalten, daß die Sorgen der Arbeitslosen ein Problem "unserer Wirtschaft", "unserer Gesellschaft" seien; und die "Lösungen", die da vorgeschlagen wurden, wie "Verkürzung der Le- bensarbeitszeit", waren nur für eines gut - sie dienten als Be- gleitmusik für die dringend erforderlichen Rationalisierungsmaß- nahmen, die einerseits "unserer Wirtschaft" ihre Probleme lösen, andererseits für beschäftigte und nicht mehr gebrauchte Lohnab- hängige ein paar neue Probleme schaffen. Die Art und Weise, das "brisante Thema" von Gott und der Welt mit einer Stellungnahme aller "relevanten Kräfte" zu versehen, hat nicht einmal bei Ge- werkschaftern, die sich für links halten, zu dem Urteil geführt, daß die Nicht-Benützung eines Teils der arbeitenden Klasse eben auch eine Variante ihrer profitlichen Benützung darstellt - kein Wunder, daß anstelle von Abwehrmaßnahmen die Initiative ergriffen wurde, vom Staat eine ausgiebigere Finanzierung des Aufschwungs zu fordern. Auch der letzte Konjunkturzyklus der BRD-Wirtschaft hat in den Köpfen der Betroffenen bestenfalls die Auffassung ih- rer Gegner bekräftigt, der Kapitalismus sei zwar eine Wirt- schaftsordnung mit gewissen "Systemschwächen", aber auf dem Markt der verfügbaren Wirtschaftsordnungen, von denen "man" sich aus pragmatischen Gründen nun eine "aussuchen" muß, immer noch die beste. Auch eine Tarifrunde findet alljährlich statt, und zwar streng nach den demokratischen Regeln der Tarifautonomie. Die Leistun- gen, welche die Tarifpartner und die am konjunkturgemäßen Ergeb- nis interessierten Betrachter dabei vollbringen sind enorm. Die regelmäßige Hetze gegen gewerkschaftliche Forderungen liest sich wie ein einziger Aufruf zur Abschaffung der Lohnarbeit, wird aber von niemandem als solcher mißverstanden, am allerwenigsten von den Ideologen und Tarifkommissionen des DGB. In endlosen Abwand- lungen wird da versichert, daß Staat und Wirtschaft unmöglich ge- deihen können, wenn die Arbeiterorganisation auch nur unwesentli- che Verbesserungen im Verhältnis von Lohn und Leistung durch- setzt. Jede Phase der Konjunktur ist per se ein unumstößlicher Grund für die Zurückhaltung der Gewerkschaft, die Krise genauso wie der Aufschwung und der Boom; die "Abhängigkeit vom Weltmarkt" vom Import genauso wie vom Export verhindert prinzipiell jedes Zugeständnis der "Arbeitgeber", ebenso die Inflation, die Finanz- lage der Nation und die zweifelhafte Energieversorgung... Da wird keine Gelegenheit versäumt kundzutun, daß in einer modernen Demo- kratie der Lohnkampf - Notwendigkeit der arbeitenden Bürger zwar anerkannt und institutionalisiert ist, daß aber nur von Mißbrauch die Rede sein kann, wenn er g e f ü h r t wird, um die zwischen den Tarifrunden erfolgten Einkommensverluste und Leistungssteige- rungen zu korrigieren. So wird Jahr für Jahr der Weisheit, daß das Funktionieren "unserer" freien Marktwirtschaft mit einer über das Nötige hinausgehenden "Bereicherung" der Proleten nicht ver- einbar ist (das "Nötige" ist genauso viel, wie ein Proletenhaus- halt braucht, um brauchbar zu bleiben; die Kriterien wie die Macht, darüber zu entscheiden, liegen bei der "Wirtschaft" - un- serer Ansicht nach ist das ein nicht ganz zu vernachlässigender Grund für eine Revolution!), noch eine andere hinzugefügt: die nämlich, daß Gewerkschaften andere Aufgaben haben, als für ein irgendwie geartetes Wohlergehen ihrer Mitglieder zu sorgen. Wie die zweite Hälfte der Tarifrundenöffentlichkeit zeigt, weiß der DGB das längst: er beteuert nämlich alle Jahre wieder, daß er nichts der wirtschaftspolitischen Vernunft Zuwiderlaufendes je unternommen hat noch künftig zu tun gedenkt, vielmehr in wirt- schaftlichen Dingen gelegentlich anderer Meinung sei; bisweilen schadet seiner Auffassung nach ein bißchen Kaufkraft in Arbeiter- taschen der Wirtschaft nicht, sondern gereicht ihr zur Hilfe, welche die dummen Unternehmer in Unkenntnis der Notwendigkeiten ihres Geschäftsganges immer wieder ausschlagen. Nie ist dieser Gewerkschaft das, was ein Prolet braucht, Grund genug, es auch zu verlangen - und stets gelangen ihre tarifpolitischen Sprecher nach detaillierten Aufstellungen über Prozente ihrer Lohnforde- rungen (3% für Inflation, 4% für Produktivitätszuwachs, 2% für den Verzicht beim letzten Mal!) zur öffentlichen Erklärung des Inhalts, daß die von ihnen errechnete "Notwendigkeit" nur die Ausgangsbasis für einen Kompromiß sei. Daneben ächten sie jede Stellungnahme der anderen Seite "Angriff auf die Tarifautonomie", die ihnen als E r l a u b n i s zum Tarifstreit nun schon 30 Jahre soviel wert ist, daß sie mit ihrer B e n ü t z u n g nicht öffentlichen Unmut erregen wollen. Konsequenterweise gelten die hinterher verbreiteten Erfolgslügen kaum der Rechtfertigung der wie immer mageren Tarifprozente, sondern der für die Basis so lohnenden Tatsache, daß ihre Gewerkschaft auch in dieser Ta- rifrunde so anerkannt ist wie in der letzten. Daß ein Streik aus anderen Gründen als für die Anerkennung der Tarifautonomie oder gegen "inhumane Aussperrung" geführt wird, steht daher für den DGB auch gar nicht zur Debatte. Er hält sich viel auf seine h i s t o r i s c h e L e i s t u n g zugute, als hätte er b e s s e r e und nicht bloß m o d e r n e r e Arbeitsbedin- gungen und Löhne "durchgesetzt". Aus der hundertjährigen Tradi- tion der Gewerkschaften leitet er die "neue Tarifpolitik" ab, die die Gewerkschaft nicht zur "Lohnmaschine" degradiert; und er ver- meidet jeden Gegensatz, der sich bei der rationellen Verfolgung der Interessen, die seine Mitglieder haben, einstellen würde. Der klassische Vorwurf, die a n d e r e Seite würde den "sozialen Frieden" gefährden, beweist, wie wenig in den Augen der bundes- deutschen Arbeiterorganisation die Lohnarbeiter Grund haben, un- friedlich zu werden. So bewährt sich dieser hochanständige Tarif- partner in der mannigfach vorgetragenen Argumentation, daß er die Demokratie mit aufgebaut habe, ihm also auch das Recht zustehe, sie weiter mitzubauen, weil sie nämlich gut sei - was alle sagen, auch die, die den DGB lieber nicht so viel mitreden lassen möch- ten. Der seinerseits betont seinen Charakter als eigenständige "politische Kraft", die m i t w i r k e n dürfen muß - und be- stätigt zumindest für seine Seite, daß die ausgiebig vertretenen Thesen vom "Ende des Klassenkampfs" stimmen. Nicht minder positiv als der DGB ist das Bild, das Leute und Gruppen in der westdeutschen Öffentlichkeit von sich abliefern, wenn sie g e g e n etwas sind. Und entsprechend sieht die Be- handlung aus, die ihnen von denen zuteil wird, die b l o ß da- für sind: - Eine Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, die Wahl eines ehema- ligen NSDAP-Mitglieds zum Bundespräsidenten zu verhindern. Trotz dieses Zeugnisses dafür, daß sich radikale Opposition in der BRD auch auf die Sorge um würdige Repräsentation von Herrschaft ver- steht, ist besagte Bewegung in die Schranken gewiesen worden. Und zwar mit dem Hinweis darauf, daß sich gegen ein mehrheitsfähiges, daher freiheitliches Staatsoberhaupt nicht schon deshalb etwas einwenden läßt, weil es sich auch unter heute mißbilligten poli- tischen Verhältnissen seinen Aufstieg erarbeitet hat. Der Skandal wurde keiner, die öffentliche Meinung befand den gestandenen Op- portunismus des Karl Carstens für gut, zog seine Treue zur FDGO nicht in Zweifel; unter den schwierigen Umständen des Dritten Reiches - so die Einlassungen des Staatsoberhauptes vor der Wahl - wäre er von seinem Jura-Studium nur allzuleicht ausgeschlossen worden, hätte er sich nicht ein Parteibuch zugelegt. - Der antifaschistische Widerstand mitten im demokratischen West- deutschland ist freilich nicht ganz erfolglos geblieben. Denn Filbinger ist Späth gewichen, allerdings nicht wegen seiner Ver- gangenheit, sondern wegen seines Ungeschicks beim Eingeständnis derselben. In diesem Fall haben die Leute gemeint, der Minister- präsident sei "untragbar" - aber ganz offensichtlich nur für seine Partei. Die hätte natürlich ebensowenig wie ihr Häuptling alles verloren, aber eben vielleicht 3% Wählerstimmen. Die Höhe- punkte antifaschistischer Begeisterung für den BRD-Staat lagen allerdings woanders: in einer nur in unserem Land organisierbaren Kampagne wurde mit einem 4-teiligen Ami-Film die Empörung des Volkes über den deutschen Staat "vorher" angefacht, ohne daß in den staatsbürgerlichen Zusatzveranstaltungen auch nur einmal zur Sprache kam, daß der Faschismus "irgendwo" etwas mit Staatsrecht und Bürgerpflicht, Kapital und Arbeit und dergleichen zu tun ha- ben könnte. Da wurde mit Geschick, Geschichte und Schicksal ope- riert und viel Verständnis entwickelt für alle, die tatkräftig am Faschismus mitwirkten. Leuten, die zweifelsfrei nie einen Gedan- ken an Widerstand hegten, wurde bescheinigt, wie schwer Wider- stand gewesen wäre. Insbesondere den Bürgern, ohne deren natio- nale Begeisterung wohl nicht viel aus dem Faschismus geworden wäre, wollte niemand zu nahe treten - nur einen Fehler haben sie begangen, und der war nicht der ihre: sie haben sich m i ß b r a u c h e n lassen und waren ungefähr genauso "verstrickt" in das unrühmliche Kapitel Geschichte wie all die ehrenwerten Leute, die schon mitten im Krieg daran dachten, hinterher einen neuen Staat aufzumachen und ihm als Politiker zu dienen. So war die Holocaust-Welle ein Siegeszug der großartigen Idee, der Faschismus sei das schönste Argument für die bundes- deutsche Demokratie. Die von jedermann für selbstverständlich und von Kritikern für berechtigt gehaltene Sehnsucht eines Deutschen, für seinen Staat geradezustehen, hat nach ihrem Mißbrauch endlich Gelegenheit, sich zu betätigen - dies das einhellige Urteil aller Stars und Komparsen des nationalen Sozialkundeunterrichts: ei- gentlich lohnt es sich erst heute wieder einmal, O p f e r zu bringen. Vor dem TV-Hintergrund der faschistischen Greuel hat ein Volk den Beweis angetreten, daß es im Bewußtsein seiner Freiheit um die Notwendigkeiten, die ihm sein Staat beschert, kein Aufhe- bens machen will. So wurde aus der A n s c h a u u n g des Fa- schismus, nachgestellt von ein paar Filmfritzen, eine erschüt- ternde Feier des demokratischen Nachkriegsdeutschland. Die Kom- plimente aus dem Ausland bezüglich des "Muts" unserer öffentlich- rechtlichen Anstalten lösten die Rede vom "häßlichen Deutschen" ab, und für "Staatsverdrossenheit" hatte niemand mehr etwas üb- rig. Der Gegenschlag gegen die antifaschistische Nörgelei am BRD- Staat, die ihn von dem Makel befreien möchte, persönliche Remi- niszenzen an seinen Vorgänger nicht getilgt zu haben, war gelun- gen: die Nicht-Identität konnte eindrucksvoll bewiesen werden - und das reichte als Argument für das zeitgemäße Urteil, auf das es einzig ankam, völlig aus: die BRD ist gut! - Diesem Leitsatz mündigen Bürgertums schließt sich auch eine Be- wegung an, die sich in ihrem P r o t e s t alle Argumente, Po- sen und Prozeduren zueigen gemacht hat, die für den Beweis tau- gen, daß man eigentlich am a l l e r d a f ü r s t e n ist: Die AKW-Gegner samt den vereinigten Grünen, Alternativlern und Anhän- gern des Schmetterlingsgedankens. Alles, was dieser Opposition mißfällt, erscheint ihr als nicht berücksichtigte Nebenfolge kurzsichtiger Profitgier. Vom eingebildeten Standpunkt der Menschheit aus greift der ökologische Protest nicht Politiker und Kapitalisten an, sondern deren moralische V e r f e h- l u n g e n; als Anwälte einer verschonten Natur und des gesamtgesellschaftlichen Verzichts sind die Grünen das b e s s e r e G e w i s s e n der Staatsgewalt, die ja auch ih- rer Meinung nach zu allerlei guten Werken berufen ist - so daß ihr Idealismus etliche Komplimente auf sich zieht. Ganz offiziell wird ihnen v e r a n t w o r t l i c h e s Denken bescheinigt, wenn sie die Schädigung "unserer" Gesundheit durch diverse Ener- gieerzeugungspraktiken und industrielle Giftverbreitung nur an- führen, um den gestörten Haushalt der Natur sowie den unserer schönen Demokratie zu beklagen. Ob mit Hochrechnungen über die verheerenden Folgen kapitalistischen Umgangs mit Land und Leuten, ob mit Visionen vom "Atomstaat" oder mit ökologischen Demonstra- tionen der eigenen Verzichtsbereitschaft - stets beteuert die neue Bewegung ihre G l a u b w ü r d i g k e i t durch das Be- kenntnis zum g e m e i n s c h a f t l i c h e n I n t e r e s- s e von "uns allen". Dabei übernehmen sie die "Verantwortung" für Dinge, die sie in der marktwirtschaftlichen Demokratie absolut nichts angehen (als ob man sie gefragt hätte, offerieren sie ihren Meinungsknopf "Atomkraft? Nein danke!" und ihre Bereitschaft, mit weniger Annehmlichkeiten auszukommen, gleich dazu, die Entgegnung von seiten der führenden Demokraten ist denkbar einfach: erstens meinen das nur sehr wenige; die Al- ternativen gehen auch nicht, weil sie noch zu teuer sind - und Atomstrom ist sauber, weil wirtschaftlich!), und ergreifen die B ü r g e r i n i t i a t i v e; als B e t r o f f e n e n fällt ihnen ein, daß ihr Anliegen das ihrer Repräsentanten zu sein hätte - und ihren Repräsentanten fällt auf, daß hier hochan- ständige Leute an ihr Gewissen appellieren. Sie geben die War- nung, sie möchten auf die Zukunft und auf die Natur achten, mit gutem Gewissen zurück: einerseits hätten sie sich schon längst der "Probleme" angenommen und Umweltgesetze gemacht, andererseits entbehre mancher der gutgemeinten Ratschläge des "Realismus": "wir" brauchen viel Energie, können uns auf die Ölscheichs nicht verlassen, und trotz der bereits praktizierten Selbstdisziplin in Sachen "Energiesparen" (nicht etwa "Geldsparen") werden "wir" um ein paar Kraftwerke nicht herumkommen. Im übrigen sollten die Bürgerinitiativen auf die falschen Gesellen aufpassen, die sich von links her in ihren Reihen breit machen - eine Aufforderung, der die inzwischen zum Wahlverein ausgebaute Bewegung schon des- halb gerne nachkommt, weil sie weiß, wovon ihre W ä h l b a r k e i t in der Bundesrepublik abhängt. So kon- struktiv ist die größte Protestbewegung der BRD beschaffen, daß sie, von den Politikern an ihre Prinzipien erinnert, sogleich s e l b s t k r i t i s c h wird und nur noch ein Problem auf- wirft: bringt sie bei den Wahlen die etablierte Parteienkonkur- renz durcheinander oder nicht? - Der Kampf um die politische Macht, den die beiden großen Par- teien und eine kleine hierzulande führen, wird streng demokra- tisch über die Stimmen der Wähler ausgetragen. Was da aber als Grund für die eine oder andere Alternative vorgebracht wird, wi- derlegt jeden Rest der bürgerlichen Ideologie, daß sich Kandida- ten für ein Staatsamt zur Verfügung stellen, um ihren Wählern Gutes zu tun. Der Wahlkampf in der BRD wird von Legislaturperiode zu Legislaturperiode immer mehr zur Demonstration dafür, daß die Unterwerfung unter die politische Gewalt des Staates und sonst nichts gefragt ist: die Parteien werben mit ihrer Eignung zum Re- gieren, mit dem unverhohlenen Hinweis darauf, daß sie beim Ge- brauch der Macht besser als die Konkurrenz die E m a n z i p a t i o n v o n d e n I n t e r e s s e n der Bevölkerung zu praktizieren in der Lage seien. Die Frage "Wer macht den stärksten Staat?" beherrscht die "sachliche Auseinan- dersetzung" und nicht das fingierte Eingehen auf die Wünsche des Wahlvolks. Da kann man mit dem Vorwurf Punkte machen, der Gegner würde sich mit "Wahlkampfgeschenken" auf Kosten der nationalen Sache prostituieren; noch die lächerlichsten Versprechungen gel- ten im Parteienstreit als unseriös, wenn nicht gar als skandalö- ser Verrat der Sache des Staats an partikulare Wünsche; da spielt bei jeder innerparteilichen Auseinandersetzung der Fingerzeig auf die nicht vorhandene Einheit des anderen Lagers eine Rolle: wer so streitet, heißt es, ist der Macht im Staate nicht würdig; zu sehr würden um ihre Berücksichtigung kämpfende Interessengruppen den Rückhalt der jetzigen oder künftigen Regierung schwächen. Keine Seite befürchtet, mit dem Argument, sie würde durch ihr Vertrauen in der Bevölkerung die "notwendigen Opfer" reibungslo- ser herbeiführen, Stimmen zu verlieren; und die Programmdiskus- sionen und Parteitage strotzen nur so von N a t i o n a- l i s m u s, mit dem der mündige Bürger die verlockende Per- spektive versprochen bekommt, zum Gedeihen seines Staates von seinen kleinlichen Interessen Abstand nehmen zu dürfen. Das sozialdemokratische Argument, eine Regierung der C-Parteien werde mit den Gewerkschaften nicht in derselben Weise einvernehmlich fertig - Originalton: setzt den sozialen Frieden aufs Spiel -, wird seit langer Zeit honoriert. Medien und Presse tun das Ihre dazu, daß Kritik nur als politische stattfindet, also in so herrlichen Fragestellungen gipfelt wie der, ob es der Kanzler und seine Mannschaft "schaffen"; ob der Oppositionsführer eine "gute Figur" macht, ist natürlich auch von brennendem Interesse. Den Schein, hier würden andere Alternativen verhandelt und ent- schieden als die des W a h l e r f o l g s, erhält nur noch eine hoffnungslose Minderheit von unzeitgemäß gläubigen Demokra- ten aufrecht: eine Linke, die ihre Kritik an der BRD auf die Sorge zusammenkürzt, in ihr wäre ein Rückfall hinter die erreich- ten demokratischen Errungenschaften noch immer nicht ausgeschlos- sen; die deswegen in ihren Anti-Strauß-Kampagnen den alternativen Kanzler zu einem alternativen, nämlich Anti-BRD-Programm umstili- siert. Das wählende Volk weiß dagegen, woran es sich zu halten hat. Kein Tag geht vorbei, an dem es nicht seine Repräsentanten in wichtigen weltpolitischen Missionen besichtigen und aus dem vom Fernsehen vorgeführten Vergleich seine Schlüsse ziehen kann. Fährt Schmidt voraus oder Strauß hinterher? Gesagt und repräsen- tiert wird von beiden ohnehin dasselbe. Die "Ohnmacht" der Bun- desrepublik, ihre "Einbindung" ins westliche Bündnis und derglei- chen wird beschworen, allerdings auch stets mit "mehr Gewicht" in der Weltpolitik kokettiert und spekuliert - und das nie ohne Klarstellung der "Notwendigkeit", daß die "Handlungsfreiheit" in einem Fall, die "gebundenen Hände" im anderen von den lieben Bür- gern nur eines verlangen: mitmachen, und das heißt ihrer Regie- rung durch keinerlei Ansprüche in die Quere kommen. Kein Wunder, daß die subtile u n d die grobe Ausländerhetze ihren festen Platz in der Werbung der Parteien für ihre Variante der Machtaus- übung erobert haben. - Erwähnt werden muß auch noch der im wahrsten Sinne des Wortes liberale Umgang mit Kommunisten. Sooft diese Minderheit - auf Un- terschiede kommt es ganz und gar nicht an - an irgendeinem Pro- test beteiligt ist oder eine Aktion hinter sich gebracht hat, pflegen die verantwortlichen Männer und Frauen der Nation aufge- regt darüber zu diskutieren, ob wieder einmal ein Verbot der Or- ganisationen anstünde, damit alles mit K im Namen das politische und soziale Leben der BRD nicht verunziere. Wenn sie in den letz- ten Diskussionsrunden dieser Art zu dem Ergebnis gelangt sind, auf eine Neuauflage des KPD-Verbotes von 1956 zu verzichten, dann stets mit Überlegungen, die die Chancenlosigkeit kommunistischer Umtriebe hervorhoben und die S i c h e r h e i t der "maßgeblichen politischen Kräfte" in diesem, unserem Lande beton- ten - also ein Verbot für n i c h t o p p o r t u n erachte- ten, obgleich seine Durchführung weitaus geringere "Schwierigkeiten" machen würde als die Aktionen von 1956. O h n e offizielles Verbot machen sich Nachrichtendienste, Poli- zei und Justiz an der Kriminalisierung von linken Leuten zu schaffen und diesen ihre Politik und das Leben schwer; die Be- rufsverbote sind durch die Besprechung von F ä l l e n und ih- rer Notwendigkeit zum festen Bestandteil des demokratischen All- tags geworden; so verbindet sich die Freiheit in wunderbarer Har- monie mit der Behinderung von Vereinen, die dagegen sind. Dem "einfachen Bürger" ist das recht. Er erschrickt eher vor einem Studenten, der ihm ein Flugblatt in die Hand drückt, als vor sei- nen Politikern, die unbehelligt von des Volkes Meinung ihre Auf- rüstungsbeschlüsse durchziehen, laut darüber nachsinnen, ob das Heer nicht durch Frauen aufzustocken ginge - und Kirchentage be- suchen. Dazwischen verschaffen sie sich innerhalb einer Woche mit "Anti-Terror-Gesetzen" die "unerläßlichen" rechtlichen Handhaben für all das, was ihre Exekutivorgane in Sachen Jagdsport ohnehin längst tun. Von all ihren guten Taten unterrichten die Massen- blätter täglich das Volk, weisen es darauf hin, wer außerhalb und innerhalb der Nation zum Hindernis dafür wird und werden könnte, daß "unser Staat" seine Handlungsfreiheit bewahrt - und die Kunst der Selbstbeherrschung in Betrieb und Familie wird ausgiebig nach allen Regeln der Psychologie an den Mann gebracht. Die professionellen Betreiber der öffentlichen Meinung nehmen die Bildung des politischen Willens, an der sie mitwirken, ziemlich ernst. Bundesdeutsche Journalisten wissen auch um ihre Verantwor- tung als "vierte Gewalt" und führen mit Vorliebe Debatten um die "Gefahren", die von ihrem Handwerk so ausgehen. Nach dem Motto: "Wer kontrolliert die Kontrolleure?" führen sie ständig die Ge- fahr u n b e h e r r s c h t e n Journalistentums im Munde; sie erfinden die Gefahr der Unbotmäßigkeit der Bürger, welche die von der Presse etc. veranstaltete theoretische Teilhabe an den schwierigen Entscheidungsprozessen der Politiker heraufbeschwören könnte. Das devote Gebaren von Interviewern, die einen politi- schen Häuptling vors Mikrophon kriegen und ihm mit vorbereiteten Fragen in den Arsch kriechen, zeigt, wozu sich deutsche Meinungs- macher durchgerungen haben - aus den respektlosen Anwürfen gegen Kohl seitens niederländischer Fernsehbürger ist tatsächlich so etwas wie ein Skandal gemacht worden. Leistet sich ein Mann vom Staatssekretär aufwärts einen Verstoß gegen die heiligen Prinzi- pien demokratischer Geschäftsführung, so wird sein Fehltritt 1. nur zögerlich enthüllt und 2. nur mit der wichtigen Frage zusam- men der "Öffentlichkeit" übergeben, ob das Enthüllte oder die Enthüllung das eigentlich Verwerfliche sei! Und noch jeder Abhör- fall, dessen Rechtfertigung durch den zuständigen Minister für den demokratischen Menschenverstand zu wünschen übrig läßt, zieht die Forderung nach sich, man solle Gesetze schaffen, die den Be- hörden das Leben und das Abhören nicht so schwermachen - und dem Bürger die Gewißheit vermitteln, was ihm alles blüht. Verschleie- rung ist also die Sache der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht, ebensowenig wie Kritik. In aller Offenheit macht sie die Bürger mit den Sorgen bekannt, die sie der Regierung bereiten. Daß es demokratischen Politikern "doch bloß" um die Macht geht, wird dem Volk ebenso schonungslos mitgeteilt wie das Bekenntnis zur Nütz- lichkeit einer Staatsgewalt, die in der Gewißheit, den Volkswil- len darzustellen, völlig souverän darüber entscheidet, was des Volkes Wille ist. Die Medien der BRD gehen völlig in ihrer Pflicht auf: sie sind so frei, eine Unterabteilung des Regie- rungsgeschäfts zu sein. In der Bundesrepublik ist alles unter be- ster demokratischer Kontrolle. Wo immer sich Kritik regt oder angeregt wird, erfährt sie sogleich ihre Zurichtung: verantwor- tungsvoll hat sie zu sein, also in Vertrauen und Zustimmung denen gegenüber auszuschlagen, die die "Verantwortung tragen". Wer sich aus seinen Einwänden gegen den Gang der Geschäfte nicht gleich ein staatsbürgerliches Gewissen macht, ist verdächtig, nicht kon- struktiv und muß sich den harten Vorwurf gefallen lassen, daß er nur seinen, weil der freiheitlichen Demokratie Feinden nütze, die auf der Flamme der Empörung "ihr Süppchen kochen". Diese Redens- art ist der bundesrepublikanische Zensurstempel, mit dem der seine negative Meinung äußernde Bürger sich noch allemal zur Ord- nung rufen läßt, wenn er schon einmal etwas auszusetzen hat. Daran, daß die Hauptbeschäftigung der westdeutschen Öffentlich- keit nicht in Kritik, sondern in der Kritik von Kritikern be- steht, läßt sich ermessen, welche Freiheiten diejenigen genießen, die sich der Ausgestaltung der politischen Herrschaft verschrie- ben haben. 2. Wirtschafts- und Sozialpolitik: der Klassenkampf von oben ------------------------------------------------------------ Die Vorteile der gelungenen Politisierung, von der die westdeut- sche Öffentlichkeit Zeugnis ablegt, liegen zunächst einmal ganz bei der dreigeteilten Staatsgewalt. Die Techniken demokratischer Unterwerfung sichern ihr die prinzipielle Zustimmung zu allen Maßnahmen, die sie ihrem "Auftrag" entsprechend für nötig erach- tet. Weder brauchen sich die Politiker über mangelnden Zuspruch bei Wahlen zu beklagen noch haben sie Sorgen wegen der "Gleichgültigkeit", mit dem Desinteresse ihrer Bürger zwischen den Wahlterminen, an denen das Volk sein Interesse an einer "leistungsfähigen" Regierungsmannschaft bekundet. Im Unterschied zu den akademischen Propagandisten des "mündigen Bürgers", die in ihrer Sorge um den idealen Zeitgenossen nicht müde werden, mehr politische Aktivität - sei es nach links oder rechts - zu verlan- gen, wissen sie sehr genau um die Kleinigkeit, auf die es im Ge- schäft der politischen Willensbildung einzig ankommt: daß das Volk seine Interessen in politische Alternativen ü b e r- s e t z t und darin d e n staatlichen Auftrag bewirkt und immer wieder erneuert. Im Streit der politischen Meinungen, wie ihn die bundesrepublikanischen Parteien vor und unter den Bürgern austragen, kommt kein Zweifel darüber auf, worin die Leistung der demokratisch hergestellten Souveränität des Staates zu bestehen hat. Dieser Streit führt getreulich Protokoll über die Taten der Regierung, die ihre Handlungsfreiheit nützt und dabei nur von einer Opposition bedrängt wird, die genau dasselbe machen würde wie sie: in aller Gründlichkeit regelt sie die Austragung der Gegensätze in der bundesrepublikanischen Wirtschaftswelt, ge- nehmigt in ihrer Treue zum Grundgesetz den verschiedensten sozia- len Klassen und Gruppen der Gesellschaft die Verfolgung ihrer An- liegen - oder verwehrt sie ihnen -, betont den "pluralistischen Charakter" des neuen Deutschland und nennt das Ganze ihrer Wirt- schafts- und Sozialpolitik einen "Ausgleich der Interessen". Die allgemeinen Prinzipien des modernen Klassenstaats, der auf die profitable Abwicklung der Konkurrenz und deswegen auch auf die Brauchbarkeit der arbeitenden Klasse achtet, sind dabei zu einer Perfektion gediehen, die ihresgleichen sucht. Während in anderen entwickelten kapitalistischen Staaten Krisen auch zu R e g i e r u n g s k r i s e n führen, weil die diversen Oppo- sitionen sich die Opfer der ökonomischen Konjunktur, die Ver- schlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und die daraus enstehende politische Unzufriedenheit zunutze machen, sind die Macher des Modells aus der zeitweiligen Verringerung des Wachs- tums an Kapital als politische Helden hervorgegangen. Wo ander- wärts die dem Klassenstaat gemäße harte Gangart gegenüber gewerk- schaftlichem Aufbegehren ihre demokratische Konsequenz nach sich zieht - die Regierungspartei verliert das Vertrauen ihres Wähler- volks sowie die Unterstützung mancher auf tätige Hilfe scharfer Kapitalisten -, also zur Erprobung der Opposition Anlaß gibt, hat man sich in der Bundesrepublik jenseits der "Lager" schon einmal auf die nationale "Lösung" einer großen Koalition besonnen, wel- che seitdem auch immer wieder ins Gespräch kommt für den Ernst- fall - der hierzulande eine Opportunitätserwägung der Parteien ist, also lange vor dem staatlichen Notstand ins Blickfeld rückt. Besonderer Schwierigkeiten mit dem Regieren enthoben, läßt sich die Regierung der späten 70er Krisenjahre von der politischen Al- ternative im Land offen und versteckt bescheinigen, daß die auch nichts besser machen könnte. Der von wegen nahender Wahlen von Strauß und den Seinen bisweilen in die Diskussion gebrachte Vor- wurf, die Koalition sei nicht (mehr) handlungsfähig, blamiert sich schon im Augenblick seiner Artikulation. Die Sozialdemokra- tie hat immerhin nicht nur das Erbe gewisser maßgeblicher Momente der Arbeiterbewegung angetreten (die bis Gotha und Erfurt zurück- reichen, also Tradition h a b e n!), sondern auch das von Kon- rad Adenauer. Ihre spezifischen Leistungen für die Klassengesell- schaft der Bundesrepublik kann nur übersehen, wer mit rechter oder - noch schlimmer - linker Brille die Ideale des Sozial- staats, jene Ideologie einer Politik für die "sozial Schwachen", mit der Durchsetzung von Interessen verwechselt, die sich gegen das Kapital richten. Erstens haben Sozialdemokraten den Idealis- mus des linken und intellektuellen Protests für sich eingespannt; zweitens haben sie, wo sich dies nicht machen ließ, die Ächtung der Kritiker bis hin zur Kriminalisierung erwirkt und prakti- ziert, so daß heute alles, was links von der SPD steht, der be- hördlichen und polizeilichen Observation unterliegt. Und drittens haben sie die Resultate des "Wirtschaftswunders", das akkumu- lierte Kapital wie die über das Lohnsystem, die Gewerkschaft und den Sozialstaat zugerichtete Arbeiterschaft so konsequent für die staatlichen Ziele ausgenützt, daß die C-Parteien mit ihrer "Freiheit statt Sozialismus" lächerlich werden und Strauß sich von der SPD sagen lassen muß, er sei ein "Sicherheitsrisiko" - für die Abwicklung des nationalen Betriebs. Woraus viertens eben nicht folgt, daß die Christen keine Chancen mehr hätten in diesem unseren Lande. Immerhin haben die Sozialliberalen die rationale Einigung soweit vorangetrieben, daß heute jede Mannschaft gleich problemlos die Republik regieren kann. Eine bundesdeutsche Regierung verfügt nämlich heute unabhängig von ihrer Couleur über M i t t e l d e r K r i s e n- b e w ä l t i g u n g, die den ausländischen Kollegen schmerz- lich abgehen: a) ein mit hoher Produktivität gesegnetes Kapital, das auf dem Weltmarkt mit der Konkurrenz fertig wird und vom Staat nach allen Regeln der Finanz- und Steuerpolitik Unterstützung erhält, um sich auch künftig im W a c h s t u m zu üben. Wenn der BRD- Staat seinen Haushalt verschuldet, weil er Milliarden für Inve- stitionsprogramme locker macht, dann l o h n t sich die Sache auch und gerade in der Krise, weil er den A u f s c h w u n g mit gewaltigen Gewinnen subventioniert. Seine "Opfer" gelten zünftigen Rationalisierungsinvestitionen und unterscheiden sich in ihrer Wirkung ganz entscheidend von der anderswo praktizierten Alternative der Subvention von Verlusten und der Verstaatlichung unrentabler Betriebe. b) eine "vernünftige Arbeiterschaft", die den Auswirkungen von Krise wie Aufschwung einerseits die Bereitschaft zu gesteigerter Leistung entgegensetzt, andererseits mit Hilfe des "sozialen Net- zes" die staatlich reglementierte Form einer geplanten Armut er- fährt. Im Modell Deutschland sind die unter der Rubrik S o z i a l s t a a t zusammengefaßten Leistungen nicht nur stets nach guter ideologischer Sitte als Wohltat des Staates ge- priesen worden; der Zwang, mit einem Teil des Lohnes für die Un- sicherheit und die äußerst gesicherten negativen Folgen der Lohn- arbeit geradestehen zu müssen, ist hier zugleich für die Beförde- rung nationaler Großanliegen f u n k t i o n a l i s i e r t worden. Der westdeutsche Staat macht schon immer Ernst mit der Auffassung, die den Lohnabhängigen auferlegte und staatlich ver- waltete Kompensation ihrer Unbrauchbarkeit (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Alter) sei ein G e s c h e n k; er dis- poniert mit den Zwangsbeiträgen wie mit den Steuern der Leute recht großzügig als einem Posten seiner Einnahmen, der sich auch einmal erhöhen läßt - aber auch als einem Posten seiner Ausgaben, die er dann vermindert, wenn die einschlägigen Zahlungen bei den Opfern des Arbeitslebens und der Konjunktur am nötigsten sind. Die allgemeinen Grundregeln kapitalistischen Wirtschaftens für die arbeitende Klasse - viel Leistung, knapper Lohn - sind in Westdeutschland also nicht nur um die sozialstaatlichen Zusätze bereichert worden, in denen der Staat die bleibende Armut der Lohnarbeiter und die ständig fällige Pauperisienng so handhabt, daß beides die Verwendbarkeit der Klasse nicht gefährdet, deren Abschaffung findige Denker ausgerechnet dem Sozialstaat zugutehalten; in den T e i l e n d e s A r b e i t s- l o h n s, die als Steuer und Zwangsbeitrag in die öffentlichen Kassen fließen, hat die Staatsgewalt einen H e b e l i h r e r K o n j u n k t u r p o l i t i k entdeckt, durch den sie ihren Auftrag, die Mehrung des nationalen Reichtums zu bewerkstelligen, vorbildlich erledigt. Sie beweist durch ihre Taten, daß die Mehr- heit der Bürger vom Funktionieren "der Wirtschaft", von dem sie abhängig ist, nichts zu erwarten hat - und versichert zugleich, daß Politik in ihrer "Ohnmacht" gegenüber den "Sachzwängen" der Wirtschaft nichts anderes zum Ziel habe, als den Leuten Ar- beitsplätze, soziale Sicherheit und die V o r a u s- s e t z u n g für ihre "Lebensqualität" zu verschaffen. Den K l a s s e n k a m p f, den kein Politiker den Proleten als ein brauchbares Mittel fürs Zurechtkommen in und außerhalb der Fabriken des 20. Jahrhunderts empfehlen mag, f ü h r e n sie alle auf der anderen Seite, für sie. In minutiösen rechtlichen Bestimmungen haben sie einer Abwehr gegen die zerstörerischen Wirkungen der Lohnarbeit und die staatlichen Übergriffe auf den Lohn Schranken gesetzt; mit der Erlaubnis des Arbeitskampfes haben sie die Verpflichtung festgeschrieben, die Vertretung von Arbeiterinteressen nicht zu einer Störung der Wirtschaft auswachsen zu lassen. In großzügiger Manier unterstützen sie die innerbetriebliche, in den diversen Lohnformen festgeschriebene Erpressung der Lohnabhängigen zur Steigerung ihrer Leistungen. Der "Weg aus der Krise", den die Bundesregierung unter dem Beifall ihrer Freunde daheim und auswärts "gefunden" hat, verdient in der Tat vorbildlich genannt zu werden - allerdings nur für Leute, die die Mehrung des nationalen Reichtums in Form von Kapital, also durch den Ausschluß der Produzenten von ihm, für d i e Notwendigkeit erachten. An den Steuern, an der Höhe der Zwangsbeiträge, am Modus der Arbeitslosenvergütung (Neufassung der Zumutbarkeit), an den Kosten der Krankheit (das bekannte Dämpfungsgesetz), an den Preisen - überall, wo es ging, hat der "freiheitlichste Staat" in der nationalen Geschichte ge- dreht, und stets in dieselbe Richtung. So nimmt es nicht Wunder, daß die Produktivität des Kapitals "made in Germany" weiterhin Spitze ist in der Welt - und daß für alles, insbesondere für un- seren Beitrag zur "Verteidigung der Freiheit", genügend Geld da ist; für alles außer eben für jene ökonomische Größe, von der die gewöhnlichen Leute ihren Lebensunterhalt bestreiten. Man sollte den Lohn gänzlich abschaffen! 3. Die Rolle der BRD in der imperialistischen Arbeitsteilung ------------------------------------------------------------ Sowohl die Ideologien, mit denen in der bundesdeutschen Öffent- lichkeit über das Gelingen der Politik und den dafür erforderli- chen "Beitrag" der verschiedenen Sorten der Bevölkerung gerechtet wird, als auch die skizzierten Freiheiten, die sich jede Regie- rung in diesem, unserem Lande herausnimmt, verweisen darauf, daß es Betroffene gibt, deren Abstinenz in Sachen Klassenkampf den Politikern und ihren Sprachrohren das Amt so leicht macht. Was sie sich gefallen lassen, hat aufgrund der anderen Seite ihres Wohlverhaltens - sie l e i s t e n einiges für "die Wirt- schaft", an deren Blühen allen Demokraten so viel liegt jene Stellung der BRD im Konzert der Nationen bewirkt, die ihren Re- präsentanten das schöne Gefühl vermittelt, für einen "ökonomischen Riesen" zu sprechen. Durch die erfolgreiche Bewäl- tigung des Klassenkampfes, die sie sich natürlich hoch anrechnen, sind bundesrepublikanische Politiker und Wirtschaftsgrößen in der glücklichen Lage, auch außerhalb der Grenzen Westdeutschlands Maßstäbe zu setzen. Weil sich die bundesdeutschen Arbeiter nun seit dreißig Jahren dafür einspannen lassen, daß die von den Ame- rikanern weiland in Gang gebrachten Geschäfte florieren, haben die maßgeblichen Figuren in der internationalen Staatenwelt eini- ges zu bieten. Die Produkte der westdeutschen Industrie sind Schlager im internationalen Preis- und Qualitätsvergleich, die mit ihrem Erlös wachsenden Kapitale machen sich als Anleger auf dem Weltmarkt des Kapitals bemerkbar, wo immer sie dürfen. Dabei sind sie nicht nur innerhalb der EG heimisch, die extra für die Internationalisierung von Handel und Produktion geschaffen wurde und den beteiligten Ländern neue Perspektiven in der Konkurrenz gegeneinander und gegenüber Dritten eröffnet hat - inzwischen ist Europa die gelungenste Überwindung nationaler Schranken, die ei- nem deutschen Staat je gelungen ist. Unter dem Schutz der USA hat sich die Bundesrepublik in allen Gegenden des militärisch wohlbe- hüteten Globus ihrer ökonomischen Mittel der Konkurrenz bedient und unterhält profitliche Beziehungen mit der arabischen Welt ebenso wie mit Brasilien und China. Ein- und aufgerichtet als Vorposten der Freiheit hat die BRD es verstanden, den kalten Krieg zu einem Geschäft mit dem Gegner fortzuentwickeln, ohne die Gegnerschaft aufzugeben, für deren erfolgreiche Bewältigung ohne- hin die USA zuständig bleiben, und mit dem Ergebnis, daß die Ko- operation dem Ostblock einigermaßen zu schaffen macht. Umgekehrt wollte sich der mit der "wissenschaftlich-technischen Revolution" im Kampf liegende reale Sozialismus, ungeachtet der ihm eigenen Schranken für die Bewegungsfreiheit des Privateigentums, dem bun- desrepublikanischen Drang nach "Aussöhnung" und "Entspannung" nicht verschließen. Entwicklungshilfe (jene Sorte Investition in Regierungen, die das Elend ihrer Untertanen zur Grundlage inter- nationaler Partnerschaft entwickeln und vor lauter Beflissenheit gegenüber den Partnern, den "Entwickelten", ihre Bevölkerung kre- pieren lassen) ist ein ebenso alltäglicher Posten im politischen Haushalt der BRD wie die dazugehörigen Waffengeschäfte - und bei der "Auswahl" der Partner ist die Bundesregierung nicht kleinli- cher als die Nachfolger der alten Kolonialreiche oder die USA. Sämtliche Praktiken imperialistischer Erpressungskunst sind den Demokraten der Republik geläufig - samt dem dazugehörigen öffent- lichen Getue. Ein westdeutscher Wirtschaftsminister spricht zu seinem Volk von "unserem Öl", von "unseren Freunden" und "von un- seren sicherheitspolitischen Interessen". Letztere liegen seit Bestehen der Republik streng an der Seite der USA, also überall dort, wo die westliche Großmacht die ihren entdeckt. Weil die Freiheit "unseres Staates" ein Nachkriegsge- schenk der Amis ist, ist sie auch von Anfang an mit einigen im- pliziten und expliziten Auflagen verbunden gewesen. Als Staat, den sich die Großmacht Nr. 1 aus strategischen Erwägungen einge- richtet hat, ist die BRD zunächst einmal Anlagesphäre amerikani- schen Kapitals geworden: die Souveränität Westdeutschlands, die durch die Kapitalisierung des Dollars und für sie vollzogen wurde, hat in dieser ihrer Grundlage auch ihre bleibende Schranke. Zwar ist mit ihr die Berechtigung, e i g e n e G e s c h ä f t e zu machen, erteilt; und die befugten Herr- schaften haben es auch zum "ökonomischen Riesen" gebracht - doch wird an Währungsfragen sowie an gewissen Interventionen in Sachen Handel, Atom und Öl immer wieder deutlich, daß die Bewegungsfrei- heit in der imperialistischen Konkurrenz dem Freiheitsdrang der USA nicht zuwiderlaufen darf. Der andere Preis für die amerikani- sche Konzession, einen eigenen Imperialismus aufbauen zu dürfen, liegt in der Verpflichtung, einen "Beitrag" zur Sicherheit des Westens zu leisten. Dieser Pflicht ist die BRD mit ihrer NATO- Bundeswehr nachgekommen, ohne allerdings damit das Placet dafür zu erhalten, aus der Rolle des "politischen Zwergs" herauszutre- ten; ebenso wie auf dem Feld der ökonomischen Konkurrenz die na- tionalen Anliegen der BRD am Geschäftsinteresse der USA ihre im- mer wieder spürbare B e d i n g u n g erfahren, nimmt sich der atlantische Bündnispartner in seiner Strategie, die dem ganzen Globus gewidmet ist und im militärischen Kalkül gegen die So- wjetunion gipfelt, das R e c h t heraus, auch Entscheidungen zu treffen, die den Machern in Bonn gar nicht passen. Da gibt es durchaus eindeutige Diktate in Rüstungssachen, die dem "politischen Zwerg" im "Herzen" Europas ein Kriegspotential aufs Terrain stellen, das ihn auch auf dem Feld der Waffen zu imperia- listischen Großtaten befähigt. Am Hin und Her über Maß, Kosten und strategischen Zweck der gewünschten und verordneten Aufrü- stung läßt sich allerdings auch ablesen, daß es der große Bruder aus Übersee bei diesem Unternehmen darauf abgesehen hat, daß die BRD zweite Garnitur im freien Westen und damit dem amerikanischen Kalkül verfügbar bleibt - als Vorposten im nuklearstrategischen Poker mit den Russen. Darin wiederum hat die bundesdeutsche Au- ßenpolitik ihre Stärke. Die Bundesrepublik ist also in jeder Hinsicht am Imperialismus b e t e i l i g t, was sich in den "Alternativen" demokratischer Außenpolitik zeigt: entweder man betont zuerst die Differenzen zu den USA und beteuert dann die unverbrüchliche Freundschaft, oder man macht es umgekehrt - beides natürlich mit demselben Ergebnis. Von der "Fortsetzung der Entspannungspolitik" bis zum Einbau des Olympiaboykotts in die Aufrüstungsverhandlungen weiß jeder "verantwortliche" Außenpolitiker, daß sich die "sicherheits- politischen Notwendigkeiten" des W e s t e n s - die immer beachtet werden müssen - und die Interessen der e i g e n e n Nation n i c h t decken, beim gedeihlichen Osthandel, beim freundschaftlichen Verkehr mit den Franzosen, anläßlich von Sonderabkommen mit Ölförderländern usw. So ist die unter dem Motto "wir wollen auch gar nicht (wieder) politische Riesen werden" veranstaltete Propaganda für den Nationalismus des Volkes auch einigermaßen verhalten. So sehr die BRD als ein Staat zur Darstellung gelangt, in dem es sich im Unterschied und gegen an- dere zu leben und zu arbeiten, zu kaufen und zu sparen, zu lei- sten und maßzuhalten lohnt, so wenig wird der durchaus volkstüm- liche Anti a m e r i k a n i s m u s, der ja kein A n t i- imperialismus ist, geschätzt. Der Nationalismus nach außen bleibt der Sphäre vorbehalten, in der er für die außenpolitische Taktik allemal unbedeutend, weil sowieso funktional ist. Er lebt in den unterhaltsamen Sparten der Massenkultur, insbesondere im sportlichen Vergleich der Staaten, wo er als friedliches Kräf- temessen der Staatsvölker darauf wartet, für die Notwendigkeiten der Politik und der Vermehrung des nationalen Reichtums mobili- siert zu werden. Großartige Medaillenspiegel und nicht gewonnene Preise beim Schlagerfestival unterstreichen dezent, worauf es im Moment den heimischen Staatsmännern ankommt; ob so etwas über die Begeisterung oder Enttäuschung der Massen hinaus politische Be- deutung erlangt, hängt ganz davon ab, ob sich die Macher der Re- publik dazu entschließen, sich der Feindseligkeit oder Ängste ei- nem fremden Menschenschlag gegenüber zu bedienen. Wenn es darauf ankommt, verhilft die offizielle Propaganda dieser Sorte Nationa- lismus aus ihrer Unbedeutendheit heraus, denn mit der s e l e k t i v e n Handhabung lassen sich die den politischen Konjunkturen entsprechenden S c h u l d i g e n immer fristge- mäß finden. Schuld sind sie an den Opfern, die der gewöhnliche Deutsche zu bringen hat; so ist die Abgefeimtheit der Ölscheichs direkt proportional zu den Gewinnen der hiesigen Ölgesellschaften gestiegen, die als M u l t i s auch zu viel absahnen, genau wie die Japaner mit ihren dumping-verdächtigen Toyotas. Und natürlich kriegt jeder Arbeitsmann - so es die Konjunktur außenpolitischer Händel gebietet - per Zeitung und Fernsehen tagtäglich gesagt, daß er zum "freien Westen" gehört, weil er ein Westdeutscher ist. Nicht nur die K r i s e unserer Wirtschaft, auch die möglichen und notwendigen K r i e g e erfordern eben, daß jeder gegenüber dem Hauptfeind seinen Mann steht. Daß sich die "Massen" so geleh- rig zeigen in dieser Hinsicht, wie sie ihr Verständnis bekunden auch für "unsere Sicherheitspolitik" und die daraus folgenden Auflagen in Sachen Atomkraft und Bundeswehr, Tarifpolitik und Geldbeutel, ist der Erfolg der Schulung einiger Jahrzehnte: vom Nationalismus des "eigentlich besseren Deutschland" der Entnazi- fizierungsepoche über die gesamtdeutsche Heimatliebe zu den Brü- dern und Schwestern in der Zone, vom Triumph der Nationalmann- schaft 1954 bis zum Selbstbewußtsein des guten, weil deutschen Europäers unserer Tage. Gerade als g e b r e m s t e r ist der bundesdeutsche Nationalismus brauchbar für die Harmonie von Nutz- nießern und Geschädigten "der Wirtschaft", zwischen Regierenden und Regierten - und die Linke wird mit Hilfe der Ideologie der Völkerfreundschaft auch in diesem Nationalismus, weil er "politisiert", wie weiland in der Krise, zunächst eine "Chance" sehen, bis ihre Hoffnungen von der "Geschichte " widerlegt wer- den. Die tatsächliche Widerlegung ihrer Vorstellungen sowie die offenkundigen Fakten und Folgen der Ausbeutung, d e r G r u n d l a g e für die Freiheiten der politischen Herrschaft, haben sie stets ohnehin "übersehen". II Die Lage der arbeitenden Klasse und ihre Gewerkschaft ----------------------------------------------------- 1. Ausbeutung und Armut im Modell Deutschland --------------------------------------------- Mit einigem Vertrauen und viel Wählerstimmen läßt sich kein Staat machen. Die großspurigen Gesten der Politiker, die geschäftig vom Parlament zum Interview und von diesem zum nächsten Flugzeug ei- len, um im Ausland ihren Kollegen von der Größe ihrer Nation zu künden, Verträge abzuschließen, Waffen zu bestellen oder zu ver- scheuern, Projekte schmieden und immerzu Verantwortung tragen - eben das gesamte politische Getöse beruht auf dem R e i c h t u m, den sie repräsentieren und dessen beständige Vermehrung sie verwalten. Und aus ihren Verlautbarungen, die je- dermann zugänglich gemacht werden, damit man weiß, für wen man sich begeistern soll - die Hälfte des in Zeitungen Gedruckten und im Fernsehen Erzählten besteht aus gefällig kommentierten Sprü- chen der Prominenz -, geht hervor, daß diese Herrschaften auch genau wissen, w o h e r der Reichtum und somit die Größe der Nation kommt. Daß in allen Phasen der Konjunktur g e a r b e i t e t werden muß, und das nicht zu knapp, ist al- len so geläufig, daß sie das Lob der deutschen Wertarbeit, des Fleißes "der Deutschen", die viel weniger Pausen und Streiks ver- anstalten als ihre ausländischen Kollegen, zu einem festen Be- standteil ihrer "politischen Arbeit" haben werden lassen. Und nicht nur das. Auch die andere Grundlage des ökonomischen Erfolgs ist ihnen vertraut: die Arbeit muß auf dem Arbeitsmarkt b i l l i g zu kriegen sein. Keine "Herausforderung", mit der die Lenker von Staat und Wirtschaft konfrontiert werden, die nicht durch e i n Mittel zu bewältigen wäre: durch eine "vernünftige Lohnpolitik", also durch die Bescheidenheit der Leute, die - statt große Herausforderungen zu meistern - ledig- lich jahraus jahrein in die Fabrik gehen und ihre Knochen und Nerven betätigen. Der Import von Öl und Dollars, der Export von VWs und Maschinen, die Lage an Rhein und Ruhr, die Krise der Werftindustrie, der Aufschwung und die Inflation - kurz: a l l e s verlangt die sparsame Kalkulation mit den Lohnkosten. Im Gegensatz zum Politiker, dessen B e r u f im ausgiebigen Ge- brauch der politischen Freiheit besteht, das Volk per Gesetz und Agitation wissen zu lassen, was erlaubt ist und was nicht, ist die freie politische Betätigung für die Mehrheit der Bürger nur ein Z u s a t z zu ihrem Tagwerk. Die freie Meinung über die Weltenläufte, die ihnen täglich frisch und frei ins Haus zur Bil- dung einer eigenen geliefert wird, das Hin und Her von Geschimpfe und Respektsbezeugung über die "da oben", die Kundgabe dieser Meinung in Form eines Stimmzettels, mit dem sie an der Entschei- dung teilhaben - eben s e i n e politische Aktivität vollzieht der gewöhnliche Zeitgenosse, w ä h r e n d und n a c h d e m er arbeitet. Und in diesem Gebrauch seiner politischen Freiheit bekundet er in aller Form sein Einverständnis mit der Politik, die sich an der Verwaltung seiner Armut bewährt, die sein Beruf mit sich bringt. Der gewöhnliche Mensch ist nämlich L o h n a r b e i t e r von Beruf, vermehrt mit seiner Leistung das Eigentum anderer und gibt den Repräsentanten der Nation fort- während Gelegenheit, mit dem Reichtum, den es als Kapital gibt, Staat zu machen. Für diese Übung erhält er in dieser unserer Bun- desrepublik wie in anderen kapitalistischen Ländern auch die le- benslange Freiheit, Lohnarbeiter b l e i b e n zu dürfen und zuzusehen, wie er mit den Notwendigkeiten dieses Gewerbes fertig wird. Der Notwendigkeiten gibt es wegen der unerbittlichen Ge- setze der Wirtschaft, denen sich die Regierenden unmöglich ver- schließen können - worin sonst sollte die Kunst politischer Herr- schaft bestehen als in der Durchsetzung von Z w ä n g e n? -, ziemlich viele, die freilich auch hierzulande allesamt nur einen Grund haben. Doch dürfte es ganz unabhängig von den näheren Auskünften über die Welt von Leistung und Lohn nicht überflüssig sein, über die in aller Welt sicher stark bezweifelte Behauptung, L o h n a r b e i t b e d e u t e A r m u t, einiges klarzu- stellen: schließlich weiß heute jedes Kind, daß wir es bei der BRD mit einer "Wohlstands-" und "Überflußgesellschaft" zu tun ha- ben. Weder ist zu leugnen, daß es Wohlstand und Überfluß g i b t, noch soll die Tatsache bestritten werden, daß Millionen Lohnabhängige mit dem Auto zur Arbeit fahren. Dennoch bedarf es stets eins albernen Vergleichs mit "schlechten Zeiten" oder Land- strichen, in denen das Verhungern "normal" ist, um auf den Spruch zu kommen: "Heute geht es dem deutschen Arbeiter gut". Wer die Erscheinungsweisen moderner Lohnarbeit am Pauperismus mißt, not- gedrungen keine Armut entdecken können, denn aus diesem Grund stellt er ja seinen Vergleich an. Der Zweck der Übung besteht eben einzig und allein in der Deduktion der Frechheit, die Ver- sorgung eines Arbeiters mit dem N ö t i g e n als "Wohltat" der Industriegesellschaft und ihres demokratischen Staats hinzustel- len und alle Ansprüche für vermessen zu erklären, die über dieses Nötige hinausgehen. Der Anteil des Arbeiters am gesellschaftli- chen Reichtum wird nicht an diesem gemessen und schon gleich gar nicht an den Bedürfnissen, die sich mit dem jeweils erreichten Niveau der Produktion als notwendige Ansprüche einstellen; viel- mehr erscheint dem interessierten Vergleichsstandpunkt bereits die bloße Reproduktion der Arbeiterschaft als "Wohlstand" und da- mit als Anlaß für ein heißes Lob des Kapitalismus. Wo diese Be- trachtungsweise vom Arbeitsmann höchstpersönlich als Urteil über seine Lage aufgefahren wird - "Mir könnte es schlechter gehen", "Mir geht's (relativ) gut" -, wird sie auch nicht zum objektiven Urteil, sondern bedient sich gewöhnlich eines ziemlich "naheliegenden" Maßstabs als Vergleichspunkt: der schlechter ver- dienende Kollege, der ungelernte Mann an der schlechten Maschine etc. führen da zum positiven Resultat, das nichtsdestoweniger als Ausdruck seiner Unzufriedenheit kenntlich ist; wie anders käme er darauf, s e i n e n B e d a r f a m M a n g e l a n d e r e r z u r e l a t i v i e r e n? Und gerade in den lichten Momenten proletarischer Intelligenz, in denen sich deut- sche Arbeiter so sehr mit ihren Staatsmännern einig wissen, daß sie demonstrierenden Studenten die Versorgung mit Arbeit empfeh- len, um von ihrer Kritiksucht geheilt zu werden, sprechen sie aus, daß ihnen ihr Beruf als Z w a n g vertraut ist, den sie anderen durchaus gönnen - vorausgesetzt, sie benehmen sich nicht wie anständige Studierte und gehen "in die Politik"! Im übrigen zeigt das Vorhandensein auch von Paupers, die sich zum Vergleich heranziehen lassen, wie wenig es im Sinne des Erfinders der Lohn- arbeit lag, den Leuten auch nur ein A u s k o m m e n mit ihrem Einkommen zu bescheren: daß in Gesellschaften wie der Bundesrepu- blik Arbeiter von ihrem Lohn l e b e n können, heißt eben noch nicht einmal, daß die S i c h e r u n g d e r E x i s t e n z im Zweck kapitalistischen Wirtschaftens unbedingt eingeschlossen wäre. Diese Produktionsweise stellt der allgemeinen Form der mo- dernen Armut, vom Arbeitslohn leben zu können, durchaus andere Formen zur Seite - und der S o z i a l s t a a t mit all seinen Regelungen für den Fall, daß einer mit Arbeit nichts verdienen kann, ist das Eingeständnis der "Überflußgesellschaft", daß auch das existierende Elend kein Zufall, sondern eine einberechnete und deswegen organisierte Notwendigkeit ist. Wer angesichts der Tatsache, daß in der Bundesrepublik ein paar Millionen Menschen von ihrer Arbeit mehr schlecht als recht l e b e n, in ein lautes Lob des Fortschritts unserer "Industriegesellschaft" ausbricht, der will auch von der L e i s t u n g nichts wissen, die für diese großzügige Gewäh- rung der schieren Existenz tagtäglich gebracht werden muß. Er kann getrost über die Kleinigkeit hinwegsehen, daß in unserem Land außer Fernsehstudios mit schlauen Moderatoren drin und Warenhäusern mit den Insignien der "Konsumgesellschaft" auch noch F a b r i k e n herumstehen, in die jeden Morgen Tausende ein- marschieren. Das Desinteresse daran, was i n diesen Fabriken täglich vor sich geht, führt übrigens zur Anwendung jenes beque- men Maßstabs des Geldbeutels, die es bisweilen bis zu einer mora- lischen Verdammung gewisser "Extreme" bringt. Bequem ist dieser Maßstab darin, daß er sich der Einkommensunterschiede in unserer Gesellschaft annimmt und sich das ganz und gar fiktive Problem der V e r t e i l u n g zurechtlegt, für das sich dann weit und breit keine Lösung finden läßt - dazu müßte ja eine Instanz her, die einen nirgends vorhandenen Einkommensfonds gerecht unter die Leute bringt; seine moralische Qualität liegt in der Heuchelei, man sorge sich um die Gerechtigkeit der Einkommensverteilung, wisse aber nicht, wie dergleichen angesichts wirtschaftlicher "Sachzwänge" zu erreichen sei - was gar nicht verwundert, weil die "Sachzwänge" eben für die Verteilung der Einkommen sorgen. Die konservative Kritik an solchem sozialen Engagement nimmt da- gegen gleich offensiv für die "Sachzwänge" und für die "wirtschaftliche Vernunft" Partei. Sooft reformerisch gesinnte Kräfte einen Gesetzesentwurf unter der Flagge der "Verteilungsgerechtigkeit" verkaufen, wird der ungebührlichen "Gleichmacherei" entgegengetreten mit der Behauptung, die betref- fende Maßnahme wirke sich verheerend auf die Leistungsbereit- schaft der Menschheit aus. Obgleich so ein Christdemokrat mit Vorliebe in diesem Zusammenhang auch noch von Initiative, Risiko und Fleiß des Geschäftsmannes zu faseln pflegt, weil er meint, das alles gehöre b e l o h n t, trifft er die Wahrheit bzw. Un- glaubwürdigkeit seiner sozialdemokratischen Kollegen sehr genau. Mit seiner Deutung von Einkommensunterschieden als Motor energi- schen Schaffens verrät er sogar eine gewisse Ahnung davon, daß der Maßstab des Geldbeutels keinen Stoff für politische Moralpre- digten abzugeben hat und auch als Anlaß zum Neid, dem offiziel- lerweise geduldeten Schein von Materialismus, nur Ansporn zur L e i s t u n g, nicht aber zu K r i t i k sein darf. Ein Kon- servativer verläßt sich auf die Wirkung, welche seiner Doktrin zufolge von den Einkommens u n t e r s c h i e d e n ausgeht und die es ihm angetan hat - und darin ist er ideologisch. Denn die Ursache dafür, daß viel geleistet in Deutschlands Fabriken, sind nicht die Einkommensunterschiede, sondern ganz andere und ziem- lich bekannte Umstände. Soviel weiß nämlich ein jeder, daß die Arbeiter nicht zum Spaß in die Fabrik gehen und auch nicht deswegen, weil ihnen die enormen Vermögen ihrer "Arbeitgeber" in die Augen stechen, so daß sie sich zum Zwecke der Nivellierung der Einkommen an den Maschinen abrackern. Sie brauchen ihren L o h n zum Leben, weil sie außer ihrer A r b e i t keine Einkommensquelle haben. Die Diskussion, die sie über die Höhe i h r e s Einkommens zu führen haben, er- schöpft sich in einem überaus kurzen Gespräch mit einem Menschen von der Personalabteilung, von dem sie erfahren, wieviel der Be- trieb aufgrund der Lage am Arbeitsmarkt für ihren regelmäßigen Einsatz zu zahlen bereit ist, so daß sie in zweierlei Hinsicht über ihre Verdienstmöglichkeiten aufgeklärt werden: erstens kön- nen sie sich e i n b i l d e n, zwischen verschieden gut be- zahlten Arbeitsplätzen zu wählen (wobei die Unterschiede schon in ihrer Größe einiges sagen über die Summen, die bei ihnen ins Ge- wicht fallen), können dabei aber auch f e s t s t e l l e n, daß s i e verglichen werden in bezug auf ihre Brauchbarkeit; zweitens erfahren sie, daß es nach Abschluß des Arbeitsvertrags sehr auf ihre Leistung ankommt, wenn sie ihren Lohn um ein paar Pfennige zu ihren Gunsten korrigieren wollen. Schon um den ver- einbarten Preis zu erzielen, müssen sie aufs Diskutieren verzich- ten und an den modernen Maschinen einiges tun. Und da der "Arbeitsmarkt" die Höhe ihres Entgelts ziemlich niedrig ausfallen läßt, wiederholen sie ihren Dienst in der schönsten Regelmäßig- keit ein Leben lang, Woche für Woche. Weil ihr Einkommen so k n a p p bemessen ist, daß sie ständig mehr davon gebrauchen können, sind sie auch bereit, die Angebote ihrer "Arbeitgeber" zur Zahlung von mehr Geld gegen mehr Leistung anzunehmen, die ih- nen in Form von Ü b e r s t u n d e n und S o n d e r- s c h i c h t e n unterbreitet werden - wobei ihnen auffällt, daß es in ihrer Macht nicht steht, zu entscheiden, wann sie ihr Einkommen aufbessern wollen. Das "Angebot" wird v e r- o r d n e t, also vom Betrieb nach seinen Kriterien beschlossen, was "Notwendigkeit" heißt und für den Arbeiter P f l i c h t ist. Jeder Zeitlöhner ist darin in der Lage, die Gleichung "mehr Leistung - mehr Lohn" am eigenen Leib zu erfahren: damit e r m e h r v o m L e b e n h a t, b l e i b t e r l ä n g e r i n d e r F a b r i k; und wenn betriebliche Notwendigkeiten es erfordern, wird K u r z a r b e i t eingeführt, so daß er mit weniger Einkommen mehr vom Leben hat, weil er früher daheim ist. Doch auch im betrieblichen Alltag wird ihm besagte Gleichung aufgemacht und bedeutet, daß in seinem Fall jeder Vorteil seinen Preis hat, daß er also weder in Sachen Lohn noch in bezug auf seine Leistung umstandslos in den Genuß einer Annehmlichkeit gelangt, ohne mit handfesten Unannehmlichkeiten dafür zu bezahlen. Auch hier, in der Abteilung, wird er vom ersten Tag seiner Tätigkeit an mit seinen Kollegen v e r g l i c h e n; die Einordnung in bestimmte Lohngruppen setzt jeden an eine Stelle in der Hierarchie der Arbeitsplätze, mit der die Ideologie vom L e i s t u n g s l o h n auch für den gesündesten Men- schenverstand erledigt sein müßte. Denn mit den schlechter be- zahlten Tätigkeiten ist keineswegs ein Weniger an Verausgabung verbunden, wie überhaupt in der gesamten Gesellschaft die Hierar- chie der Berufe ein seltsames Zusammentreffen der Kriterien A n s t r e n g u n g u n d V e r d i e n s t aufweist. Aber die Ideologie lebt eben nicht - wie der Name schon sagt - von Tatsachen, sondern vom Z w a n g zur Leistung, dem jedermann ausgesetzt ist, der von Lohnarbeit lebt und ein paar Pfennige mehr ergattern will. Wenn sie im Zusammenhang mit versauten Spie- len im Profi-Fußball Anwendung findet ("für das viele Geld könn- ten sie besser spielen!") und dennoch in der Fabrik so gar nicht zur Begründung von Ansprüchen taugt ("für diese Anstrengung müs- sen wir aber genau das Doppelte kriegen!"), so liegt das daran, daß in der Fabrik die Wahrheit zum Zuge kommt; und die besteht darin, daß den Proleten d i e K o n k u r r e n z v e r o r d n e t wird, sie also mit dem Vergleich ihrer Lei- stungen untereinander beglückt werden. Die E r p r e s s u n g z u r L e i s t u n g beruht auf der Beurteilung des einzelnen im Verhältnis zum anderen, also in einer äußerst zweckmäßigen An- wendung jenes "Maßstabs des Geldbeutels" auf die, die allen Grund haben, auf eine Aufbesserung ihrer Kasse zu sinnen. Ein Fachar- beiter mag noch so viel Stolz auf seine "Qualifikation" entwic- keln - um in eine höhere Lohngruppe bzw. an einen "besseren Ar- beitsplatz" zu gelangen, muß er auch als Zeitlöhner seinem Mei- ster oder Gruppenführer durch L e i s t u n g imponieren. Denn der vollzieht an ihm seine Beurteilung, für die ganze Punktesy- steme erfunden worden sind, um den Vergleich der einzelnen Arbei- ter möglichst genau und wirksam durchzuführen. Und um hier er- folgreich zu sein, hat es mit der bloßen "Demonstration" und dem guten Einvernehmen mit dem Vorgesetzten keineswegs sein Bewenden, wenngleich die bewußte Absetzung vom Konkurrenten, dem Kollegen, auf diesem Felde in deutschen Fabriken zu schönen Techniken der Schleimerei ausgereift ist. Auch wenn die zusätzlichen Pfennige zunächst nur im Kopf des Proleten existieren und die vorteilhafte Neueinstufung erst als vages Versprechen des Meisters winkt, ist die zusätzliche Leistung des Arbeiters schon eine ziemlich reale Gewinnquelle für die Firma. Dabei darf ein Zeitlöhner noch nicht einmal den ideologischen Eh- rentitel eines Leistungslohns für seine Arbeit reklamieren. Die- ser bleibt denen vorbehalten, die A k k o r d machen und dem schönen Spruch "Akkord ist Mord!" ihre Zustimmung nicht versagen, deswegen aber noch lange keine Kommunisten sind. Denn obgleich Tarifverträge, den Akkordlohn betreffend, die Normalleistung als eine definieren, die ohne Schaden für die Gesundheit dauerhaft erbracht werden kann, mag sich aus gutem Grund kein Akkordlöhner mit 100% zufriedengeben. Auch hier wirft sich das Kapital in die Pose einer Instanz, die ein Angebot überreicht - und der Geldman- gel der "Wohlstandsproleten" führt mit tödlicher Sicherheit dazu, daß sie sich unter Ausnützung der "Möglichkeit", die n ö t i g e n 100 Mark mehr im Monat zu verdienen, ruinieren. Diejenigen, die den Akkord als i h r Mittel eines besseren Ver- dienstes einsetzen, die Jüngeren, können an der Physis ihrer äl- teren Kollegen studieren, wie sie in ein paar Jährchen aussehen - und sich sagen lassen, daß sie die Hetze auch nicht ewig aushal- ten. "Dequalifizierung" gehört eben zum Akkord, von der Seite der Arbeiterklasse her gesehen als zunehmend sichtbare Unfähigkeit, dieser "Verdienstmöglichkeit" gerecht zu werden, und aus der Sicht des Betriebs heraus als objektive Notwendigkeit der Kalku- lation. An den Grenzen der Leistungssteigerung, deren das Ar- beitsvolk fähig ist, erfährt das Management sämtlicher Ebenen, wann sich die Einführung neuer Maschinerie lohnt, die mit der V e r e i n f a c h u n g der Arbeit die Strapazierfähigkeit, den V e r s c h l e i ß des Arbeiters zur einzig gefragten Qua- lifikation werden läßt. Wenn sich in den Fabriken der BRD diesel- ben und noch bessere Produkte als früher heute durch Angehörige unterer Lohngruppen an wunderbaren Bändern herstellen lassen, so zeigt das eben den Witz am "Leistungslohn", der viel Lohnkosten, weil Facharbeiterlöhne, wie Arbeitsplätze erspart; ganz nebenbei belebt diese Lohnform die Konkurrenz um die "angenehmeren" Ar- beitsplätze, die immer rarer werden und gewöhnlich mit "Verantwortung" verbunden sind, also Aufsicht und Beurteilung der Leistung anderer einschließen. Und dennoch finden sich Millionen, die die Ideologie des Leistungslohns an sich selber ausprobieren, weil ihnen eben nichts anderes übrigbleibt. Das alles gilt einer- seits als ganz normal, so daß in illustrierten zur Demonstration von Schwerstarbeit kein Montageband von VW zum Material einer Re- portage gewählt wird, sondern die Conti-Schichtler einer national ganz wichtigen Branche. Die ganz besonderen Arbeitsplätze gibt es nämlich auch noch, die, an denen man sich mit viel Dreck, Hitze, Lärm und anderem, mit ausgemachten Gefahren für Leib und Leben fertigmachen kann - für eine P r ä m i e. Hier ist es überhaupt kein Geheimnis, worauf der Verdienst der Proleten gründet, und dennoch hört man statt Kritik an diesen Formen der Menschenschin- derei nur den gewerkschaftlich vorgetragenen Wunsch nach einer "Humanisierung der Arbeitswelt", so daß die Proleten wohl noch eine Zeitlang über die ausgezeichneten Verdienstquellen bis hin zur S c h i c h t a r b e i t verfügen werden und das Kapital die funktionale Verwandlung der Lebenszeit eines Arbeiters in Ar- beitszeit, die sachzwanggemäße Ausnutzung des 8-Stunden-Tags und der 5-Tage-Woche mit ihren kleinen Extras - als da sind überstun- den, Kurzarbeit, unbezahlter Urlaub und Entlassungen - prakti- ziert. In diesen Fragen hat das Kapital durchaus den Nutzen des Sozial- staats f ü r s i c h entdeckt und beruft sich praktisch auf die schönen Techniken, in denen bei uns Armut verwaltet und orga- nisiert wird. Es entläßt umstandslos jede Menge Leute, verab- schiedet mit einem Lächeln seiner Manager einen Sozialplan, ver- weist gemeinsam mit den zuständigen Politikern auf die Auffang- qualität des s o z i a l e n N e t z e s, dessen Zumutungen die momentan oder überhaupt Unbrauchbaren dann ausgeliefert sind. Der Staat seinerseits nimmt sich der Opfer in der Weise an, daß er ihnen erst einmal das Recht bestreitet, ohne Dienst am Kapital Geld zum Leben zu kriegen, und dringt darauf, daß sich die Be- troffenen willig und billig zur Verfügung halten - was ihm mit Hilfe des handfesten Drucks mit dem Einkommen, also aufgrund der von ihm fortgesetzten ökonomischen Erpressung nicht schwer fällt. All diese Phänomene der "Wohlstandsgesellschaft" haben die Eigen- tümlichkeit, tatsächlich "Überfluß" hervorzubringen und doch nur eines zu bezeugen: daß hier der M a n g e l derer, die sich mit Arbeit durchs Leben schlagen, die bleibende Grundlage für ihre Leistung - und nicht ihre Leistung Mittel für die Beseitigung der Armut - ist. Am Reichtum der Republik bzw. ihrer besitzenden Bür- ger läßt sich nur in einer Hinsicht das ablesen, was Wissen- schaftler ihrem staatstreuen Denken gemäß immerzu behaupten: daß Marx überholt sei! Veraltet sind einzig seine Zahlenbeispiele für die Mehrwertrate, d a s Maß der Ausbeutung im Kapitalismus. Denn daß sich notwendige Arbeit und Mehrarbeit auch nur ungefähr wie 1:1 oder 1:2 verhalten, ist wirklich eine ins vergangene Jahrhundert gehörige Sage. Sowenig nämlich die modernen Produktionsmittel die industrielle Arbeit erleichtert haben, so konsequent haben sie ihren Zweck er- füllt: sie sorgen dafür, daß sich die Anspannung der Kräfte, über die ein Arbeiter verfügt, auch tatsächlich lohnt - wenngleich nicht für ihn. Kapitalisten und ihre fachkundigen Helfer vom Refa-Verein wissen nicht nur, daß die I n t e n s i v i e- r u n g der Arbeit dieselbe vorteilhafte Wirkung aufs Geschäft hat wie die kostspieligen Anlagen, die die P r o d u k- t i v i t ä t der Arbeit steigern; sie lassen sich auf R a t i o n a l i s i e r u n g e n ein, wenn sich mit den alten Anlagen nichts mehr steigern läßt, also mit dem erklärten Zweck, kostengünstiger zu produzieren, wobei die Vereinfachung der Arbeit stets die ausgiebigere Benützung des menschlichen "Materials" einschließt. Die Industriellen Westdeutschlands haben in den vergangenen Rationalisierungswellen das Werk des "Wirtschaftswunders" gekonnt fortgesetzt, indem sie die zur Ver- fügung stehenden Produktionsmittel stets durch die Intensivierung der Arbeit bis an die physischen Schranken der Proleten und über sie hinaus ausgenützt haben, um dann mit der Erneuerung ihrer Ma- schinerie die erforderliche Q u a l i f i k a t i o n ihrer "Mitarbeiter" immer mehr auf die pure Bereitschaft zu reduzieren, den Körper zu strapazieren. So ist es ihnen gelungen, die barba- rischen Produktionsmethoden insbesondere das Fließband, zu einem Einsatzfeld für die Reservearmeen ungelernter Arbeiter auch ande- rer Nationen zu entwickeln, in denen das Kapital keine Verwendung für das Arbeitsvieh hat. An den Gastarbeitern läßt sich sehen, wie das deutsche Kapital Maßstäbe setzt: es macht aus den Paupers anderer Länder seine Lohnarbeiter, und deren Benutzung sichert ihm die Überlegenheit im internationalen Konkurrenzkampf. Daß ein deutscher Arbeiter ebenso von den Techniken der Ausbeutung ge- schafft wird, weiß zwar ein jeder; immerhin liefert ihm der Blick auf die mit noch größerem Dreck beschäftigten und noch schlechter bezahlten Ausländer den Trost, nicht zu den Ärmsten zu gehören. Doch mehr als dieser Trost springt nicht heraus aus der besseren Stellung in der Hierarchie der Lohnarbeit, einer Stellung, die durch Leistung Tag für Tag gerechtfertigt sein will. Keiner von diesem modernen Menschenschlag kann es sich leisten, nach ein paar Jährchen Arbeit in den Ruhestand zu treten und von den Früchten seines Schaffens zu leben - die treten ihm als "Arbeitsplatz" gegenüber, an dem er, mit den Jahren zusehends seiner Lebenskräfte beraubt, für seinen Anteil am gesellschaftli- chen Reichtum geradezustehen hat. Auch die zeitweise oder dauer- hafte Aufstockung des Verdienstes, von dem er die Seinen durch- bringen muß, durch die Berufstätigkeit seiner Frau schafft da keine Abhilfe, dafür aber eine historisch neue Form des Familien- lebens. Die Teilnahme der Frau am produktiven Leben des Kapitals verschafft ihr die Gelegenheit, sich doppelt nützlich zu machen, was sich in ihrer Physis ebenso niederschlägt wie in der Zerstö- rung häuslicher Reproduktion. Dies als "Emanzipation" zu feiern, bleibt das Privileg derer, deren Berufstätigkeit nicht durch die Notwendigkeiten proletarischer Reproduktion erzwungen ist. Ein Ende hat die Ausbeutung erst dann, wenn der Lohnarbeiter un- brauchbar ist, und darüber befinden die, die ihn anwenden, nach ihren Kriterien. Entsprechend den Konjunkturen des Geschäfts mag es ihm da durchaus verwehrt sein, solange zu arbeiten, daß der nach dem Preis der Arbeit errechnete Lohn seinen Unterhalt si- chert. Wenn K u r z a r b e i t fällig ist, kann er den Schaden mit einem Taschenrechner von Hertie ausrechnen - soviel Wohlstand steht ihm zu - und mit dem seiner ganz arbeitslosen Kollegen ver- gleichen. Wenn ihn das Lebensrisiko, das Schöne an der freien Marktwirtschaft, in Form von Krankheit, Unfall oder Invalidität ereilt, so mag er sich einbilden, das Opfer einer unglücklichen Laune der Natur zu sein - die Versicherung, die er während seines Arbeitslebens mit Beiträgen für den Ernstfall bezahlen mußte, be- lehrt ihn eines Besseren. Sie rechnet mit den individuellen "Schicksalsschlägen" als allgemeinen Notwendigkeiten, für die vorgesorgt sein will. So oder so erfahren sie es alle, daß es A u s b e u t u n g nach wie vor gibt, und heute in der bestorganisierten Weise. Nicht einmal das ist wahr an den Geschichten vom kleinen Mann, daß er am Wohlstand zumindest insofern beteiligt wäre, als er v o n seiner Arbeit l e b e n kann - e r l e b t f ü r s i e. Schon die Abzüge auf seinem Lohnstreifen, die er in Ge- stalt von milliardenschweren Rüstungsprogrammen, wohlgekleideten Politikern, gewaltigen Versicherungsgebäuden und der dazugehöri- gen Werbung und erst dann vielleicht als Rente genießen kann, hindern ihn daran, "über seine Verhältnisse" zu leben. Und soweit es dem Arbeitsmann ernst damit ist, im Berufsleben "etwas zu bringen", damit er genügend Lohn heimbringt, wird er sich auch seinen Verhältnissen entsprechend einzurichten haben: "exzessive Genüsse", oder einfacher: eine "ungesunde Lebensweise" ist da schnell ein Hindernis für die Tauglichkeit am Arbeitsplatz, denn je mehr die Arbeit seine Gesundheit angreift, desto gewissenhaf- ter muß er im Bereich seiner freien Entscheidung auf ihre "Erhaltung" achten. Und wenn er dabei oder gleich am Arbeitsplatz "Fehler" macht, steht der Einsicht eigentlich nichts mehr im Wege, daß einem u n b r a u c h b a r e n Arbeitsmann die "gewöhnliche" Armut, in der er sich nur e i n z u t e i l e n braucht, nicht zusteht. Die Umkehrung der kapitalistischen Ideo- logie, daß man in der bürgerlichen Welt "immerhin" von seiner Hände Arbeit leben könne, wird für den Lohnarbeiter fast eine Wahrheit: ohne Arbeit ist e r auf jeden Fall aufgeschmissen; und weil das gerecht ist, fallen auch die Gründe, die an ihm das Urteil der Brauchbarkeit zu vollstrecken gebieten, nicht sonder- lich ins Gewicht. Die einen werden durch ihren Verschleiß, also durch die Arbeit selbst unbrauchbar; die zweiten, weil sie den Verschleiß nicht ordentlich organisieren, also "über ihre Ver- hältnisse l e b e n"; die dritten werden einfach Opfer der Kal- kulation mit den Lohnkosten und arbeitslos. Deshalb besteht eben in der modernen Bundesrepublik kein Mangel an Elend - es ist auch in den Formen üblich, wie es sich die Widerleger der Marxschen "Verelendungstheorie" vorstellen, wenn sie das Modell Deutschland gegen den "Manchester-Kapitalismus" hochhalten! Wo die Fähigkeit und Bereitschaft einer Klasse, durch ihre Arbeit fremdes Eigentum zu vermehren, zur B e d i n g u n g ihres Lebensunterhalts wird, da ist die Verelendung von unbrauchbaren und unbrauchbar gemachten Leuten keineswegs "systemwidrig", sondern die Regel. Als Folge vollzogener Ausbeutung und als ständige Begleiterschei- nung des Arbeitsmarktes gehört ein stattliches Lumpenproletariat genauso zur "Wohlstandsgesellschaft" wie die staatlich lizenzier- ten Bordelle zur Familie. Da inzwischen auch Linke dahingehend übereingekommen sind, daß eine Kritik der A u s b e u t u n g für das moderne Proletariat nichts mehr sei, und dem Sozialismus wie der Arbeiterklasse mit einer zutiefst humanistisch gedeuteten "Theorie der Entfremdung" viel besser gedient wäre, soll einer Wiederholung dessen, worin Ausbeutung unserer und Marx' unmaßgeblicher Meinung nach besteht, nicht aus dem Wege gegangen werden: es gibt eine Klasse, die - w e i l s i e k e i n e M i t t e l h a t - ihr Leben lang nichts anderes treibt als M i t t e l z u s e i n für die Hervorbringung von Reichtum in der Form von Kapital, dem sie sich entschieden zur Verfügung stellen kann, allerdings mit 100%iger Garantie auf keinen Erfolg für sich. Die bürgerlichen Apologeten sind - im Unterschied zu denen, die den Materialismus zugunsten von so Idiotien wie "Selbstbestimmung", "Selbstverwirklichung" etc. ad acta legen - insofern ehrlicher, als sie die kapitalisti- sche Realität der Ausbeutung zumindest in ihren Wirkungen nicht leugnen, sondern ganz offen als "Preis des Fortschritts" ausgeben und damit alles über den Fortschritt sagen, den das Kapital mit- samt seiner demokratischen Volkssouveränität hervorbringt. Sie sind eben f ü r diesen Fortschritt und seine Opfer, weswegen ihnen auch die Einwände der traditionellen, aber nicht minder falschen Kritik an der Ausbeutung äußerst gelegen kommen, um ein Gedankenexperiment anzustellen. Die falsche Kritik ist die der "ungerechten Verteilung" des Reichtums, und sie wird gekontert mit der Rechnung von den 8.50 DM, die jeder "Arbeitnehmer" im Jahr erhalten würde wenn die Millionäre ihren Besitz gleichmäßig unters Volk streuten. So unbestreitbar diese Tatsache im Irrealis ist, so schön zeigt sie auch, daß der Anspruch auf "gerechte Ver- teilung" des Reichtums den Witz an der Ausbeutung glatt übergeht: Im Kapitalismus ist das "Problem" der Verteilung gelöst, noch ehe es etwas zum Verteilen gibt. In den Fabriken wird in der F o r m der Arbeit selbst, unter Ausnützung des Bemühens der Arbeiter über den Anteil der Klassen am Reichtum e n t s c h i e d e n. Dabei mit einiger Empörung festzustellen, daß der Anteil der ar- beitenden Klasse einigermaßen knapp bemessen ist, aber nicht zu bemerken, daß dies kein Ungeschick irgendeiner verteilenden In- stanz ist (interessanterweise denken hier alle an ein und das- selbe: den Klassenstaat!), sondern einzig die Wirkung der Ver- hältnisse, in denen das gute Volk nur dazu da ist, R e i c h t u m g e t r e n n t v o n s i c h, a l s f r e m d e s E i g e n t u m z u p r o d u z i e r e n, muß schon als ein intellektuelles Kunststück angesehen werden. Zumal seit über hundert Jahren ein gar nicht widerlegtes Buch auf dem Markt ist, in dem der Satz steht: "Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrach- tet, oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Ka- pitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen den Lohnarbeiter." Für diesen Autor war es keine Frage, daß es kein Glück, sondern ein Pech ist, produktiver Lohnarbeiter des Kapitals zu sein. Er würde auch in den Fabriken und Kaufhäusern der Bundesrepublik keinen Grund finden, seine Auffassung zu revidieren - müßte sich aber von jedem dahergelaufenen Soziologen fragen lassen, ob es denn den Lohnarbeitern von heute "wirklich" so schlecht ginge. Stellvertretend für ihn soll in aller Kürze dargelegt werden, weshalb aus A r m u t k e i n R e i c h t u m wird - auch wenn sie in Gestalt eines VW-Golf, eines 14-tägigen Urlaubs im Lande der Zitronen und eines farbigen Fernsehers auftritt. Es geht also schon wieder um die leidige Frage, wie schlecht es den "sozial Schwachen" denn nun wirklich geht - oder, um es bundesre- publikanisch auszudrücken, womit wir wieder bei gewissen Beson- derheiten der hiesigen Szene angelangt wären - um die 2. "Lebensqualität" '80 ----------------------- Die Leugnung der Armut steht in der Bundesrepublik immer auf der Tagesordnung. Dem Urteil, daß mit der Höhe des Lohnes und der Ar- beit, mit der er verdient sein muß, alles über die großartigen Genüsse entschieden ist, die sich ein Arbeitsmann antut, will sich so einfach keiner anbequemen. Gegen die offenkundige Tatsa- che, daß Notwendigkeiten den Lohn auffressen, kaum daß er ver- dient ist, gibt es nicht nur den volkswirtschaftlichen Einwand, daß diese Notwendigkeiten viel zu umfangreich für den Faktor "Lohnkosten" ausfallen, zumal diese Ideologie der Armut nur das Wort redet, sie aber nicht bestreitet. Im Gerede von der "Lebensqualität" hat die bundesdeutsche Öffentlichkeit sich unter Anleitung der SPD dazu entschlossen, einerseits die berühmten "Reformen, die nichts kosten" - viel Nachbarschaft, Kommunika- tion, ein neues Namensrecht für Verheiratete -, andererseits die durch die Fortschritte des Kapitalismus auch noch bestrittenen elementaren Lebensbedingungen - sauerstoffhaltige Luft, trinkba- res Wasser - zu den wichtigsten Bedürfnissen des modernen Men- schen zu erklären. Der entsprechende Christen-Slogan vom "sozialen Wohlbefinden" hält daran den Hauptwitz fest, daß diese höchsten Güter auf keinen Fall mit materiellem Wohlstand zu ver- wechseln sind. Unterstellt ist dabei allemal, daß der "Lebensstandard" kein Problem mehr darstellt. Eine Ansicht, die sich nach wie vor am liebsten im Bild des "Freßkorbs" (des Durch- schnittsdeutschen) anschaulich macht, der durch die sinnig ge- wählte Größe des Behältnisses ganz von selbst überquillt. Immer fällt der kleine VW oder die Salami fast über den Rand. Es gibt also das dauerhafte Bestreben, darauf hinzuweisen, was sich ein Deutscher heute l e i s t e n k a n n - und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob ein Politiker sich damit brü- stet, was er den Leuten alles beschert hat, ob ein Gewerkschafter die Daseinsberechtigung seines Vereins unterstreichen will, oder ob ein deutscher Arbeiter höchstpersönlich damit angibt, welch prächtiges Leben er, natürlich aufgrund seines "Verdienstes", führt. Die Lüge bleibt immer dieselbe, so verschiedene Absichten mit ihr verfolgt werden: die R e p r o d u k t i o n s n o t- w e n d i g k e i t e n gelangen als G e n ü s s e zur Dar- stellung. Die Unverschämtheit des Gedankens ist ebenfalls nicht zu übersehen: das alles kann sich einer zu Gemüte führen, der und "obwohl" er A r b e i t e r ist, von dem man doch meinen sollte, es ginge ihm schlecht... Dabei spielt die Realität eines Arbeiterbudgets und seiner Hand- habung, wie es sich für eine reaktionäre Ideologie gehört, keine allzugroße Rolle. Die Aufzählung der Gegenstände, die heutzutage in den Konsum eines gewöhnlichen Arbeiters eingehen, reicht völ- lig aus, um sich und anderen einzureden, daß es mit der Beschrän- kung der proletarischen Existenz gar nichts mehr auf sich habe. Nicht einmal der sattsam bekannte Sachverhalt, daß das Geld, mit dem man sich alles kaufen kann, eingeteilt sein will, was von der M e n g e herkommt, die man hat, macht sich da störend bemerk- bar. Jede Lebensnotwendigkeit eines Menschen von heute stellt sich als Beleg für die F r e i h e i t d e r E n t s c h e i d u n g, des ungezwungenen Zugangs zu allen Ge- genständen des Bedürfnisses dar, die wirklichen Reichtum aus- macht. Das Auto eines Lohnarbeiters ist aber noch lange kein Zei- chen des Überflusses, weil er es b r a u c h t, wenn sein Ar- beitsplatz nicht im Parterre des Nachbarhauses liegt. Wenn er darauf "verzichtet", so geht ein Teil seines ersparten Geldes für die preiswerten öffentlichen Verkehrsmittel dahin, und den Rest kann er in den Stunden genießen, die er zusätzlich zum mindestens 8-stündigen Arbeitstag unterwegs ist. Eine E n t s c h e i d u n g hat er mit der Anschaffung des Gefährts schon getroffen, aber eine für das kleinere Ü b e l. Dasselbe gilt für seine Wohnung und was er in sie hineinstellt: der Ent- schluß zu der einen Bequemlichkeit ist der zum Verzicht auf eine andere - weswegen Arbeiter auch s p a r e n und S c h u l d e n m a c h e n, was sie zu den Adressaten der Wer- bung werden läßt, mit der sich die Geschäftswelt nicht um die Seele, sondern um die beschränkte Zahlungsfähigkeit des Volkes streitet. Die Fachleute dieses humorvollen Gewerbes wissen Be- scheid über den mäßigen Grad der "Kaufkraft", die aus den gewöhn- lichen Vergnügungen einen "Luxus" macht: diese Vokabel bezeichnet nämlich sehr exakt die Genüsse, die sich einer nur leisten kann, wenn er an einer anderen Stelle Abstriche macht; in dieser Ver- wendung ist sie so populär geworden, daß es sogar die Redensart vom "unnötigen Luxus" gibt, wenn einer einmal wirklich einen Fall von Reichtum entdeckt. Daß letzterer mit N o t w e n d i g k e i t nicht zusammengeht, ist also durchaus bekannt - weswegen ein Arbeiter außer über eine Lohntüte auch noch über die F r e i h e i t verfügt; der demokratische Staat schenkt sie ihm als einen Kanon von Regeln, das Eigentum betref- fend, den Reichtum also, von dem man ausgeschlossen ist. Ver- ständlich, daß Millionen von Ladendiebstählen heutzutage lieber zum Beweis psychologischer Theorien hergenommen werden als für einen Schluß auf die Armut der Massen, und die Annahmestellen der staatlichen Lotterie beweisen eindeutig, daß die Leute gar keinen Gehirn brauchen: sie leben ja auch ohne einen Sechser! Die Logik, mit der die "Lebensqualität" d e r Deutschen be- schworen wird, ist durch die Praktiken, die sich ein Arbeiter zu- legt, wenn er mit 1500,- DM Einkommen seine Familie über Wasser hält, kaum zu erschüttern. Wer sich des Themas annimmt, tut dies ja wie gesagt nicht aus Unkenntnis der Reproduktionsgewohnheiten. Er betrachtet den Anorak der Kinder, die Handtasche der Frau und die Waschmaschine als I n s i g n i e n d e s g u t e n L e b e n s, die man sich getrost auch von der proletarischen Existenz wegdenken kann, wie das 19. Jahrhundert beweist. Wer sich zum Richter darüber aufwirft, was alles "überflüssig" ist für die "Existenzerhaltung", wer bei "Armut" sogleich an "Not" denkt und völlig selbstverständlich den Anteil der lohnarbeiten- den Klasse am gesellschaftlichen Reichtum problematisiert, der verrät nur, wie gründlich er sich die kapitalistischen Verhält- nisse zu Herzen genommen hat. Daß die Produktion nicht die Kon- sumtion zum Zweck hat, sondern im Gegenteil auf ihrer Beschrän- kung beruht, ist ihm so geläufig, daß ihm die im Kapitalismus f u n k t i o n a l gemachte Konsumtion der Arbeiter a u f f ä l l t - und zwar als großartiges Zugeständnis an die Menschheit. Selbst noch dann, wenn Politiker in ihren Phrasen da- für zu sorgen versprechen, daß ihren schaffenden Bürgern ein "Lebensstandard" zuteil wird, geht aus der gönnerhaften Attitüde, die das B e d ü r f n i s des Volkes als "berechtigt" aner- kennt, die Frechheit hervor, die dann auch stets auf dem Fuße folgt. Einen P r e i s hat es schon, das gute Leben: Leistung muß sein, und bisweilen gilt es jetzt den Gürtel enger zu schnal- len, damit man ihn später wieder aufmachen kann, Diese Übertra- gung des S p a r e n s, des V e r z i c h t s, der dem Genuß dient (was schlechterdings nicht geht), auf den Lebensweg einer ganzen Klasse ist bei uns gute Politikersitte, und weil der Preis für jedes noch so banale Moment Bedürfnisbefriedigung tatsächlich nicht zu niedrig ist, haben findige Kritiker des Materialismus im Volke nicht nur eine K o n s u m g e s e l l s c h a f t er- späht. Es soll auch einen Konsum t e r r o r geben, der sich überall dort einstellt, wo einer charakteristischerweise ist hier immer nur ein Prolet gemeint den Reichtum, den es gibt, auch noch benützen will: dann hat e r nämlich ein "falsches Bedürfnis". Das Maß, in dem ein Lohnarbeiter an Gegenstände seines Bedürfnis- ses herankommt, ist sein Lohn. Daß dieser von Ideologen - auch innerhalb der Gewerkschaften und der Linken - als K a u f k r a f t gehandelt wird, ist ein Hohn. Die Funktionali- sierung es Arbeiterdaseins auch außerhalb der Fabrik für die Zwecke "der Wirtschaft" kann nämlich kürzer nicht ausgesprochen und für gut befunden werden. Daß die Konsumtion einer ganzen und recht zahlreichen gesellschaftlichen Klasse auch ideell von kei- nem Schwein am von ihr geschaffenen und ständig gewaltigeren Reichtum gemessen wird, garantiert, daß auch keiner die A r m u t entdeckt - es sei denn in Gestalt des Elends, das es als Konsequenz der Lohnarbeit "auch noch" gibt. Sooft dies ge- schieht, dient die Entdeckung jenem tristen Kontrastprogramm, das den Italienurlaub - von dem man inzwischen sogar schon herausbe- kommen hat, daß er nicht funktional, weil anstrengend ist - als Überwindung der Klassengesellschaft ausgibt. Der Arbeitsmann "kann sich etwas leisten", heißt die Parole - wer wollte da noch nach dem Preis oder gar nach der Qualität des "Wohlstands" fra- gen! Das heißt freilich nicht, daß die Qualität proletarischer Genüsse nicht bekannt wäre. Sie wird sogar in den beliebten Zusammenset- zungen mit dem Wort "Massen-" für ziemlich schlecht befunden. Der Massenkonsum, der Massentourismus und die Massenmedien, also die M a s s e n k u l t u r insgesamt ist primitiv - ein Urteil, das wir teilen, aber nicht deswegen, weil uns die Sphäre des elitären Blödsinns behagen würde. Im Ausschluß von den "höheren Berei- chen", wie sie Reiche und Intellektuelle in trauter Gemeinsamkeit pflegen, haben die Proleten wahrlich nichts verpaßt. Die Frei- zeitgestaltung der arbeitenden Klasse ist nicht nur in ihrem Aus- maß, sondern auch in ihrer Beschaffenheit I n d e x d e r A r m u t, zu der sie die Lohnarbeit herrichtet. Die Jahre in der Fabrik, die einer nach erfolgreichem Ausschluß aus den bür- gerlichen Bildungsinstituten verbracht hat, schlagen sich im Ver- stand des Proleten genauso nieder wie in seiner Physis. Die Ge- nußfähigkeit, die von einem funktionierenden Intellekt eben ab- hängt, ist erheblich beeinträchtigt bei Leuten, denen die Veraus- gabung von "Hirn, Muskel und Nerv" abverlangt wird in einer Weise, die außerhalb der Arbeit keine Betätigung mehr zuläßt, die Aufmerksamkeit, Konzentration und Intelligenz erfordert. Neben "vernünftigen" Proleten, die gesund leben, Trimm-dich betreiben, fernsehen und am Wochenende ins Grüne fahren, gibt es deswegen auch eine gewaltige Anzahl von Leuten, die es mit der K o m p e n s a t i o n als Freizeitauftrag nicht so ernst neh- men und die ihrem ruinierten und verrohten Gemüt entsprechenden Genüsse suchen. Der Alkohol hat in dem Übermaß, in dem ihn das deutsche Proletariat genießt, nicht nur die Wirkung, die Ausbeu- tung erträglich zu machen. Er beschleunigt den körperlichen und geistigen Ruin und vollendet das Werk des Kapitals am Arbeits- platz. Die Bundesliga hat in den Fans der Vereine ihre Geschäfts- grundlage, die unabhängig vom Vergnügen, das ihnen "ihre" Mann- schaft durch ihr Spiel bietet, zu ihr halten - was so aussieht, daß jedes Wochenende Tausende ihr Geld und ihre Zeit opfern, um am Samstag pünktlich und schon leicht betrunken an Ort und Stelle zu sein, so daß die Polizei insbesondere beim Zusammenstoß gegne- rischer Parteien einiges an Gewalttaten zu verfolgen hat; Fen- sterscheiben und dergleichen gehen ohnehin zu Bruch - und das al- les, weil so das Bedürfnis von Leuten aussieht, die - ganz zum Material der Ausbeutung erniedrigt - sich einmal g a n z f r e i einen Zweck setzen, dem sie sich bedingungslos ver- schreiben. Dito bei der Jugend, über deren Genußfähigkeit und Perspektive die Unterhaltungsbranche alles herausbekommen hat. Daß Hunderttausende ihr Bewußtsein (obwohl es ein falsches ist!) als störend empfinden und zu Drogen aller Art greifen, mag den Moralaposteln des 20. Jahrhunderts als Verfall des Anstands gel- ten. Doch merken sie auch, daß sie mit ihrem überreichlichen An- gebot an "Sinn" nur eine Minderheit zur Nachfrage überreden und auf die Kirchentage bringen. Durch ihre von heuchlerischer Sorge um die Jugend getragene Deutung der Realität wird aus dem kapita- listischen Zirkus auch keine Attraktion. Da entschließt sich man- cher Jugendlicher doch lieber dazu, mit den psychologischen Re- zepten des "Sich-Selbst-Änderns" in einer Weise Ernst zu machen, die ihm nicht seine Brauchbarkeit, sondern seinen Ruin sichert. An der Rolle, die Sex und Verbrechen in der Unterhaltung der ar- men Leute spielen, läßt sich ganz nebenbei ermessen, was im Ver- hältnis der Geschlechter los ist. Die häuslichen Verhältnisse, allesamt Fragen des streng marktwirtschaftlich ermittelten Ver- hältnisses von Leistung und Lohn, sind Quellen dauernder Strei- tigkeiten, die so manchen Arbeiter mehr belasten als ihm das Ar- beitsleben erträglich machen. Daß sich da der Wunsch breitmacht, die Kinder sollten es einmal besser haben, ist verständlich. Er geht bloß nicht in Erfüllung, ebensowenig wie der nach einem ge- ruhsamen Lebensabend, da die Mittel in jeder Hinsicht zu knapp sind - außer für den Staat, der sich zur Betreuung der störenden Formen des Elends Sozialarbeiter leistet. Der deutsche Normal- mensch allerdings betreut sich selber. Mit dem Handwerkszeug der bürgerlichen Moral beurteilt er sich und seine Stellung in der Welt. Dabei entwickelt er das in s e i n e n Zeitungen genüß- lich ausgebreitete Arsenal von Stellungnahmen zu dem, was mit ihm alles angestellt wird. Dem N e i d auf die extravaganten Genüsse der Reichen stellt er lässig den Stolz auf die eigene Rechtschaffenheit zur Seite; und die Klagen über die eigene Er- folglosigkeit ergänzt er ohne weiteres durch ein menschliches In- teresse an den Leiden der Großen dieser Welt. Wenn er sich den Maßstab seines Geldbeutels einfallen läßt, dann nicht, um Kommu- nist zu werden, sondern um kleinliche Gehässigkeiten gegen seinesgleichen anzuzetteln. Keiner gibt ehrliche Auskunft über seine Lohntüte. Und arm zu sein, will sich schon gleich niemand nachsagen lassen. 3. Die Rolle der schwarz-rot-goldenen Gewerkschaft - oder: ---------------------------------------------------------- die arbeitende Klasse in der Eigenschaft als Basis -------------------------------------------------- Deutsche Unternehmer kalkulieren nicht anders als Kapitalisten sonstwo auf der Welt. Sie tätigen ihre Geschäfte, indem sie sich "marktgerecht" benehmen und alle Probleme mit Ein- und Verkauf, Preis und Kredit durch die wirtschaftliche Handhabung von Lohn und Leistung in der Produktion lösen. Deutsche Politiker verfolgen in ihrem demokratisch organisierten Konkurrenzkampf um die Macht im Staate keine anderen Ziele als die Figuren, die sich anderswo zur Führung des Volkes berufen fühlen. Denen, die "die Wirtschaft" sind, gewähren sie die not- wendige staatliche Unterstützung - im internationalen Geschäft, in der Regelung des Geld- und Kapitalmarktes sowie in der kon- junkturgemäßen Ausgestaltung der Gebote für die arbeitenden Bür- ger. Was sie f ü r die letzteren tun, geht aus jeder sozial- staatlichen Tat hervor: sie regeln und kontrollieren das Zurecht- kommen mit dem Dienst an der Wirtschaft, unterstützen die Lohnab- hängigen bei dem lebenslangen Versuch, brauchbar zu bleiben und mit den Konsequenzen ihrer Arbeit fertigzuwerden. Der ökonomische Erfolg deutscher Unternehmen und der Zuspruch, den deutsche Politiker - die sich allesamt der Wahrung des sozia- len Friedens verschrieben haben und sich ihrer rühmen - beim Volk genießen, ergeben zusammen einen recht eindeutigen Hinweis auf die Leistung der Gewerkschaft in diesem Staat; zumindest stellt das "Betriebsklima" in den Fabriken ebenso wie das "politische Klima" im Lande eines klar, nämlich das, was die Gewerkschaft u n t e r l ä ß t. Einen Kampf zur Abwehr der Erpressungen, die das moderne Lohnsystem dem Kapital in den Werkhallen anzuwenden gestattet, führt der DGB ebensowenig wie einen gegen die Perfek- tionierung des Sozialstaats, durch die noch jede Regierung Fort- schritte in der Hinsicht erzielt hat, daß aus den notwendigen Formen der Kompensation der Armut ein bequem handhabbares Instru- ment der Wirtschaftspolitik geworden ist. Der G r u n d, der einst die Bildung von Arbeiterkoalitionen bewirkte, hat offenbar mit dem Zweck der heutigen Gewerkschaften nichts mehr zu tun. Hatten sich früher Arbeiter in Koalitionen zusammengeschlossen, um der Ausnützung ihrer Konkurrenz durch die Kapitalisten, der ständigen Verschlechterung des Verhältnisses von Lohn und Lei- stung W i d e r s t a n d entgegenzusetzen und die Ruinierung der Arbeiterklasse zu verhindern, so v e r g l e i c h t sich der DGB als "gesellschaftliche Kraft" mit seinen Gegnern in bezug auf den "gesellschaftlichen Nutzen" und stellt fest, daß in die- ser Hinsicht die Gewerkschaft allemal mehr geleistet habe: "Die Betriebspolitik der Unternehmer hat Hunderttausende von Ar- beitslosen geschaffen. Durch Leistungsdruck und Arbeitshetze wur- den unzählige Arbeitnehmer zu Frühinvaliden. Dadurch ist großer Schaden entstanden an Einkommen und Vermögen, an Leib und Seele der Betroffenen. Dagegen hat die Tarifpolitik der Gewerkschaft höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit geschaffen. Das bringt den Arbeitnehmern Be- schäftigung, den Arbeitgebern Absatz, dem Staat Steuern. Dadurch ist umfangreicher gesellschaftlicher Nutzen gestiftet worden." Der "Stolz auf das Erreichte" (eine der wichtigsten Phrasen in den Publikationen des DGB!) führt den Programmgestaltern der Ge- werkschaftspolitik auch da die Feder, wenn sie als Kontrast zu den positiven Leistungen der Arbeiterorganisation die Untaten der Unternehmer aufzählen. Es ist üblich, moralisch empörte Schilde- rungen der Ausbeutung und ihrer Wirkungen zu verbreiten, ohne im Traum daran zu denken, daß ungehinderte Ausbeutung Zeugnis ablegt von V e r s ä u m n i s s e n der Gewerkschaft; vielmehr dient die Woche für Woche in den Gewerkschaftszeitungen und einschlägi- gen Interviews gelieferte drastische Schilderung des Umgangs mit den Proleten stets dem Nachweis, daß mit der Gewerkschaft eine A l t e r n a t i v e in der Bewältigung der "gesellschaftlichen Probleme" vorhanden sei, deren Existenzberechtigung gerade in den brutalen Formen des modernen Produktionsprozesses belegt ist. Wenn der DGB die Bedeutung der gewerkschaftlichen Organisierung für den A r b e i t e r herausstreichen will, so fällt seinen Wortführern sogleich seine positive Leistung für S t a a t u n d W i r t s c h a f t ein - und daß es sehr auf die Weise der "Beschäftigung" ankommt, wenn die Frage nach "Fluch oder Se- gen" beantwortet werden soll, wird für ziemlich unwesentlich er- achtet. So stehen in den Verlautbarungen der bundesdeutschen Ein- heitsgewerkschaft das Lob der eigenen Leistung u n d sein De- menti immer einträchtig beieinander, weil der Schaden der "Betroffenen" für die N o t w e n d i g k e i t der Gewerk- schaft herhalten muß, und weil der N u t z e n der gewerk- schaftlichen Aktivität als einer für Gott und die Welt erstrebt wird, so daß die Arbeiter eben a u c h, und zwar in ihrer Vor- zugsstellung als "Beschäftigte" vorkommen. Wenn ihnen die ganz speziellen Vorteile der Gewerkschaftspolitik für die arbeitende Klasse dargelegt werden sollen, dann fallen den Repräsentanten des DGB auch besondere Argumente ein. Sie bemühen 100 Jahre Klas- senkampf und erzählen jedem, wie schlecht es ihm heute (noch) er- ginge, hätte es nie eine Gewerkschaftsbewegung gegeben. Mit die- ser Legitimation des DGB u n a b h ä n g i g davon, was er für die Arbeiter im Modell Deutschland taugt, ist durchaus ein Urteil über den aktuellen Zwecke dieses Vereins gefällt. Die I d e a l i s i e r u n g der heutigen Gewerkschaft mittels der historischen Leistungen ihrer Vorgänger sagt ja nichts anderes, als daß die Zeit der großen Kämpfe und Errungenschaften vorbei ist und jetzt neue und ganz andere Aufgaben anstehen. Das insbe- sondere auch von linken Intellektuellen geliebte historische Strickmuster, die Feier vergangener Schlachten, behauptet mit den Siegen der Bewegung von gestern, daß ihre Erben vom DGB die Un- terstützung der Proleten verdienen, auch und gerade wenn diese Erben jedem materiellen Interesse von Arbeitern im Namen höherer Ziele abschlägigen Bescheid erteilen. Wenn die westdeutsche Gewerkschaft bei allem, was "in Wirtschaft und Gesellschaft" so passiert, ihre Z u s t ä n d i g k e i t daraus ableitet, daß und inwiefern die "Arbeitnehmer" die B e t r o f f e n e n sind, so ist dies nie eine Begründung da- für, Abwehrmaßnahmen der "Betroffenen" in die Wege zu leiten. "Begründet" wird vielmehr ihre O h n m a c h t bzw. die ihrer Interessenvertretung, die im modernen Sozialstaat über zu wenige Befugnisse verfüge, eine günstige Alternative für die von ihr Vertretenen durchsetzen zu können. Dieses Argumentationsmuster, das in keiner Publikation des DGB - vom theoretischen Organ der Funktionäre über die Schulungsmaterialien bis zum Flugblatt in der Tarifrunde - fehlt, gibt erschöpfend Auskunft über das, was sich dieser Verein vorgenommen hat: "Jedes Wirtschaften ist seiner Natur nach gesellschaftlich. Es darf nicht allein vom Gewinnstreben bestimmt sein. Von wirt- schaftlichen Entscheidungen werden insbesondere die Arbeitnehmer betroffen, Deshalb (!) müssen die Arbeitnehmer und ihre Gewerk- schaften gleichberechtigt an der Gestaltung der Wirtschaft betei- ligt werden. Die wirtschaftliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist eine der Grundlagen einer freiheitlichen und sozialen Gesell- schaftsordnung. Sie entspricht dem Wesen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates." Auch Gewerkschaftsstrategen beherrschen jene Albernheit von Lin- ken, den "gesellschaftlichen" Charakter der Ökonomie für eine un- geheuer brauchbare Sache zu halten, der dann das "Gewinnstreben" zumindest teilweise nicht gerecht wird (was Revisionisten gern für ihren Gegensatz von gesellschaftlicher Produktion und priva- ter Aneignung halten); zur "dem Gesellschaftlichen" entsprechen- den Korrektur fühlen sie sich berufen, und dies umso mehr, als schon die lateinische Übersetzung "sozial" zum festen Attribut des modernen Klassenstaates geworden ist. Daß der Staat es sich zum Anliegen macht, ganz "sozial" auf die Brauchbarkeit der "sozial Schwachen" zu achten, und sogar die Notwendigkeit der Ge- werkschaften anerkennt, gefällt den Programmgestaltern des DGB so sehr, daß sie den sozialen Rechtsstaat f e i e r n. Keiner ver- tritt so fest wie sie den Standpunkt, daß gerade die "Betroffenen" und Armen vor allem Recht und Freiheit benötigen; ihnen stehen gerade deswegen, weil es ihnen an handfesten Gütern fehlt, die höchsten Werte der Demokratie in bevorzugter Weise zu. Ihr T a d e l des Sozialstaats sieht entsprechend aus. Daß es den Proleten in dieser "sozialen Gesellschaftsordnung" schlecht geht, kann unmöglich an dem liegen, was Kapital und Staat mit ih- nen anstellen; ein n e g a t i v e r G r u n d muß für einen modernen Gewerkschafter her; einer, der besagt, daß immer noch v e r h i n d e r t wird, daß das gute soziale Prinzip reali- siert werden kann. In den "wirtschaftlichen" Entscheidungen haben die Betreffenden das Sagen - und den Betroffenen fehlt es an Ein- fluß. Die M a c h t der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften ist zu gering bemessen im Verhältnis zu derjenigen, über die die Repräsentanten des ungesellschaftlichen "bloßen Gewinnstrebens" verfügen - womit die Notwendigkeit der M i t b e s t i m m u n g abgeleitet wäre! Die Logik der aus jedem Anlaß neu aufbereiteten Mär, die dem Ar- beitsmann auferlegten Opfer hätten in der O h n m a c h t der Gewerkschaft ihren Grund, verrät, was moderne Arbeitervertreter aus der Geschichte für Lehren gezogen wissen wollen. Sie haben mit einiger Genugtuung festgestellt, daß aus den. Kämpfen vergan- gener Tage immerhin eines herausgekommen ist, nämlich die p o l i t i s c h e E m a n z i p a t i o n der Arbeiter: ihre Anerkennung als Staatsbürger, so daß sie in den Genuß manchen Rechts gelangt sind; ein Arbeiter von heute darf eine Meinung ha- ben, zur Wahlurne gehen, Verträge aller Art abschließen, darunter auch seinen Arbeitsvertrag, ja er darf sogar ohne polizeiliche Schwierigkeiten einer grundgesetzlich genehmigten Gewerkschaft beitreten, um etwas für die "Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" zu tun, auf die es ihm ja so sehr an- kommt. All diese Erfolge schätzen die mit der Vertretung von Ar- beiterinteressen Betrauten so hoch, daß sie die mit den schönen Rechten gebotenen V e r p f l i c h t u n g e n gar nicht mehr a) solche auf die nützlichen Dienste für das Kapital verstanden wissen wollen; sie haben ihren Frieden mit dem Gegensatz von Ar- beit und Kapital gemacht, insofern dieser ein ö k o n o m i s c h e r ist - sie möchten ein politisches Ge- schäft aus ihm machen. Ausbeutung und Armut zählen für diese Leute a) Demonstrationsmaterial für die Notwendigkeit verbesser- ter politischer Mitwirkung - weshalb ihnen auch die "Sozialpartnerschaft" ein ernstes Anliegen und der Vorwurf an ihre Gegner, sie würden sich nicht wie Partner betragen, der här- teste Angriff ist. Sie stellen sich zu allem, was in der Welt von Kapital und Arbeit auf Kosten der letzteren vorfällt, als einer Quelle von K o n f l i k t e n, in denen sie nicht die eine Partei darstellen, sondern an deren bestmöglicher Lösungsweise sie als einzige Kraft, die das Allgemeinwohl ernst nimmt, inter- essiert sind. So besprechen sie den Klassengegensatz wie eben "reife Politiker" als m e t h o d i s c h e s P r o b l e m, für dessen Bewältigung sie das demokratische Modell der Mitbe- stimmung durchsetzen wollen: "Sicherlich kann man Konflikte auf verschiedene Weise austragen. In einer freiheitlichen Ordnung kommen aber nur demokratische Formen in Frage, die den Betroffenen die Chance geben, in den wichtigsten Fragen, die ihre Lebenslage angehen, gleichrangig und gleichberechtigt mitzubestimmen. Das Spannungsfeld zwischen Ar- beitnehmern und Kapitaleignern wird damit nicht beseitigt. Im Ge- genteil, es wird als Strukturprinzip unserer Ordnung anerkannt. Allerdings ändern sich die Spielregeln für die Austragung von Konflikten." Den Fanatikern der p o l i t i s c h e n Emanzipation des Pro- letariats ist zu Bewußtsein gekommen, daß die Demokratie den Zweck verfolgt, den Klassengegensatz in seinen dem Wirtschafts- wachstum abträglichen Verlaufsformen zu kontrollieren, ihn so zu beschränken, daß die verheerenden Folgen der Lohnarbeit bei denen, die sie verrichten müssen, nicht den Willen erzeugen, der Wirtschaft ihren Dienst aufzukündigen. Diesen Zweck t e i l e n die Macher der deutschen Einheitsgewerkschaft, die ihnen von den Staatsgründern offeriert wurde, und zwar so enthusiastisch, daß sie einerseits wie Revisionisten aller Couleur beklagen, daß die Ideale der Demokratie an der Realität der Fabrik zuschanden wer- den, andererseits daraus nicht ein Argument für den Klassenkampf um mehr Demokratie werden lassen. Ihre Konsequenz lautet schlicht, daß die Demokratie vor den Werktoren nicht haltmachen dürfe - und dafür "kämpfen" sie. Denn die Realität hinter den Werktoren gestattet ihnen die ersehnte Praxis der "Sozialpartner- schaft" noch lange nicht - zu gering sind die R e c h t e der Arbeitnehmer dafür bemessen! Dem gewerkschaftlich geschulten Auge eröffnet sich beim Blick in die Fabrik nämlich nicht die Realität des Arbeitslohnes und der mit ihm erzwungenen Leistungen; die Welt der Arbeit zerfällt für ihn in eine N o t w e n d i g- k e i t - "Die Kapital- und Arbeitnehmerinteressen stehen im einzelnen ei- nerseits in einem Ergänzungsverhältnis: Kapital und Arbeit sind strukturnotwendig für die Erfüllung der Produktionsfunktion." - und in einen U n g e r e c h t i g k e i t s s k a n d a l, eine "ungleiche Verteilung der Rechte", der durch die M i t b e s t i m m u n g abgeholfen werden muß. Diese Abhilfe ist, wie es sich unter anständigen Demokraten gehört, natürlich Sache des Staates, dem ja auch daran gelegen sein sollte, die "sozial Schwachen" mit einer angemessenen Repräsentation zu ver- sehen, wenn sie schon sonst nichts kriegen: "Der Gesetzgeber, der die wirtschaftliche Mitbestimmung einführt, greift daher nicht in Eigentümerrechte ein; er stärkt lediglich die Stellung der Menschen, die auf unselbständige Arbeit angewie- sen sind, und erspart es ihnen, sich aus wirtschaftlicher Schwä- che in ein Unterwerfungsverhältnis begeben zu müssen." Mit solchen ergötzenden Ideen füllen Haupt-, Zwischen- und Unter- vorstände des DGB seit den Zeiten des "Wirtschaftwunders" ihre programmatischen Schriften, die sie in regelmäßigen Abständen erneuern und durch Belegmaterial über die aktuellen Fortschritte der Ausbeutung ergänzen. Denn ein solches Gewerkschaftsprogrnmm bedarf zur Demonstration seiner Dringlichkeit zumindest der dauernden Empörung über das, was den Proleten angetan wird - "weil und solange von einer echten Mitbestimmung noch nicht die Rede sein kann". Wo die materiellen Interessen der Vertretenen für die Mitwirkung der Vertreter im großen Geschäft - in der Politik wie in den Aufsichtsräten - herhalten müssen, werden sie eben das Material der o f f i z i e l l e n H e u c h e l e i: wenn H.O. Vetter zum Europaparlament jettet, dann deswegen, weil die Abgestuften der letzten Rationalisierungswelle, die Entlassenen und die mit der neuen Bandgeschwindigkeit Bedachten das für unerläßlich befinden: "Arbeitnehmer fordern das soziale Europa!" Überhaupt läßt sich der Lebenszweck des DGB für Leute, denen die bisherigen Ausführungen zu "theoretisch" sind, weil sie das Prin- zip einer politisierten Gewerkschaft am "Konzept der Mitbestim- mung" darlegen, auch "einfacher" klarmachen. Der Erfolg der west- deutschen Arbeiterorganisation gibt nämlich schlagend Auskunft darüber, daß sich das Streben nach Mitsprache und politischer An- erkennung, der Streit um tausend "Alternativen" im Staats- und Wirtschaftsleben nur einem Interesse verdankt: dem festen Willen, die Gewerkschaftspolitik von allem zu e m a n z i p i e r e n, was einem Lohnabhängigen so Leben schwermacht. Das linke, auf viel Tradition zurückgehende Anliegen, nicht "bloß ökonomische" Kämpfe zu führen - das schon von ziemlicher Ignoranz zeugt: wel- che ökonomischen Kämpfe in der Geschichte der Arbeiterbewegung sind schon g e f ü h r t worden ohne den Konflikt mit dem Staat! -, ist tatsächlich radikal in die Tat umgesetzt worden vom DGB: statt die wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder zu verfolgen, benutzt sie dieser Verein ausschließlich für seine po- litischen Ambitionen, und darüber hat er sich seinen festen Platz in der westdeutschen Klassengesellschaft erobert. Noch nie war eine deutsche Gewerkschaft so mitglieder- und fi- nanzstark wie heute. Waren Gewerkschaftsvertreter früher Leute, die mit einigem rechnen mußten von seiten des Staates, so haben sie heute seine Achtung sicher; sie gehören zu den angesehenen Bürgern, zu den Figuren, die an keinem Feiertag fehlen dürfen. Sie hocken in jedem kommunalen und nationalen Gremium, in jeder Kammer und mancher Universität repräsentieren sie den Fortschritt der Institution; in Recklinghausen machen sie auf Kultur, und in Aufsichtsräten weisen sie auf die sozialen Härten hin, die die Rationalisierungsmaßnahmen mit sich bringen, für die sie gerade gestimmt haben. An einem der Wirtschaft gewidmeten Forschungsin- stitut zählen Gewerkschaftsintellektuelle die volkswirtschaftli- chen Daten nach, einschließlich der Arbeitslosen; die hauseigenen Ökonomen, Soziologen und Politikwissenschaftler verfassen gemein- sam mit Kollegen von der BDA eine Broschüre "Über die Verbände", die an den Schulen verteilt wird, so daß die künftigen Proleten erfahren, daß die Gewerkschaft ein "freier Zusammenschluß von In- teressenten" ist und Vorsicht walten lassen muß, kein "Staat im Staat zu werden. Und die besten Exemplare des DGB dürfen mit den Mächtigen der Nation überall hinfahren, wo ein Geschäft zu machen ist. Das unveräußerliche Recht der arbeitenden Bevölkerung auf Mitwirkung am allen sie betreffenden Entscheidungen ist also al- les andere als ein Traum, wenngleich ein gestandener DGB-ler sich enorm diskriminiert vorkommen mag, weil die Unternehmerlobby viel größeren Einfluß auf die fälligen Beschlüsse im Parlament und in den Chef-Etagen hat. Dem allgemeinen Motto entsprechend: "Je pa- ritätischer die Kommission, desto Rechts- und Sozialstaat" macht sich ein in Fragen der Demokratie bewanderter Gewerkschafter, vom Betriebsrat über den Ortsvorstand bis zum Mitglied des Hauptvor- standes, eben keine allzugroßen Gedanken über das, was er da mit- entscheidet - oder vielmehr nur e i n e n Gedanken: wie er für die von ihm Vertretenen am glaubwürdigsten seine G e w i s s e n s b i s s e demonstriert und die Lüge in die Welt setzt, daß die F o l g e n seiner Mit-Entscheidung alle- samt nur wegen s e i n e r b e s c h r ä n k t e n R e c h t e so ausfallen, wie sie es tun. Auf diesem Felde betätigt sich die ganze Phantasie der DGB-Elite, wobei sogar antikapitalistische Sprüche ihren Platz haben - zu- mindest wenn fortschrittliche Gewerkschaftsfunktionäre wie Hen- sche, Steinkühler etc. am Universitäten für ihre Politik bei lin- ken Studenten um Sympathie werben. Die Mitwirkung von Gewerk- schaftern an den folgenreichen Beschlüssen in Sachen Wirtschafts- politik, wo mit Inflation und Arbeitslosenzahlen gekonnt fürs Wachstum k a l k u l i e r t wird, könnte immerhin auch einen "Betroffenen" auf den Gedanken bringen, daß man die Wirtschafts- politik dem Staat ganz überlassen sollte und, statt mitzuwirken, ihre Durchsetzung v e r h i n d e r n könnte. Diesem Ansinnen, die Stärke der Gewerkschaft einmal im Interesse der Lohnabhängi- gen zu nützen und Entlassungen zu unterbinden, beugt der DGB mit wirtschaftlichem Sachverstand vor, freilich nicht ohne das Bedau- ern darüber zu äußern, daß die von ihm amgestrebte Verbindung von Wachstum und "Recht auf Arbeit" erst noch zu schaffen sei. Mit einer verbesserten Mitbestimmung natürlich, die dann auch das ge- werkschaftliche Ideal der Rationalisierung, die "Humanisierung der Arbeit" zur Blüte bringt. Solange es das noch nicht gibt, gilt es der ständigen Leistungssteigerung in den Fabriken mit D i s k u s s i o n e n über die Arbeitszeitverkürzung zu begeg- nen und nicht von der Überzeugung abzurücken, daß die 35-Stunden- woche m ö g l i c h ist. Somit weiß jeder, woran er ist: alles, was Kapital und Staat den Proleten reinwürgen, ist "leider" (noch) nicht zu verhindern gewesen, so daß man als anständiger Interessenvertretungsveein das Recht hat, wenigstens sozialstaat- liche Milde zu erwarten, was die Kompensation des in der Welt von Lohn und Leistung vom Arbeiter verlangten Einsatzes angeht. Zeigt sich der Staat hier, auf dem Gebiet von "gerechter Einkommensver- teilung", den "sozial Schwachen" gegenüber nicht erkenntlich, so muß ein IG Metall-Vorsitzender so reagieren: "Es wäre richtig gewesen, wenn der Weihnachtsfreibetrag noch in diesem Jahr spürbar angehoben worden wäre. Daß dies nicht gesche- hen ist, nehmen wir mit großer Enttäuschung zur Kenntnis." "Was wir erwarten ist, daß die Bundesregierung ohne Verzug ein Steuerpaket vorlegt, das den Interessen und Bedürfnissen der Ar- beitnehmer gerecht wird." Das Karussell von Erwartung und Enttäuschung, das der DGB das ganze Jahr über in Bewegung setzt, dient der Propaganda seiner I d e a l e des Sozialstaats, durch die er sich bei aller Unter- stützung des r e a l e n Staats und seiner Zwecke den Anschein geschäftiger Sorge gibt, den Gewerkschafter umgekehrt bei manchen Staatsmännern vermissen - insbesondere bei denen, die sich auf die Kooperation mit der deutschen "Arbeitnehmer"vertretung nicht so gut verstehen. Die gemeinschaftlichen sozialstaatlichen Heu- cheleien verbinden den DGB nämlich mit den S o z i a l- d e m o k r a t e n; und der auf beiden Seiten genau kalkulierte Realismus bezüglich des Nutzens, den man voneinander hat - die SPD erreichte mit Hilfe des DGB die Macht im Staat und will sie weiterhin behalten; der DGB erhält von der SPD die Bedeutung, die er haben will, darf seine Bedenken vortragen und seine Anerkennung als "gesellschaftliche Kraft" genießen -, führt zu den schönen Veranstaltungen am 1. Mai, wo Staatsmänner mit viel Schwung ihre Leistungen als opfervollen Kampf an der Seite der arbeitenden Menschen zur Darstellung bringen. Auch sonst wird sich öfter mal getroffen und sich wechselseitig bescheinigt, wie einig man nach wie vor sei. Der Arbeitsmann nimmt dann in seiner Gewerkschaftszeitung zur Kenntnis, daß die Million Arbeitslose von den Verwaltern seiner Ärgernisse so beurteilt wird: "Im Mittelpunkt dieses Gesprächs standen Fragen der Beschäfti- gungspolitik. Übereinstimmend wurde die Auffassung vertreten, daß die Konjunktur zur Zeit keinen Anlaß zur Besorgnis gibt." Der DGB- Vorsitzende erklärt dann abschließend: "Es ist nichts Aufregendes, sondern etwas völlig Selbstverständ- liches und Beruhigendes, wenn Sozialdemokraten und Gewerkschafter zusammenkommen, uns verbinden viele Ziele." Und wie es sich für weitblickende, großen Zielen verpflichtete politische Figuren gehört, erörtern sie immer auch den rechten Umgang mit ihren Kritikern; die von rechts in den C-Parteien ge- fährden mit ihren Angriffen auf die Einheitsgewerkschaft den so- zialen Frieden und überhaupt das Erreichte, die von links sind Objekte der Observation, denn die festigen nicht, sondern stören die gedeihliche Zusammenarbeit zwischen SPD und Gewerkschaft; Herbert Wehner darf dafür eintreten, "daß wir denen auf die Finger sehen, weil wir nicht wünschen oder durch Unachtsamkeit dazu beitragen wollen, daß gewerkschaftliche Kräfte nutzbar gemacht werden für antisozialdemokratische Poli- tik." Auch in dieser Hinsicht können sich westdeutsche Gewerkschaftler dem Anliegen der Republik nicht verschließen. Linke Menschen sind für sie akzeptabel, wenn sie für die Gewerkschaftsschulung oder für "Metall" geschichtliche Rückblicke auf die düsteren Zeiten verfassen, als es noch ein Risiko war, sich zu organisieren; so- bald sie aber dazu übergehen, im Namen der heute Organisierten Zweifel an der Nützlichkeit der Gewerkschaft für ihre Mitglieder anzumelden, trifft sie der Bann des der Geschichte unendlich dankbaren d e m o k r a t i s c h e n N a t i o n a l i s m u s dieses Haufens. Nach dem Vorbild der demokratischen Berufsverbote schützt der DGB s e i n e demokratische Substanz durch Unver- einbarkeitsbeschlüsse und entsprechende Ausschlußverfahren. Daß die nationale Wirtschaft und die Regierung funktionieren müssen, bevor sich einer das Recht herausnehmen kann, etwas zu verlangen, ist den sachverständigen DGB-Vorständen zum Grundsatz geworden. Sie entdecken noch in jeder Rentenkürzung, jeder Preiserhöhung und jeder Entlassung "ein von allen Verantwortlichen in unserem Gemeinwesen sehr ernstzunehmendes langfristiges Problem". Der po- litische Jargon zeigt, in welcher Weise diese Gewerkschaft über- haupt noch ein Interesse entwickelt, mit dem sie sich i n G e g e n s a t z zu einer staatlichen Entscheidung oder zu ei- ner betrieblichen Maßnahme begibt: das Kriterium für die Ent- deckung von Gegnern ist ihr einfach sie selbst - sie mißt alles und jeden an ihrer Auffassung von gerechtem staatlichen und unternehmerischen Walten, mit dessen Gelingen sie auch die Sache der von ihr Vetretenen bestens erledigt sieht. Deshalb kommen die "Arbeitnehmer" auch immer und nur als Betroffene vor, insbeson- dere dann, wenn die Gewerkschaft E r f o l g s m e l d u n g e n in die Welt setzt: "In über hundert Stunden vorbereitender Gespräche und harten Ver- handlungen hat die IG Metall durchgesetzt, daß die Krise der saarländischen Eisen- und Stahlindustrie für die betroffenen Ar- beitnehmer nicht zur Katastrophe wird." Die Darstellung gewerkschaftlicher Funktionärstätigkeit als "Arbeit", als eine entsagungsvolle, alle Kennzeichen des Opfers aufweisende Leistung ist hierzulande gewerkschaftlicher Usus, und sie allein wirft schon ein Licht auf den Inhalt dessen, wofür diese Charaktere "geradestehen": "Die Neuordnung der Eisen- und Stahlindustrie unter dem neuen Konzernherrn ARBED wird ohne Entlassungen und mit weitreichenden Garantien für die Arbeitnehmer durchgeführt. Was nicht verhindert werden konnte: Tausende Arbeitsplätze werden in wenigen Jahren vernichtet." Sosehr ist diesen Leuten das Anliegen des kapitalistischen Mana- gements in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie die B e g u t a c h t u n g des ökonomischen Erfolgs in haargenau derselben Weise vornehmen wie das "Handelsblatt" - und die nega- tiven Wirkungen auf das Ausbeutungsmaterial als unumgängliche Notwendigkeit darstellen, welche der gewerkschaftlichen Mitbe- stimmung für die nächste Zeit wieder Aufgaben stellen und Per- spektiven eröffnen. Innerhalb einer Woche kann ein Mitglied der IG Metall in verschiedenen Publikationen, manchmal in derselben Nummer die folgenden gefühlvoll abgefaßten Lagebeurteilungen zur Kenntnis nehmen: "Gegenwärtig werden Absatz und Preise von Stahl weltweit gesteu- ert. Das hat der Stahlindustrie eine Atempause verschafft. Sin- kende Kosten und erhöhte Preise erlauben ihr seit einem halben Jahr im großen und ganzen die Deckung ihrer Kosten... Die bundes- deutschen Stahlkonzerne stehen vergleichsweise fest auf den Bei- nen: finanziell solide, technisch modern, durch Mitbestimmung und eine vernünftige Tarifpolitik der IGM sozial fundiert." "In den letzten drei Jahren sind in der Stahlindustrie 41.000 Ar- beitsplätze verlorenegegangen. Allein seit Anfang dieses Jahres sind im Bereich der Stahlerzeugung 10.000 Arbeitsplätze vernich- tet worden." Solche Frechheiten steigern die Ideologen der Gewerkschaft nur noch in einem Bereich, nämlich dort, wo es um die i n t e r- n a t i o n a l e D u r c h s e t z u n g des westdeutschen Kapitals geht. Für ein Atomprogramm, das die Stärke der west- deutschen Wirtschaft und garantiert d e u t s c h e "Arbeits- plätze" sichert, läßt der DGB schon einmal seine Massenbasis im Westfalenstadion antreten! Er rät noch stets zu den schärfsten Waffen der Konkurrenz, seine Vorstände hetzen ohne Umschweife auf "die Japaner" und die ärgerlichen Subventionspraktiken anderer Staaten, die der d e u t s c h e n Stahl-, Werft- und Auto- industrie die Butter vom Brot nehmen. Meldungen wie "Die Bundesrepublik profitierte von der EG" und die dazugehörigen Vor- schläge, wie aus dem "sozialen Europa" noch mehr für die deutsche Wirtschaft herauszuholen sei, sind auf der Tagesordnung - so daß einem die bloße Lektüre des "gewerkschaftlichen Internationalis- mus" bereits die leiseste Neigung zu der Frage austreibt, wo denn da die Interessen der Arbeiter bleiben. Die Beschwörung des Um- stands, daß auch in weltpolitischen Fragen die Arbeiter die vor allem "Betroffenen" seien, dient den heutigen weitgereisten Ge- werkschaftsoberfritzen selber nur noch als - oft auch schon gleich weggelassener - Auftakt dafür, mit allen Insignien politi- scher Wichtigkeit ihren Senf zur Weltlage dazuzugeben: von der Reform der Apartheid in Südafrika bis zur kollegialen Mahnung an einen Metallgewerkschaftsfunktionär der SU, er sollte doch für den Abzug der Roten Armee aus Afghanistan sorgen, damit die Olym- pischen Spiele keinen Schaden nehmen. Umgekehrt steht für die Ge- werkschaft die "Aussöhnung" zwischen Arbeiterklasse und Wehrmacht so hoch im Kurs, daß sie mit ihren Massen öffentliche Rekruten- vereidigungen ausstaffiert. Auch aus ihrer Gegnerschaft gegen die Notstandsgesetze hat sie also das Beste gemacht. Die DGB-Einheitsgewerkschaft ist so schwarz-rot-gold, daß jede Kritik an ihr, die ihr F e h l e r bei der Verfolgung von "Arbeitnehmerinteressen" vorwirft, eine einzige Verharmlosung darstellt. In trauter Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie hat sie auch den letzten Anschein fallengelassen, sie sei auf die Durchsetzung eines Klasseninteresses aus. Höchstoffiziell betei- ligt sie sich am Management der deutschen Wirtschaft und strebt als das gute Gewissen ihres Erfolgs danach, auch von staatlicher Seite ganz offiziell mit dieser Aufgabe betraut zu werden, in im- mer mehr Posten und Angelegenheiten, wofür sie der derzeit staat- stragenden Partei treue Wählerstimmen in Aussicht stellt. So kann der Vorwurf derer, die auf solche Gewerkschaftshilfe für die Er- oberung der Staatsmacht nicht rechnen dürfen, nicht ausbleiben - es drohe der "Gewerkschaftsstaat" - ein Vorwurf, der keineswegs mit dem des "Rückfalls" in den "überholten Klassenkampf" zu ver- wechseln ist. Daß mit der "Filzokratie" von sozialdemokratischer Staatspartei und DGB die A r b e i t e r an die Macht gekommen wären, befürchtet nämlich auch ein Kurt Biedenkopf nicht. Gerade vermittels der demokratischen Leistungen der beiden "Erben der Arbeiterbewegung" stehen die Arbeiter zur Staatsmacht im rechten Verhältnis: Mit der Zustimmung zu "ihrer" Partei entscheiden sie sich für die Herrschaft über sich; und im DGB verfügen sie über ein staatstreues Institut zur demokratisch konstruktiven Abwägung und Abwicklung des Schadens, zu dem sie mit der Wahl ja erst ihr prinzipielles politisches Einverständnis abgeliefert haben. Schwierigkeiten mit der arbeitenden Klasse ------------------------------------------ hat die nationale Gewerkschaftsmacht nicht - andernfalls wäre ihr d i e s e Politik unter ständiger Berufung auf die Opfer des ka- pitalistischen Fortschritts kaum möglich. Mit denen, die sie s t a r k machen, gehen die maßgeblichen Leute sehr souverän um. Selbst aus der Institution der Tarifrunde haben sie das Instru- ment ihres politischen Erfolgs gemacht, so daß der ökonomische Kampf um Lohn und Leistung nur als Mittel zum höheren Zweck und mit dem entsprechenden Ergebnis stattfindet. Die Gewerkschaft setzt den Verdacht gegen sich in die Welt, sie sei eine "bloße Lohnmaschine", nur um ihn zurückzuweisen. Daß sich im Ritual der Tarifverhandlungen und in den bisweilen vorkommenden Streiks jene K l a s s e n a u s e i n a n d e r s e t z u n g e n abspielen, an die sich die Hoffnungen der Linken knüpfen, erweist sich schon zu Beginn der gewerkschaftlichen Aktivitäten als ein erlesenes Gerücht. Nicht nur, daß die zum Zwecke des Kompromisses aufge- stellten Forderungen nach allen Regeln der volkswirtschaftlichen Kunst e r r e c h n e t werden - womit erstens der Geldmangel der Proleten ebenso wie ihr Bedürfnis nach Arbeitserleichterungen nur im Hinblick auf die "Notwendigkeiten" des Kapitals auf den Tisch und zweitens die von der Gewerkschaft ermittelten "Möglichkeiten" nie herauskommen -, kann da als Indiz gelten; die in sämtlichen demokratischen Techniken beschlagenen Versammlungs- leiter verwandeln jeden Anspruch, der in einer Belegschafts- oder Ortsgruppenversammlung aufgekommen ist, durch "geschicktes" Aus- spielen gegen die abweichenden Forderungen sowie die "nicht ent- wickelte Kampfbereitschaft" anderer Gewerkschaftsabteilungen läs- sig in die längst beschlossene Größe. So empfindlich die Gewerk- schaftsfunktionäre auf jeden Journalisten und Politiker reagie- ren, der den "vernünftigen Abschluß" von vorneherein beziffert - das ist das Gezeter über den "Eingriff in die Tarifautonomie" -, so genau nimmt sie es mit der Abwiegelung aller innergewerk- schaftlichen Vorschläge, die, würden sie von den Beteiligten ernstgenommen, einen ordentlichen Kampf unter Anwendung der ihm gemäßen Mittel nach sich zögen. Was sich auf den entsprechenden Versammlungen abspielt, kann durchaus auch der ermessen, der nicht teilgenommen hat und den Zirkus kennt. Er braucht nur etwa die Notiz in "Metall" zu lesen, die unter der Überschrift "Forderungen liegen auf dem Tisch" zu finden ist: "Daß viele Kollegen zustimmten, obwohl sie eine höhere Lohnforde- rung für angemessen gehalten hätten, bezeichnete Bezirksleiter Franz Steinkühler als 'bestandenen Reifetest' für die Organisa- tion." Nicht nur, daß der als besonders radikaler Arbeitervertreter ver- schriene Steinkühler das so sieht - es wird auch noch allen Mit- gliedern der IG Metall frisch zur ersten Tarifrunde des neuen Jahrzehnts serviert, worin ihre "politische Reife" besteht. Daß der offizielle Auftakt des Lohnkampfs erst einmal darin seinen Witz hat, daß die Mitglieder von dem, was sie brauchen, Abstand nehmen, wird höchst eindeutig mitgeteilt - und dennoch ist aus dem Bezirk Stuttgart nichts von einem Aufstand der Basis bekannt geworden. Das Geheimnis des innergewerkschaftlichen Rummels, der da alljährlich abgezogen wird, erschöpft sich eben in einer De- monstration demokratischer Teilhabe der Basis bei der Aufstellung der vorgesehenen Forderungen, und das läßt sich am besten immer noch durch die "Schlichtung" vorhandener "Meinungsverschieden- heiten" erledigen. Da dürfen auch mal linke Metaller und sehr kampfbereite Drucker auf den Putz hauen; da dürfen Forderungen vorgeschlagen werden, "weil sie streikfähig" sind, "vereinheit- lichend" wirken - andere werden aufgrund ihrer "spalterischen" Natur abgelehnt; die Frage "Festgeld- oder Prozentforderung?" gehört immer dazu usw. -, so daß nach ein paar Stunden feststeht, was vorher schon feststand. Der spärliche Besuch und das lächerliche Engagement einiger Funktionäre angesichts offenkundiger Gleichgültigkeit bei den Mitgliedern verraten, daß solche Veranstaltungen eine ziemlich umständliche Art sind, demokratisches Pflichtbewußtsein zur Schau zu stellen. Keiner der Beteiligten täuscht sich über den Charakter dieser Versammlungen - jeder weiß, daß es nur um den S c h e i n zu tun ist, es würde gestritten und entschieden. Wo Linke eine Heidenbewegung an der geliebten Basis entdecken und Funktionäre diese Illusion zum Beweis des demokratischen Betriebs auch einmal nähren, findet alles statt, nur eines nicht: die gemeinschaftliche Beratung über das effektivste Vorgehen, um das zu erreichen, was zu erreichen geht! Darüber, was "gebraucht" wird, entscheiden also berufsmäßige Kom- missare mit dem Taschenrechner; und mit dem marschieren sie dann zu den V e r h a n d l u n g e n, nachdem die Große Tarifkom- mission das Ergebnis von der Basis freudig begrüßt und einstimmig - noch besser: mit ein paar Gegenstimmen - beschlossen hat. Mit welchem Ergebnis sie wieder zur Basis zurückkehren, wissen sie zu diesem Zeitpunkt schon - das aber darf niemand behaupten. Denn das bisher gelaufene Verfahren macht die Schwierigkeiten dieser "Verantwortlichen" deutlich: daß es auf ihre "Beharrlichkeit" an- kommt, auf ihr "Verhandlungsgeschick", vor allem aber darauf, die "Provokation" der Gegenseite zu entlarven, die Unannehmbarkeit ihres Angebots zu beschwören, das längst ebenso wie das gewerk- schaftliche zur Bildung der "Mitte" angesetzt ist, will ja noch bewiesen werden. Die ganze Beschäftigung einer gewerkschaftlichen Tarifkommission besteht darin, die Verhandlung so zu führen, daß sie hinterher das Erreichen des den Mitgliedern auch schon vorher bekannten Ergebnisses als Erfolg der Gewerkschaftspolitik verkau- fen kann - und die Journaille tut den Unterhändlern der Gewerk- schaft den Gefallen, sie angesichts der erfundenen Gefahr, sie könnten "ihr Gesicht verlieren", zu bedauern. In den Verhandlun- gen selbst wird also nicht über Lohn und Leistung gestritten, über das Maß, in dem sich nach dem Abschluß die Proleten für wie- viel Geld plagen müssen; der Kampf um die Zehntel - einen anderen gibt es sowieso nicht, weil die "Mitte" feststeht - ist einer um den S c h e i n d e s g e w e r k s c h a f t l i c h e n K a m p f e s, der mit dem "zähen Ringen", der Dauer des Thea- ters ebenso herbeigeführt werden kann wie mit einem Zehntel Pro- zent und der verschiedenen Verrechnungsweise des Resultats. Kos- metik ist da allemal gefragt, und wenn die Basis in Gestalt einer Demonstration auf der Bildfläche erscheint, so wissen ihre Funk- tionäre noch allemal, wie sie auf den Appell "Laßt euch nicht un- terkriegen!" zu reagieren haben. Sie sagen: "Das stärkt uns unge- heuer den Rücken!" und beraten untereinander, ob es denn diesmal tatächlich "Unmut" geben könnte, wenn zu schnell und ohne Tamtam in der bewußten Weise abgeschlossen wird. Die "aktiven Gewerk- schaftler", die sich noch Illusionen über das Geschehen machen und so tun, als ginge es tatsächlich darum, ihren bedrängten Ver- tretern die nötige Unterstützung zuzusichern, werden entsprechend dieser frommen Absicht benützt. Die Tarifkommission kann sich auf die Kampfbereitschaft berufen, ihren "Sozialpartnern" von den "Arbeitgebern" mit dem Ärgsten drohen, wenn sie nicht den Kompro- miß so zugestehen, daß er nach etwas aussieht. Es soll aber auch schon vorgekommen sein, daß die Demonstranten als unmaßgebliche, keineswegs die Basis repräsentierende Minderheit, als Kommunisten eben beschimpft worden sind - was entweder mit ihren unkonstruk- tiven "Verräter"-Parolen oder mit dem fortgeschrittenen Stand der Einigung oder auch mit beiden zu tun hatte. Um das erzielte Ergebnis als das wirklich nicht zu überbietende darzustellen, ist bisweilen auch ein S t r e i k von Nutzen: an dem, was die Arbeiter nach den großen Kämpfen zum Ende des alten Jahrzehnts beschert bekamen, hat mancher gemerkt, daß haargenau dasselbe vor dem Streik angeboten worden war - der ganze Unter- schied war wieder einmal ein rein sprachlicher: Ein solcher Streik will natürlich auch geplant sein nach Ort und Zeit: da gibt es "kampfstarke" Betriebe und Bezirke, die man antreten läßt, um zu beweisen, daß "trotz allem" am Schluß nicht mehr drin war. Da gibt es die sparsamen Punktstreiks, die sich zwar auf das Ergebnis nicht niederschlagen, aber eine m o r a l i s c h e W i r k u n g entfalten - insbesondere dann, wenn die Unterneh- mer zur Aussperrung schreiten. Kein einziger Streik der letzten Jahre hatte nämlich je den Zweck, die Forderung der Drucker, Me- taller oder Stahlarbeiter durchzusetzen; dafür waren sie in ihrem gesamten Ablauf aber als mächtige Demonstration geplant - f ü r d i e G e w e r k s c h a f t und ihr Recht, ganz tarifautonom zu verfahren, gegen die Willkür der Unternehmer, für ein Verbot der Aussperrung... Und die Erfolgsmeldungen sahen entsprechend aus: die Streitgegenstände kamen als die schönste Nebensache der Welt vor, ob sie nun "Arbeitszeitverkürzung", "Rationalisierungs- schutz" oder "Lohnprozente" hießen - bisweilen wurden sie auch in Form von Lügen gewürdigt: als "Einstieg in die 35-Stunden-Woche" wurde ein Urlaubstag verkauft, den die Unternehmer schon vor den Verhandlungen abgeschrieben hatten; als "Rationalisierungsschutz" wurden Vereinbarungen vorgelegt, die den Lohnabbau, den Leistungsaufbau und die stufenweise Entlassung kleinlichst regeln; und in der Hochrechnung von Prozenten kannten sich Gewerkschaftsfunktionäre schon vor der Verbreitung der Ta- schenrechner aus. Wenn in den Vorständen der DGB-Gewerkschaften einmal aus dem e i n e n Grund ein Arbeitskampf angeleiert wird, so gerät er für die Beteiligten stets zum O p f e r. Da es um die Anerken- nung des DGB beim "Sozialpartner" geht, bleiben eben die Interes- sen der "Betroffenen" auf der Strecke - allerdings nicht ohne weiterhin das Material für die Legitimation der Gewerkschaft zu liefern. Und das nicht nur in ihrem Auftreten nach außen hin - die benützte Basis muß über ihren Schaden hinaus auch noch die gewerkschaftsoffizielle Deutung zur Kenntnis nehmen. Und zwar theoretisch wie praktisch. Erstens ist im DGB '80 nichts so selbstverständlich wie die Weisheit, daß ein Arbeitskampf eine einzige Entsagung ist, die man dem Arbeiter hoch anrechnen muß: "Der Streik, die gemeinsame Arbeitsniederlegung, ist das wirksam- ste Mittel unseres Kampfes um bessere Arbeits- und Lebensbedin- gungen. Wir reißen ihn nicht leichtfertig vom Zaun. Er ist mit hohen persönlichen Opfern und großen Risiken für die Arbeitnehmer und ihre Familien verbunden. Sie müssen Einkommenseinbußen und Maßregelungen befürchten. Aber die Arbeitnehmer nehmen diese Op- fer freiwillig auf sich, denn sie wissen, daß es keine Alternative gibt." Ein DGB-Vorsitzender geht vorsichtig mit der Verbesserung von Ar- beits- und Lebensbedingungen um, weil das "wirksamste Mittel" da- für gar nicht preiswert ist für die Herren Arbeitnehmer - zumin- dest wenn es sich um den Streik neuen Typs handelt, zu dem die DGB-Gewerkschaften ihre Mitglieder antreten lassen: der weist in seinen Resultaten tatsächlich die Qualitäten auf, die seinen Ge- brauch fragwürdig machen. Auch innergewerkschaftlich ist diese Lehre auf praktische Erfahrungen gestützt. Nach ihrem großen Kampf konnte schon damals die IG Druck und Papier nicht umhin, einen 13. Monatsbeitrag einzuziehen, der für viele Mitglieder ei- ner der letzten gewesen ist. Die einen sind aus Ärger ausgetre- ten, weil sie keinen Sinn fürs Streikopfer mehr aufbrachten; die anderen sind dem großartigen "Rationalisierungsschutz" zum Opfer gefallen. Auch die IG Metall bemüht sich seit ihren letzten Schlachten um die Zahlungsmoral ihrer Schäfchen; dazu ist ihr als Motto "Stärke kostet Geld" eingefallen, das sie anläßlich der er- sten Tarifrunde im neuen Jahrzehnt wieder aufgewärmt hat, ob- gleich die Kampagne "Aussperrung verstößt gegen Menschenwürde" vordergründig gar nichts damit zu tun zu haben scheint. Hinter- gründig aber war gemeint, daß Aussperrung gegen die Gewerk- schaftskasse verstößt, was durch detaillierte Berechnung der Ko- sten dargelegt wurde, die der Arbeitskampf im Vorjahr der IG Me- tall verursacht hat: "Arbeitskämpfe sind teuer. Deshalb: Zahl den ehrlichen Beitrag". So beseitigt man den Irrtum, daß Arbeits- kämpfe den Proleten etwas bringen und die Gewerkschaftskasse da- für da ist, sie erfolgreich zu führen; und für alle Uneinsichti- gen, die mit der Aussperrungskampagne immer noch nichts Rechtes anzufangen wußten, wurde der Kampf um die Menschenwürde der Ge- werkschaft mit dem schönen Bekenntnis begründet, dass schon H.O. Vetter abgelegt hatte; von wegen leichtfertig um ein angenehmeres Leben streiken und sich so der "Sozialpartnerschaft" unwürdig er- weisen! S o argumentiert ein DGB gegen die Aussperrung: "Schaut euch die Tarifabschlüsse an. Wir haben maßgehalten. Aus Verantwortung fürs Ganze." Daraus folgt natürlich ohne weiteres der originelle Aufruf zur Solidarität, die irgendwen ja stark machen muß: "Wir können den Milliarden der Unternehmerseite unsere Millionen Mitglieder gegenüberstellen. Dann sind wir stärker. Darum wird jeder, der seine Gewerkschaft stärker macht, selbst stärker. Die Möglichkeit der Aussperrung muß vom Tisch." Die Tarifrunde, in der dies und manches andere gesagt wurde, en- dete sang- und klanglos mit 6,8%, nachdem zu Anfang alle Proleten haargenau 10,4% gebraucht hatten und dazwischen der "provozierende Vorschlag" der Metall-Kapitalisten dreimal zurück- gewiesen worden war. Das Problem mit den Politikern, die eventu- ell hätten annehmen können, daß die Metaller tatsächlich ein Vor- gehen des Staates gegen die aussperrenden Unternehmer verlangen und deswegen auf den Putz hauen, löste Eugen Loderer. Er rettete die Glaubwürdigkeit des DGB, des mitbestimmenden Sozialpartners, auf geniale Art. Unter der Überschrift "Die Aussperrung muß ver- boten werden" ließ er die Welt wissen: "Wir fordern das Verbot der Aussperrung heute nicht vom Gesetzge- ber, weil wir konservativen Politikern keinen Vorwand liefern wollen für Spielereien mit einem Verbändegesetz." So war wieder einmal alles geklärt: die "ehrlichen Beiträge" wa- ren für die Aussperrungskampagne verpulvert, die Staatsmänner wa- ren beruhigt, weil informiert, wie's gemeint war, die Gewerk- schaft hatte ihr Ansehen als Sozialpartner gefestigt und die Proleten hatten ihre 6,8%. Im nächsten Jahr reicht's zwar auch wieder hinten und vorne nicht - aber ein Streik mit "hohen persönlichen Opfern" für das "Recht auf Streik" und gegen das Unrecht der Aussperrung und für die Tarifautonomie überhaupt und... und... ist ihnen wenigstens erspart geblieben. Aus den Gepflogenheiten des alljährlichen ökonomischen Kampfes geht zweierlei hervor: 1. Auch die Geldsorgen der Arbeiter, ihre Schwierigkeiten mit den während der Zeit der Friedenspflicht ständig erhöhten Leistungen, mit den Konsequenzen der offiziellen und ganz nebenbei abgewic- kelten Rationalisierung, mit den kleinen und großen Schikanen am Arbeitsplatz - kurz: alle G r ü n d e für den gewerkschaftli- chen Kampf nützt der DGB schamlos für seine politischen Ambitio- nen aus. Nicht genug, daß der Gesetzgeber dem Gebrauch d e r Waffe des Arbeitskampf entscheidende Grenzen gesetzt hat und sich in seiner freiheitlichen Institution der Tarifautonomie alles an- dere als "heraushält" aus dem ökonomischen Interessengegensatz; die Gewerkschaften verzichten auch auf den Gebrauch der ihnen of- fenstehenden Mittel, um den Arbeitern ihr Zurechtkommen in der Welt von Lohn und Leistung erträglicher zu gestalten. Der "Wirtschaft" kann das nur zugute kommen, weil ihr sämtliche Tech- niken der Erpressung mit den verschiedenen Lohnformen zur freien Verfügung stehen; die Ausnützung und Beförderung der Konkurrenz unter den Arbeitern werden durch keine von den Koalitionen erzwungenen Schranken gehemmt. 2. Dieser politische Umgang mit den ökonomischen Interessen und Bedürfnissen der Proleten beweist das F e h l e n e i n e s t r a d e u n i o n i s t i s c h e n B e w u ß t s e i n s in der westdeutschen Arbeiterklasse. Den Phrasen von der Gemeinsam- keit, die "stark" macht, den Solidaritätsappellen, die aus den Redaktionen des DGB mit schöner Regelmäßigkeit ertönen, um die Mitglieder wieder einmal an ihre Pflichten ihrem Verein gegenüber zu erinnern, stehen keine Aktionen gegenüber, durch die Mitglie- der ihre Funktionäre daran erinnern, daß sie für das Funktionie- ren eines erfolgreichen Kampfes da wären. In den DGB-Vereinen ist es nicht Sitte, darauf zu dringen, daß die Organisation ein M i t t e l z u r A b w e h r der Angriffe auf Lohn und Repro- duktion ist und die freie Handhabe der Konkurrenz durch die Un- ternehmer zu stören hat. Diese Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz, bei der immer die, d i e s i c h v e r- g l e i c h e n l a s s e n, die Dummen sind, wird von den Kapitalisten so bequem betrieben, weil die westdeutschen Arbeiter a u f i h r e A r b e i t setzen und sich damit zu- friedengeben, s i c h i n d e r K o n k u r r e n z zu be- währen, als wäre sie i h r Mittel. Daraus, daß in den meisten Betrieben der Anteil des Arbeitslohns, der nicht tariflich fest- gesetzt ist, sondern als "Bonus", als werkspezifische Zulage oder Prämie gezahlt wird, mehr als ein Drittel des Lohnes ausmacht, hat in der Gewerkschaft dieser Republik noch niemand den Schluß gezogen (und entsprechende Schritte unternommen), daß die Unter- nehmer mehr zahlen können, als sie in Tarifverhandlungen zugeste- hen. Der umgekehrte Schluß wird p r a k t i z i e r t: die in den Tarifrunden ausgehandelten Prozente werden ohne große Aufre- gung zur Kenntnis genommen, da sie ohnehin nicht übermäßig "ins Gewicht fallen" - einmal wegen ihrer pfennigmäßigen Ausmaße, zum anderen, weil man ja über Haustarife und Sonderzahlungen das We- sentliche "herausholt". Die Tatsache, daß damit bedeutende Lohn- teile dem "Arbeitgeber" zur Disposition stehen, so daß er sie bei schlechtem Geschäftsgang streicht und bei gutem in gar nicht lu- stige Sonderleistungen ummünzt, zeigt, was alle wissen, aber nicht wahrhaben wollen. Für die "Sonderzahlungen" wird schon am ersten Tag nach der Einstellung Besonderes verlangt, und sobald man die "Betriebstreue" nicht mehr auszuhalten in der Lage ist, stellt der Arbeitsmarkt mit seinen Angeboten die "Abqualifizie- rung" fest. Schon an dieser elementaren Lohnfrage, und noch deutlicher an den M a n t e l t a r i f v e r t r ä g e n, die Gewerkschafter völ- lig unbehelligt von den Mitgliedern aushandeln, wird deutlich, worauf das Zusammenspiel von Führung und Basis beruht: die Vereinbahrungen über Lohngruppen, Einstufung im Zuge von Rationalisierungen, Kündigungsschutz etc. sind allesamt frei von irgendwelchen Auflagen für die Unternehmerseite und lesen sich nicht nur wie Ausführungsbestimmungen des DGB - ohne "betriebliche Notwendigkeit", "triftige Gründe" braucht wirklich keiner entlassen zu werden, weshalb die Gewerkschaften diese Bestimmung gleich den Kapitalisten als "Auflage" reinsemmeln -, so daß die "Betroffenen" tatsächlich so genannt zu werden verdienen. Der Einsatz der eigenen A r b e i t s k r a f t als Mittel, in der Welt zu etwas zu kommen, findet bei den westdeutschen Proleten ohne die trade-unionistische Bemühung statt, sich um die B e d i n g u n g e n d e r K o n k u r r e n z zu kümmern, also durch gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen Verbesserungen auf diesem Felde zu erzwingen. Deshalb tritt ihnen außer dem S o z i a l s t a a t, dem sie ihre Stimme geben dürfen, damit er die Konkurrenz der Klassen und die in ihnen samt ihren Ergebnissen verwaltet, auch noch i h r e G e w e r k s c h a f t als eine Institution gegenüber, die im berechnenden Blick auf ihre Interessen ständig für den - gar nicht weiten - Rahmen sorgt, innerhalb dessen sie mit viel Leistung für ganz wenig ökonomischen Erfolg antreten können. In den bereits erwähnten agitatorischen Versuchen, die Funktio- näre und jene "aktiven Gewerkschafter" bei jeder unpassenden Ge- legenheit mündlich und schriftlich starten, liegt keineswegs die Widerlegung unseres Urteils vor, sondern seine peinliche Bestäti- gung. Die erwähnten Argumente der Mitgliederwerbung sowie die an- gesichts der nahenden Tarifrunde durchaus wirksame Aufforderung, den Beitrag zu zahlen, sind ja der eindringliche Beleg, wie eine Klassenorganisation mit lauter Karteileichen funktioniert. Falls "es" zu einem Arbeitskampf kommt, lautet der Wink mit dem Zaun- pfahl, ist für den Schaden der ganz allein zuständig, der seine Gewerkschaft nicht "stark" macht. In den entsprechenden Schriften und aufmunternden Reden wird mit der größten Selbstverständlich- keit davon ausgegangen, daß sich die Basis ohnehin nicht klar darüber ist, daß und wofür sie streiken wird; ebenso selbstver- ständlich wird ein Arbeitskampf als d r o h e n d e r S c h a d e n gehandelt, auf den man sich einzustellen hat. Und die Rechnung geht - ihrer Grundlage sicher - jedesmal auf: denn anläßlich der harten Konsequenzen für Säumige - mit dem, was beim Streik an V o r t e i l e n herauskommt, wirbt heute kein Funktionär - behandeln die zur Kasse gebetenen Karteileichen ihre Gewerkschaft tatsächlich wie eine V e r s i c h e r u n g, wo- rauf es ihren Mahnern auch ankommt! Das kann sich die Basis näm- lich durchaus vorstellen, daß sie von den Maßnahmen ihrer Führung b e t r o f f e n wird. Die Führung ihrerseits hat in diesen gelungenen Techniken deut- scher Gewerkschaftsdemokratie den Weg entdeckt, eine gar nicht trade-unionistisch gesinnte Arbeiterschaft für ihre Gewerk- schaftspolitik zu funktionalisieren. Denn seit ihrer konzessio- nierten Gründung ist ihr an einer E r z e u g u n g gewerk- schaftlicher Aktivität, die so genannt zu werden verdient, nicht gelegen. Ihr politisches Programm, der Ehrgeiz, an der Verwaltung eines erfolgreichen Klassenstaats b e t e i l i g t zu sein, hat die maßgeblichen Männer der ersten und sämtlicher folgenden Stunden nie über das Grund- und Hauptargument hinausgehen lassen, das da lautet: die Arbeiter b r a u c h e n eine Gewerkschaft, wir sind sie, und deshalb müssen s i e u n s unterstützen! Da- für, daß die Proleten ein Bewußtsein von der Notwendigkeit der Gewerkschaft kriegen, wurde gesorgt: erstens dadurch, daß es sie g a b, und zweitens durch die T a t e n und U n t e r l a s s u n g e n, die so manchem klarmachten, daß man am DGB nicht vorbeikommt. Ob dabei der s c h l e c h t e M a t e r i a l i s m u s der Verringerung des Schadens oder sein großer Bruder, der g e w e r k s c h a f t l i c h e I d e a l i s m u s, eine größere Rolle spielte, ist ziemlich belanglos. Mag sein, daß zum Auftakt der "Erneuerung" die Be- mühung der Masche "Solidarität" noch nicht so lächerlich war wie heute, wo sie klar als Appell zur Unterstützung des Vereins auf- tritt, dem die Frage nach seinem Nutzen gleich als Kritik und deshalb "Spaltung" vorkommt. Falsch ist die Beschwörung dieses I d e a l s d e r K o n k u r r e n z immer, da es in seinem Verzicht auf die Gründe und Zwecke, die Arbeiter haben fürs Zu- sammenhalten, von vorneherein das individuelle Interesse zurück- weist. Eine Organisation, in der es sich nicht nur zu sein, son- dern auch mitzumischen lohnt, bedarf zur Überzeugung von Außen- stehenden wie Mitgliedern lediglich die Angabe von gemeinschaft- lichen Zielen, die eben auch die der Beteiligten s i n d - und schon kann sie sich der Vorschläge, wie diese Ziele durch gemein- schaftliche Aktion in die Tat umzusetzen sind, ebensowenig erweh- ren wie des Einsatzes der Leute, die wissen warum. Die albernen Redensarten wie "Gemeinsam sind wir stark!" sind deshalb einer- seits kein Argument für die Gewerkschaft, andererseits das Zeug- nis dafür, daß die Urheber dieser Parolen lieber nicht nach ihrem N u t z e n gefragt werden wollen (der ja bekanntlich in der Ge- schichte liegt!). Heute, da die Beschwörung der Solidarität am 1. Mai für eine staatliche Feierstunde taugt, in Schulungsmappen fünfhundertmal vorkommt und auch schon für die richtige Stimmab- gabe bei der Europawahl herhalten muß, sollte eigentlich niemand Schwierigkeiten haben, den Sinn der Botschaft zu entziffern. Sooft an einem Ort ein paar Gewerkschafter zusammenkommen, weil sie zusammengerufen worden sind für das neueste Projekt ihrer Führung, steht das Bekenntnis nur noch für das Opfer, auf das sich alle verpflichten sollen. Lächerlich macht sich das Getue aber bei der Basis trotzdem nicht, weil die ohnehin dem ganzen Betrieb reserviert gegenübersteht - daß es aber lächerlich ist, steht außer Zweifel. Wenn ein Gewerkschaftsfunktionär auf einer Streikversammlung, auf der die Basis bereits an fünfzig Tischen zum Schafkopf übergegangen ist, weil es weder etwas zum Beraten noch zum Feiern gab - das Ergebnis des im Gang befindlichen Ar- beitskampfes kannten alle -, die "Spaltung" der Unternehmer und die "Solidarität" bei uns mit Freude kundgetan hat, so legt diese Tat sogar den Verdacht des Z y n i s m u s nahe, der in der ge- werkschaftlichen Abwicklung von Tarifrunden ja zu seinem Recht kommt. Oder sollte der gute Mann wirklich noch auf keiner Schu- lung erfahren haben, daß die G e m e i n s a m k e i t d e s I n t e r e s s e s die Kapitalisten über alle Konkurrenz hinweg und ganz ohne die hohe Würde der "Solidarität" e i n t? Daß die gewerkschaftliche Aktivität an der Basis mit gewissen Problemen zu kämpfen hat, ficht die Führung nicht weiter an: für den Posten eines Vertrauensmannes läßt sich einer durchaus auch mit dem Hinweis werben, daß er kaum etwas zu tun bekomme. Ist so ein Basismensch ernsthaft interessiert daran, was wieder läuft, hat er in vielen Betrieben seine liebe Mühe und Not, um wenig- stens die Gewerkschaftsblättchen zu kriegen. Daß einer aus dem Vertrauensleutekörper die Geschehnisse im Betrieb beurteilt und Wert darauf legt, dieses Urteil seinen lieben Kollegen ans Herz zu legen, zählt zu den Ausnahmen an der bundesdeutschen Basis. Es soll sogar vorkommen, daß sich so einer schnell den Kommunismus- verdacht einhandelt und seine Argumente allein deshalb an Über- zeugungskraft verlieren. Zur Regel sollte die Ausnahme allerdings nach dem Willen der Führung zumindest in einer Hinsicht werden: bei der Unterstützung des B e t r i e b s r a t s, jener Ver- tretung der Arbeiter mitten im Betrieb, ohne die der DGB nicht leben will und für deren Durch- und Besetzung er manchen Strauß ausficht. Getreu der allgemeinen Linie in seiner Tarifpolitik, die er mit viel Verantwortung und Augenmaß abwickelt, damit die Wirtschaft, von der die Proleten schließlich abhängen, keine all- zugroßen Erschütterungen hinnehmen muß, hat sich der schwarz-rot- goldene Gewerkschaftsbund Sorgen gemacht um die K o n f l i k t e, die sich i m Betrieb störend auf die Arbeit auswirken könnten. Mit dem Streit um das Betriebsverfassungsge- setz hat der DGB dem Staat eine Institution abgerungen, die es in sich hat. Die rücksichtslose Ausnützung der Arbeitskraft zwischen den Tarifrunden dient in Westdeutschland weder der Basis noch der Führung als Ausgangspunkt für die Überlegung, wie man sich gegen diese unter dem Schutz der "Friedenspflicht" stattfindende Schi- kanierung der Proleten zur Wehr setzt; die Führung hat sich aber immerhin darum gekümmert, daß die unvermeidlichen Reibereien nicht zur "Störung des Betriebsfriedens" ausarten, so daß sich jetzt ein Arbeiter an den Betriebsrat wenden kann mit allerlei Beschwerden. Der kann dann prüfen, ob er in dem "Fall" ein R e c h t hat, das übergangen worden ist, und zum Arbeitsgericht klagen gehen. Auch auf diesem Gebiet tritt dem Mann von der Basis seine Gewerkschaft als eine I n s t a n z gegenüber, die sich keineswegs p a r t e i l i c h seiner Probleme annimmt, sondern alles gemäß den Regeln und Richtlinien des Betriebsverfassungsge- setzes prüft. Diese Prüfung läuft sehr korrekt ab, wie das nun einmal in juristischen Fragen - und zu solchen werden alle ökono- mischen Gegensätze - zu sein pflegt, und garantiert nicht nur, daß der Produktionsprozeß von jeglichem Krach verschont bleibt. Die Gewerkschaft hat mit diesem basisnahen Instrument der Mitbe- stimmung tatsächlich ihren Fuß im Betrieb, in den sie niemals zur Vermeidung von Schäden bei ihrer Basis hineinwollte. So nimmt der DGB, den man bei Betriebsratswahlen schon wieder unheimlich stark machen kann, an der Regelung der Konkurrenz auch in der Fabrik teil, befindet über Urlaubspläne, Entlassungen, Sonderschichten usw. fröhlich m i t, wobei ihm die wichtige Rolle zufällt, von alledem dem Kapital die N o t w e n d i g k e i t und Z u l ä s s i g k e i t zu attestieren. Die Basis tut gut daran, sich mit dem Betriebsrat gut zu stellen - denn im Falle eines Falles, hat man einmal eine Sicherheitsvorschrift nicht beachtet oder eins zu viel getrunken, ist man auf seine Sympathie ziemlich angewiesen. Außer der offiziellen Betriebsleitung ist der Arbei- ter aufgrund der bundesdeutschen Betriebsverfassung auch noch mit seiner gewerkschaftlichen Co-Leitung konfrontiert, von der er - von den linken Ausnahmen abgesehen - das ganze Jahr zu hören kriegt, daß s e i n I n t e r e s s e weitgehend bis ganz mit dem des Betriebs zusammenfällt. Leider ist auch über die linken Betriebsräte wenig Rühmliches zu berichten: auch sie werden nicht gewählt, weil die Basis mit ihrer Hilfe etwas durchsetzen will bzw. zu können glaubt; im klaren Bewußtsein über die einschlägi- gen Kompetenzen verhelfen manche Belegschaften ihnen zu ihrem Amt lediglich mit der Hoffnung, daß sie "etwas Dampf" machen sollen - getrennt von den Leuten in den Abteilungen und ohne sie weiter zu belästigen... Es ist schon so: noch nie war eine Gewerkschaft so vollständig erfolgreich wie der DGB von heute - eben mit s e i n e m P r o g r a m m. Sein Ehrgeiz war von Anfang an die M i t b e s t i m m u n g: als anerkannte Repräsentanz der Ar- beiter mitwirken zu dürfen bei der Abwicklung "der Wirtschaft" und bei der demokratischer Regelung der dabei nun einmal unver- meidlichen Konflikte - nun sitzen seine Funktionäre in Betriebs- und Aufsichtsräten und als unverzichtbarer Beraterstab in den Vorzimmern sämtlicher Minister. Sein höchster Zweck war stets die politische und gesellschaftliche A n e r k e n n u n g seiner selbstlosen Dienste am Gelingen des demokratischen Klassenstaats - nun darf er auf seinen Veranstaltungen, vom 1. Mai bis zu sei- nen großen Kongressen und kleinen Kulturfestspielen, die Auf- tritte politischer Größen jeder Couleur verbuchen, die nichts als Lobendes über ihn zu sagen wissen. Seine Liebe galt stets dem Ideal einer p o l i t i s c h e n E m a n z i p a t i o n der Arbeiterklasse, wie sie perfekter und demokratischer nicht mehr zu denken ist - nun ist sein Mit-"Erbe der Arbeiterbewegung" die erfolgreich den Klassenstaat tragende Partei und er selbst ein einziges demokratisches Geschenk an die Arbeiterklasse, weil diese sich in ihm gleich noch ein zweites Mal und bis in die letzten Widrigkeiten des Arbeitsplatzes hinein v e r w a l t e t - pardon: demokratisch selbstverwaltet sieht. Und schließlich und vor allem: Genau für diese edlen Zwecke brauchte der DGB die westdeutschen Arbeiter - und er hat sie bekommen, genau so, wie es sich für sein Programm gehört. Westdeutsche Arbeiter finden nichts dabei, daß ihre Gewerkschaft ihnen als selbstlose Verwal- terin ihrer materiellen Interessen im Namen des Gemeinwohls ent- gegentritt: sie konzedieren ihr ohne Zögern ein lückenloses Mono- pol auf alles, was mit dem Geltendmachen ihrer gemeinsamen Anlie- gen zu tun hat, und haben es längst gelernt, mit d i e s e m Monopol zu l e b e n. Auch als langjährige Mitglieder reden sie, die ohne Umstände von sich als "wir Deutsche" reden, von "ihrer" Gewerkschaft in der 3. Person, begutachten die Taten "ihrer" Führung, die sie aus der Zeitung erfahren, mit ebensoviel Engagement wie alles, was sie aus der Zeitung erfahren - und sind gerührt, wenn sie nach 50-jähriger Beitragszahlung von ihrem Vor- sitzenden ein herzliches "Danke schön" zu hören bekommen. So ein- verstanden mit dieser Gewerkschaft sind nur Arbeiter, die an ih- rem Klassenstaat keine Kritik haben und sich durch ihre Ausbeu- tung zu nichts anderem anspornen lassen als zu mehr Einsatz in der Konkurrenz. III Der Geist der Intelligenz ------------------------- 1. Von der Geistesfreiheit -------------------------- Wie es sich für einen modernen Staat gehört, der für den Fort- schritt seiner kapitalistischen Industrie Sorge trägt, unterhält auch die BRD Universitäten, aus denen das naturwissenschaftliche und technologische Wissen im richtigen Maß unter genug Leute kommt. Daß brauchbares Wissen auf diesem Gebiet objektiv sein muß, weil sich die Natur nicht nach Ideologien und nach der Bibel richtet, ist zwar keine Entdeckung des Bundeskanzlers und der Un- ternehmerverbände, aber irgendwie hat sich bis zu ihnen herumge- sprochen, daß eine Beschränkung des Geistes durch irgendwelche Vorschriften sich nur ungünstig auf die Brauchbarkeit der Ergeb- nisse auswirken würde. Also ist die F r e i h e i t d e r W i s s e n s c h a f t garantiert und die Wissenschaftler tun für gutes Geld ihr Bestes. Daß die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler gleich auch noch mit der Freiheit bedacht worden sind, denken zu dürfen, was ihnen einfällt - auch sie werden weder vom Parlament noch vom Bi- schof zensiert -, ist allerhand. Immerhin geht der Staat damit das Risiko ein, daß ein halber Berufsstand, den er dazu noch selbst bezahlt, nichts anderes tut, als der wissenslustigen Ju- gend die bürgerliche Produktionsweise, ihre politische Herrschaft sowie deren Auswirkungen aufs Gemüt und die schönen Künste zu er- klären. Doch auch in diesen Abteilungen enttäuschen ihn die Wis- senschaftler nicht und tun für gutes Geld unser Bestes. Ihnen ist sofort aufgefallen, daß ihr Auftrag unmöglich darin be- stehen kann, für den Staat W i s s e n herbeizuschaffen. Was sollte der mit Wissen über sich anstellen? Schließlich ist er auch ohne wissenschaftliches Gutachten zustandegekommen und hält sich ganz gut über Wasser, sogar unter Billigung seiner Unterta- nen. So ist auch schnell Klarheit darüber vorhanden gewesen, daß in den Betrachtungen des geistig-gesellschaftlichen Lebens ein ganz anderes Vorgehen fällig ist, daß es einer eigenen L o g i k d e r S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n bedarf, die sich im Vergleich zu der von den naturwissenschaftlichen Kollegen ei- nigermaßen bescheiden ausnimmt. Sie maßt sich erst gar nicht an, die besichtigte Gesellschaft oder wenigstens eine Abteilung von ihr zu erklären. Das verbietet doch - wenn schon nicht der Kanz- ler - der G e g e n s t a n d. Soviel weiß man nämlich schon über ihn und von Max Weber, aber auch von Habermas und dem Öster- reicher, daß ein U r t e i l in Sachen Politik und Wirtschaft immer ganz leicht in ein W e r t u r t e i l ausartet. Und ebenso wie sich die Kollegen Naturwirte zurückhalten mit vor- schneller Kritik an Bäumen und Sträuchern, sollten auch Staats-, Volks- und Kunstwirte vorsichtig sein. Also lautet der Beschluß, Werturteile wie das folgende etwa: "Die sozialstaatlichen Maßnah- men der Regierung gelten der Brauchbarkeit der Klasse, die von ihrer Arbeit fürs Kapital lebt - und diese Maßnahmen bekommen den Angehörigen dieser Klasse nicht gut." lieber bleiben zu lassen; dafür soll nur so Zeug zu Papier gebracht werden wie: "Am Sozial- staat wird deutlich, daß die von Marx im 19. Jahrhundert nicht ganz zu Unrecht gegeißelte Ausbeutung heute überwunden ist; Gefahren allerdings gibt es auch in diesem Zusammenhang, weil das Versorgungsdenken überhand nimmt und der Staat schier zusammenbricht unter der Last der Ansprüche; außerdem erstickt die Allgegenwart des Sozialstaats den Freiheitsspielraum der Individuen." Und wenn dann doch, wie das mit dem Denken, auch dem falschen, nun einmal ist; einige Behauptungen zustandekommen, dann darf das schon wegen der Differenzen zwischen den verschiedenen Gelehrten nicht mißverstanden werden, so - hätte man eine "Lösung"! Was sich in diesem Bereich der Wissenschaft so zusammenläppert an Aussagen, das sind äußerst r e l a t i v e, eben immer durch ein I n t e r e s s e entstandene Theorien, die nie mit dem Anspruch schwanger gehen, die Sache zu treffen. So e i n f a c h wollen es sich die Wissenschaftler nicht machen, und von daher wissen sie auch ganz genau, daß ihr Gegenstand k o m p l e x ist und deshalb nicht nur eine Unzahl von Behauptungen über sich e r m ö g l i c h t - er v e r l a n g t geradezu aus seiner Natur heraus nach vielen Urteilen, eben nach so vielen, wie es M e t h o d e n gibt, ihn zu untersuchen. Wissenschaftlich gesprochen gehört sich ein P l u r a l i s m u s, ein fruchtbares Vielerlei von Gedanken, die aus ihrer Gegensätzlichkeit kein Aufhebens machen, sondern in der Gewißheit ihres Urhebers, nur dies und nicht das andere sehen und sagen zu wollen, Teil des großen Geschäfts Erkenntnis sind. Immerhin sind sie nicht von einem Diktator aufgefordert worden, gültige Erkenntnis abzuliefern. Im Auftrag der Demokratie ist es nur billig, auch die Wissenschaft d e m o k r a t i s c h zu betreiben. Denn wie es im Leben draußen ist, so hat es billigerweise auch im Reich des Geistes zuzugehen - wo käme man denn hin, wenn plötzlich einer daherkäme und wüßte, was Sache ist! So hat sich die Wissenschaft dazu durchgerungen, nichts mehr wis- sen zu wollen und sich stattdessen lieber demokratischer Sitten zu befleißigen; das P o l i t i s c h e daran ist, daß sie das Ideal der Gewalt, die T o l e r a n z, zur Richtschnur des theoetischen Fortschritts erklärt hat und gegenüber allen, die diesem Kriterium akademischen Wohlverhaltens gegenüber nachlässig werden, ein Ausschlußverfahren durchführt, das ganz ohne Widerle- gung von Argumenten, die Schuldfrage löst. Das S c h ö n e für die Wissenschaftler liegt allerdings darin, daß sie die ihnen ge- währte F r e i h e i t d e r W i s s e n s c h a f t als die F r e i h e i t d e s G e i s t e s praktizieren: wer B e s c h e i d e n h e i t an den Tag legt und mit dem Bekennt- nis zum dogmatischen Skeptizismus zeigt, daß er der Teilhabe an der Abteilung "Geist" würdig ist, der darf sich dann dem trostreichen Motto gemäß: "Es irrt der Mensch, solang' er strebt" ans freie Konstruieren höheren Blödsinns machen. Die kundige Deu- tung des staatlichen Gewährenlassens eröffnet einem Heer von Ge- genaufklärern mit ihrer devoten Haltung gegenüber der M a c h t das Reich der selbstzufriedenen Freiheit; ihren G e i s t kul- tivieren Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler ohne jede Be- schränkung, vor allem ohne jede Beschränkung durch die Gesetze der Logik, weil sie ihn nur mit der Prämisse betätigen, daß er der Sicherheit des Erkennens nie und nimmer fähig sei. Statt Wis- sen zu erarbeiten, von dem sich noch allemal herausstellt, wozu es taugt, verschreiben sie sich dem I d e a l der Nützlichkeit ihres Denkens - denn für überflüssig mögen sie sich trotz aller intellektueller Selbstbescheidung auch nicht halten. So gibt es außer völlig versponnenen "Hypothesen" und "Modellen" auch noch eine Diskussion über deren "Realismus", die natürlich die Frage, worüber zu Recht hinweg- und wovon nur vorläufig abgesehen wurde, auch nur aufwirft. Sogar über die mögliche A n w e n d- b a r k e i t von Konstrukten wird verhandelt, deren die Wirk- lichkeit noch lange nicht erreichender "Abstraktionsgrad" längst offiziell von den Urhebern zu Protokoll gegeben worden ist - aber im Irrealis kann ein Wissenschaftler schon einmal seinen D i e n s t für "die" Gesellschaft oder auch ihre Opfer ins Spiel bringen. Denn gerade der Gestus der "geistigen Ohnmacht" läßt sich offenbar besser ertragen, wenn die Unbrauchbarkeit des eigenen Zeugs um die A t t i t ü d e d e s D i e n e n s er- gänzt wird. Daß es nur affirmativer I d e a l i s m u s ist; was da zustandekommt, wenn Geistesriesen ihre Vermutungen über die Interaktion und Kommunikation, über Kompetenz und Performs, aber auch über die M ö g l i c h k e i t des Staates, des Wachstums usw. zu ganzen Irrsinnssystemen aufblasen, die von sich behaupten, vielleicht noch nicht einmal einen Gegenstand zu ha- ben, weil sie nur Methode sind, verlangt ihnen immer wieder das Bekenntnis ab, daß es sich immerhin um a f f i r m a t i v e n Idealismus handelt. Ein Nutzen für die Welt, so wie sie ist, und für die Interessen derer, die sich in ihr herumschlagen, ist zu- mindest beabsichtigt - und diese Absicht trägt sich auch gut als die Heuchelei vor, daß bisher noch nicht, aber künftig manch er- sprießliche praktische Konsequenz fällig sei. Völlig absurd ist angesichts solcher Leistungen auf dem Felde des Denkens die Un- terscheidung in rechte und linke Denker - der Unterschied besteht gar nicht in ihren Theorien, sondern in der P r ä t e n t i o n, welche die Wissenschaftler dem verehrten Publikum vorstellig ma- chen. Diese wird natürlich gepflegt, und zwar durch das Aufgrei- fen von A n l ä s s e n, an denen sich die Theorien den An- schein geben, ganz Aktuelles zu berühren und immer am Ball zu sein. K o n j u n k t u r b e w u ß t s e i n h a b e n s i e s c h o n, die Idealisten des eilfertigen Dienens - weshalb es auch einen Zeitgeist gibt! Der objektiven Funktion ihres Treibens tut die ganze Spinnerei im übrigen überhaupt keinen Abbruch. Denn die liegt ja nicht darin, auch nur irgendetwas aus der Welt von Staat und Kapital auf den Begriff zu bringen - schon der L u x u s, die Freiheit der Kri- terienlosigkeit, mit der an den deutschen Universitäten Gegen- stände, ach nein, P r o b l e m e für untersuchenswert erachtet werden, zeigt, daß solches nicht im Sinne des Erfinders und eben- sowenig im Sinne der studierten Elite liegt. Der unbedingte W i l l e z u r V e r s ö h n u n g mit der Gesellschaft, die einen freundlicherweise zum Denken über sich abkommandiert hat, exekutiert einen ganz anderen Zweck: der Demokratie samt ihren Grundlagen wird der Schein verschafft, an ihr sei irgendwie doch alles b e g r ü n d e t. Diesen Schein herzustellen, ist die große Aufgabe der Intelligenz, und sie nimmt sie auch ernst, in- dem sie ihre eingestandene Devotion, ihre Unsicherheit als über die gewöhnliche Sicht der Dinge weit hinausgehenden Durchblick durchaus zu verkaufen weiß. Den aus dieser Sphäre des freien Gei- stes Ausgeschlossenen bleibt der Trost, daß es Leute mit "Kompetenz" gibt in der deutschen Demokratie - und daß denen auch nichts Besseres einfällt, wenngleich vieles, was man kaum ver- steht. Dieser Wissenschaftsbetrieb ist einer Demokratie würdig, die sich viel auf die Zustimmung des freien Willens auch derer zugutehält, die nichts von ihr haben. Insofern der Schein, alles hätte seine guten Gründe, für einen demokratischen Betrieb Deutschlands n o t w e n d i g ist und in der Verteilung der Individuen auf die verschiedenen Klassen über die Ausbildung, wo es ebenfalls um "Wissen" geht, seinen festen Platz hat, wäre es auch ungerecht, die Intelligenz p a r a s i t ä r zu schimpfen. Daß es in Deutschland das Phänomen der "Wissenschaftsgläubigkeit" gibt und im Werbefernsehen noch jeder Scheiß mit einem Dr. ange- priesen wird, beweist doch, daß sie brauchbar sind, die Dichter und Denker... 2. Ein Blick in die akademische Werkstatt ----------------------------------------- verrät, daß die Auskünfte, die der bundesdeutsche Geist über die Welt im allgemeinen und sein Heimatland im besonderen gibt, ganz auf der Linie seiner freien Liebe zu seinem Gegenstand liegen und entsprechend schwachsinnig ausfallen. So mag mitten im Modell Deutschland keine Einführung in die W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t auf alberne Ge- schichten über Schiffbrüchige, die sich auf einer einsamen Insel über die Verteilung der letzten Kekse und Zigaretten einigen müs- sen, verzichten, um den gebildeten Verstand auf die Vorstellung festzulegen, die Welt der Ökonomie sei im Grunde eine einzige ge- waltige Anstrengung, durch so sinnreiche Erfindungen wie Tausch, Geld und Produktion mit dem unauflöslichen Menschheitsproblem ei- ner immerwährenden Knappheit an nützlichen Gütern, verglichen mit den je unersättlicheren menschlichen Bedürfnissen, in möglichst angenehmer und menschenfreundlicher Weise fertigzuwerden. Zwar fördert noch jeder aus der eignen Anschauung geschöpfte Einfall, der diese Vorstellung plausibel machen soll, deren genaues Gegenteil zutage, die triviale Wahrheit nämlich, daß von "Knappheit" im heutigen Kapitalismus überhaupt nur die Rede sein kann als der Beschränkung individueller Bedürfnisse, die durch den Preis der Waren, verglichen mit dem verfügbaren Einkommen, g e s e t z t wird. Die Idiotie, alle ökonomischen Errungen- schaften des Kapitalismus aus ihrem Nutzen für ein rein erfun- denes Verteilungsproblem abzuleiten, taugt eben nicht einmal mehr zu dem Zweck, den ihre Erfinder einst damit verfolgten, nämlich zur ideologischen Propagierung einer Wirtschaftsweise, die sich nichts als die Mehrung des Reichtums zum Zweck setzt. Der moderne wirtschaftswissenschaftliche Geist läßt sich aber durch die Absurdität der Fiktion, mit der er seine Theorie anheben läßt, nicht im geringsten beirren. Im Gegenteil, er hat sich eine methodologische Verabsolutierung seiner Knappheitsfiktion einfal- len lassen, die den einfachsten Forderungen des Verstandes offen Hohn spricht: Er läßt sein selbsterfundenes "Grundproblem allen Wirtschaftens" gar nicht als Wahrheit über wirkliche Verhältnisse gelten - die als dann mit Spekulationen über subjektive Wertprä- ferenzen und objektiven Grenznutzen "nachzuweisen" wären -, son- dern präsentiert sie als theoretische Setzung, die die wunder- schönen Gleichgewichtsmodelle der Wirtschaft, zu denen er sich von da aus aufschwingt, nicht etwa von vornherein desavouiert, sondern ganz umgekehrt dadurch g e r e c h t f e r t i g t und wissenschaftlich b e s t ä t i g t sein soll, daß sie für einen so gelungenen F o r t g a n g der Theorie zu g e b r a u- c h e n ist. Der tatsächliche Fortgang der Theorie sieht natür- lich entsprechend aus: Immer getreu der zum methodischen Prinzip verhimmelten ideologischen Fiktion, alles, was es im Kapitalismus gibt, sei nichts als ein sinnreicher Beitrag zur Lösung von "Problemen" des Wirtschaftens, erdenkt sie sich zu jedem ihrer Gegenstände eine mathematisch blitzsaubere und immer sehr komplexe Ungleichung, die durch den zu erklärenden Gegenstand zu einer einwandfreien Gleichung wird - und fertig ist dessen Erklärung. Daß nichts in der Welt des ökonomischen Nutzens, noch nicht einmal das gelungene Wachstum des bundesdeutschen Kapitals, seine Bestimmung darin hat, zu einem vielseitigen wirt- schaftlichen Gleichgewicht beizutragen, jedes wirtschaftswissen- schaftliche Modell sich also schon am Augenschein der tatsächli- chen Verhältnisse blamiert, bereitet dem modernen Geist wiederum keinen Verdruß. In seiner undogmatischen Art will er sein Modell gar nicht verstanden haben als Begriff dessen, was und wie es i s t, sondern als bloßes Hilfsmittel, um jener Instanz, die auf ihre Weise praktische Probleme mit dem Funktionieren der Volks- wirtschaft hat, mit sachverständigen Ratschlägen zur Seite zu stehen. Auch hier hat der freie zeitgenössische Geist keinerlei Skrupel der Art, der zugestandenermaßen fiktive Charakter seiner ökonomischen Modelle möchte die Richtigkeit der mit ihrer Hilfe erdachten praktischen Hinweise in Frage stellen, sondern denkt genau andersherum: Weil seine Modelle sich so trefflich dazu eig- nen, dem Zweck und den Idealen staatlicher Konjunkturpolitik einen überaus gelehrten Ausdruck zu geben, gelten sie ihm als be- währte Instrumente einer realitätsgerechten, praxisnahen, nützli- chen Wissenschaft. Er entnimmt ihnen die Gewißheit, daß in einer Volkswirtschaft alles eine Funktion von allem ist, erlaubt sich vom beobachteten Gang der Konkurrenz aus Mutmaßungen über deren zukünftige Erfolge - und ist nicht einmal enttäuscht, wenn seine Prognosen noch weiter daneben liegen als die der Regierung, die er beraten wollte. Denn dafür hat er noch ein letztes Mal seine alte Entschuldigung parat: Die Wahrheit über die bundesdeutsche Ökonomie sollten seine sachverständigen Ratschläge an die Regie- rung ja gar nicht sein, sondern nicht mehr und nicht weniger als O r i e n t i e r u n g s h i l f e n für die Praktiker, die letztendlich selber wissen müssen, welche Ziele sie unter welchen Bedingungen anstreben möchten - denn letztendlich beruht doch al- les auf den letztendlich nicht völlig berechenbaren Entscheidun- gen der vielen Millionen wirtschaftender Subjekte, welche erfolg- reich zu lenken letztendlich dem ebenso unergründlichen Genius der Politiker überlassen bleiben muß. Mit Bekenntnissen dieser Art zur Unmöglichkeit richtiger Erkenntnisse über den wirklichen Lauf der Welt beweist die moderne Wirtschaftswissenschaft, die angetreten war, die Wirtschaft der BRD als eine besonders kom- plexe Robinsonade zu erklären und ihr die Zukunft zu weisen, sich und der Welt ihren unerschütterlichen Realismus, damit natürlich vor allem umgekehrt die Unerschütterlichkeit ihrer theoretischen Leistungen, und deutet so selber die Botschaft, die sie der Welt hat bringen wollen: Sie wollte doch "nur" - das allerdings sehr ausgedehnt und nachdrücklich - darauf aufmerksam machen, daß man die Welt - und die BRD inmitten - sehr gut unter wirtschaftswis- senschaftlichen Gesichtspunkten, also so betrachten und begutach- ten kann, a l s o b sie die Lösung eines höchst komplizierten Knappheits- und Verteilungsproblems wäre; und damit sollte über die Realität nichts weiter behauptet sein als eben dies: daß sie sich, wenn man es so will, durchaus so v e r s t e h e n l ä ß t. Moderner volkswirtschaftlicher Geist fühlt sich deswe- gen sogar gedrängt, diese Betrachtungsweise - eben weil sie ihm so gut gefällt - auf alle möglichen Gegenstände anzuwenden, die normalerweise niemand zur Welt der harten ökonomischen Tatsachen rechnen würde: wenn man will, läßt das Schul- und Bildungswesen sich ebensogut als ein Problem des Nutzenoptimumsbetrachten, de- mokratische Wahlen auch, überhaupt die ganze Politik und warum eigentlich nicht auch - die Wissenschaft selbst? Über die Erklä- rung der kapitalistischen Ökonomie ist der moderne Geist in sei- ner volkswirtschaftlichen Ausprägung jedenfalls weit hinaus: er ist fortgeschritten zu einer M a n i e r, die W e l t i n s g e s a m t menschlich v e r s t ä n d l i c h zu machen - undogmatisch, versteht sich: als freibleibendes A n g e b o t. Wo schon die materialistischste unter den bürgerlichen Wissen- schaften sich selbst als Angebot zu einer philosophischen Sinn- stiftung präsentiert, da steht der moderne Geist in seinen ande- ren Disziplinen nicht zurück in der Kunst, die wissenschaftliche Behandlung eines Gegenstandes durch die gefällige Ausarbeitung einer Betrachtungsweise für alles und jedes zu ersetzen. P o l i t o l o g i s c h e Analysen der Bundesrepublik etwa be- ginnen weder mit einer Untersuchung des öffentlichen und politi- schen Lebens in diesem Staat noch mit der Darstellung des Ergeb- nisses einer derartigen Untersuchung, sondern mit der Frage nach der Fragestellung, vermittels derer man sich dieses Gegenstandes annehmen sollte: normativ oder empirisch-analytisch? idealtypi- sierend oder systemvergleichend? historisch oder systemtheore- tisch? unter dem Gesichtspunkt der "Loyalitätsbeschaffung" oder der "öffentlichen Daseinsvorsorge"? In jedem Falle steht, wie beim Ökonomen die Robinsonade, so beim Politologen, der in eine dieser Alternativen gekleidete Entschluß am Anfang, das bundes- deutsche Staatswesen auf ein vorgestelltes, überaus grundsätzli- ches Ordnungsproblem zu beziehen, zu dessen Lösung es gemacht sei. Dicht vor dem Jahr 2000, in einer Zeit, wo schon die "Kinderkrippen" staatliche Einrichtungen sind, wärmt eine ganze, sehr bedeutende Schule in der bundesdeutschen Politologie noch immer in jeder "Einführung ins Fach" die alten Ammenmärchen von der natürlicherweise höchst ordnungsfeindlichen "Bestie Mensch" wieder auf - ungerührt davon, daß heute, in einer total durchpo- litisierten Gesellschaft diesem Märchen noch der letzte Rest po- lemischer Ernsthaftigkeit abhanden gekommen ist, den es immerhin noch besaß, als ein Thomas Hobbes sich für die D u r c h s e t z u n g der Prinzipien des bürgerlichen Rechts- staates stark machte. Aber auf die Glaubwürdigkeit dieses "anthropologischen" Märchens kommt es der modernen Politologie auch gar nicht weiter an: wichtig ist es nur - und deswegen in aufgeklärten Politologenzirkeln auch entbehrlich - als Einstieg in den politologischen Grund- und Hauptgedanken, den Staat als sinnreiches System demokratischer Ordnungsstiftung aufzufassen. Von da ab stellt der Politologe die politische Welt konsequent auf den Kopf: Was immer die bundesdeutschen Parteien und Regie- rungen. sich einfallen lassen und praktizieren, um ihre Bürger wirksam für die Mehrung staatlicher Macht in Anspruch zu nehmen und die eigene Souveränität weltweit zu behaupten, wird bespro- chen als - je nach politischer Einstellung des Interpreten - mehr oder weniger gelungenes Bemühen um eine menschenwürdige Ordnung und deren Sicherung - vor allem gegen die verständnislosen Unter- tanen, die deswegen in manchen politologischen Analysen zu einem "Gefahrenmoment" - avancieren, von dem die politische Praxis sich nichts träumen läßt! -; und was immer die Bürger an moralischen und patriotischen Wahnsinnstaten vollbringen, um mit ihrer Herr- schaft einig zu bleiben, wird in demokratische Qualitäten und un- demokratische Mängel des bestehenden "Ordnungssystems" auseinan- dersortiert. Vom Resultat solcher Analyse - mal mehr eine Helden- sage vom Kampf verantwortlicher Demokraten gegen ein faschisti- sches "Erbe" und linke Umtriebe (Sontheimer), mal mehr ein mit bundesdeutschem Material ausgemaltes Bilderbuch einer wohlgeord- neten Ordnung und ihrer vorgeblichen Schwierigkeiten mit der Un- ordnung (Ellwein) - gesteht die Politologie selber ein, daß es sich um eine idyllische Fiktion handelt, mit dem eindringlichen Hinweis nämlich, daß schon ein politologisches I n s t u- m e n t a r i u m dazu gehört, die politische Welt so zu sehen. An handfesten Ratschlägen für die Praxis läßt die Theorie es dennoch nicht fehlen: Wenn sie sich einmal entschlossen hat, Herrschaft idealistisch als Ordnungsstreben zu betrachten, dann zerfällt ihr eben auch die beherrschte Menschheit ebenso idealistisch nicht etwa in Nutznießer, Opfer und Gegner der Herr- schaft, sondern in Freunde und Feinde der Ordnung; dann entschei- det sich die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie am nachprüfbaren Maß freudiger Zustimmung zu den Prinzipien der Ord- nung; und dann steht immerzu ein Kampf gegen die Lauheit und ein Vernichtungskampf gegen unsolidarische Kritiker des Gemeinwesens auf dem Programm. Dem fortgeschrittensten politologischen Zeit- geist macht da schon der Anschein von Intellektualität einen Men- schen verdächtig, ganz einfach weil Gegnerschaft gegen herr- schende Verhältnisse, so wenig sie das Geschäft bundesdeutscher Intellektueller tatsächlich ist, doch um die Benutzung des Intel- lekts nicht herumkommt - "dann schon lieber gar keine Intellektu- ellen", genauer: "Kein Futter für Giftnattern" (Sontheimer), lau- tet da die Devise eines politologisch gebildeten Intellektuellen in einer Zeit, wo die politische Herrschaft eben weder bei ihren Massen noch bei ihrer intellektuellen Elite auf Opposition oder Abneigung stößt. Darum ist aber nicht einmal dieser Ratschlag für die Praktiker der Politik etwas wert: die Kriterien für Berufs- verbote entnehmen sie "Erkenntnissen" anderer Art. So bleibt nur das Wohlwollen einem wissenschaftlichen Geist gegenüber, der mit solcher Entschiedenheit seine Reinigung von kritischen Elementen betreibt. Gerade wo er praktisch wirksam werden will erweist der politologische S a c h v e r s t a n d sich als die blanke Ent- schlossenheit des Geistes, mit der offenkundig absurden Erfindung schlimmster Gefahren für den Bestand der Herrschaft und mit eif- rigem Bemühen um Rezepte gegen diese "Gefahren" der Herrschaft sein Einverständnis abzustatten: S i c h s e l b s t macht der Geist als politologischer die Vorschrift, sich immerzu - und sei es um die Demokratie bestellt, wie es will - um das Gelingen der Herrschaft die brennendsten S o r g e n zu machen. Überhaupt nicht anders geht es zu, wenn die bundesdeutsche Wis- senschaft ihre Aufmerksamkeit den Subjekten des fröhlichen demo- kratischen und ökonomischen Treibens zuwendet. Die P s y c h o l o g i e steht nicht an, jeden guten Deutschen zu einem seelischen Krüppel zu erklären - aber nicht etwa, weil sie einen Begriff von der Verrücktheit der Anstrengungen hätte, die heutzutage nötig sind, aber auch lässig gebracht werden, um dem eigenen Dasein und seinen Verlaufsformen moralisch die Treue zu halten. Ihre Robinsonade besteht in einem Menschenbild, wonach ein "Ich" sein Leben lang genaugenommen mit nichts anderem als damit zu tun hat, die Begierden eines ihm irgendwie zugehörigen "Es" und die Vorschriften eines irgendwie in ihn hineinregieren- den "Über-Ichs" so zu vereinbaren, daß keiner von den dreien zu kurz kommt und das "Unbewußte", das auch irgendwie dazugehört, nicht vor lauter "Verdrängtem" überfließt; oder wenn es eine an- dere Schule sein soll, dann hat die psychologische Forschung eine pechschwarze "black box" zum Gegenstand, die je nach den Voraus- setzungen, die sie mitbringt, und je nach den Umständen auf "Reize" mal die gewünschten, mal unerwünschte "Reaktionen" an den Tag legt. Ob der normale Bundesbürger tatsächlich mehr das eine oder mehr das andere ist, gilt dem psychologischen Geist, so sehr er sich einerseits mit sich um seine diversen "Ansätze" streitet, andererseits insofern ziemlich gleich, als es ihm sowieso haupt- sächlich darauf ankommt, wann immer einen Menschen etwas stört oder er die Ordnung stört, i h n s e l b s t als die Quelle der einen wie der anderen Sorte Störung zu diagnostizieren; und für solche Diagnosen ist es wirklich egal, ob die wissenschaftli- che Phantasie sich in die "black box" noch eine Dreifaltigkeit von Es, Ich und Über-Ich hineinmalt oder nicht. Wann immer dann z.B. jemand eine Leistung nicht zustandebringt. die er sich vor- genommen hat, so ist der Psychologe mit dem Urteil bei der Hand, der Betreffende habe dann ja wohl n i c h t energisch und aus- schließlich genug g e w o l l t: auf Grund irgendwelcher Selbstentzweiungen in seinem Innern habe ihm die "Leistungs- motivation" gefehlt. Bricht ein Mensch unter den Leistungen, die er sich immerzu abverlangt, zusammen, dann teilt der Psychologe ihm mit, daß sein "seelischer Haushalt" für derlei Anspannungen nicht gemacht sei: auch in diesem Falle hat dem Willen seine innere Einigkeit mit sich gefehlt, so daß er nicht gemerkt hat, ab wann er sich selbst ü b e r s c h ä t z t hat. Beklagt sich einer über die Widrigkeiten seines Lebens, so bekommt er von seinem Psychologen die Auskunft, er sei "frustriert" - was so viel sagen will wie: er habe zum Gegenstand seines Ärgers noch nicht die richtige, nämlich eine solche E i n s t e l l u n g gefunden, die ihn diesen gelassen ertragen läßt. Und äußert wo- möglich jemand Angst, wozu es in der BRD wahrlich Anlässe genug gibt - sei es vor Prüfungen, der Schule oder dem Vorgesetzten, sei es vor Arbeitslosigkeit, Krieg oder deren Machern -, dann hat er sich damit, psychologisch betrachtet, als ein a n g s t a n f ä l l i g e r Typ entlarvt, und es hebt ein mun- terer Streit darüber an, ob seine Ängstlichkeit aus dem Verlust des Urvertrauens in der pränatalen Phase, aus allzuvielen Ver- stärkungen des Angstfaktors im Laufe seines Lebens ("Belohnung von Angstsymptomen") oder gar daraus zu erklären ist,- daß er sich im Sinne seiner gottlosen Zivilisation für allmächtig hält und diesen Glauben gefährdet sieht - so der Heuss-Preisträger H. E. Richter, der sogar F. J. Strauß p o l i t i s c h e Taten mit p s y c h o l o g i s c h e n Urteilen zu messen versteht. Das ist die modernste aller Kammerdienerperspektiven! Alle diese Phantastereien sollen dem Menschen von heute h e l f e n - und sie können sogar auch darauf rechnen, von den Betroffenen ernst genommen zu werden: Sich selbst an dem höheren Gesichtspunkt der Funktionalität fürs (Ganze zu messen; eigene Ansprüche für eine Störung zu erachten, oder jedenfalls für ein gewagtes Unterfan- gen, auf das man sich erst dadurch ein Recht erwirbt, daß man den wichtigsten Teil der eigenen Selbstverwirklichung in den Verzicht auf "übertriebene" Begierden setzt; also: den eigenen Willen we- der zu behaupten noch zu kritisieren, sondern zu r e l a t i v i e r e n, das ist ja für einen politisierten Men- schen alltägliche Übung, und deswegen leuchtet ihm prinzipiell jeder psychologische Einfall ein. Das heißt aber eben nichts an- deres, als daß die Psychologie die Analyse der Psyche - im allge- meinen wie im Kapitalismus - durch eine gelehrte Besprechung des Menschendaseins vom Standpunkt des politisierten Alltagsverstan- des aus erfolgreich ersetzt hat. Als Theorie und Technik der Selbstbeherrschung sticht sie die überkommene Seelsorge aus, weil ihr mit dem Anspruch auf die herzustellende F u n k t i o- n a l i t ä t, die im Individuum selbst ihren Maßstab hat, das Odium der moralischen Unterweisung nicht anhängt. Dabei will die moderne Psychologie selbst gar nicht für etwas anderes als eine sehr produktive fixe Idee genommen werden. Sie setzt ihren Stolz darein, für alle Gegenstände der Welt zuständig zu sein - inzwischen gibt es Psychologien der Kunst, der Politik, des Sports, des Wohnens, wovon eigentlich nicht? -, bescheidet sich dafür damit, dies alles eben nur unter "psychologischen Aspekten" zu analysieren, und ringt inzwischen mit der Frage, ob sie, als Fach genommen, überhaupt einen bestimmten Gegenstand hat und sich nicht vielmehr i h r e n wissenschaftlichen Gegenstand überhaupt erst erschafft, indem sie über was auch immer p s y c h o l o g i s c h nachdenkt - eine Frage, die sie nur hat, weil sie sich längst voll Stolz zu einem Selbstbewußtsein durchgerungen hat, dem menschlichen Geist gewisse A s p e k t e e r s c h l i e ß e n zu wollen. Und so geht es weiter in der Welt der Wissenschaft. Entschließt der Geist sich dazu, die Menschheit s o z i a l i s a t i o n s- t h e o r e t i s c h zu betrachten, so ist alles, was es in der BRD gibt, für ihn ein Beitrag dazu, daß die Individuen sich besser oder schlechter in "die Gesellschaft" fügen, sei es nun der Beruf des Vaters, die Aussprache des Lehrers, die Reklame für Motorräder oder das Gefängnis; womit natürlich weiter nichts gesagt sein soll, als daß man alle diese schönen Dinge eben auch so sehen kann. Mag der Geist es r o l l e n t h e o r e- t i s c h, so heftet er an alles, was die Leute treiben, das Urteil, daß es sich dabei um die Vollführung einer Rolle handle, und damit die "Interpretation" dieses Treibens als die Exekution eines vom Willen und den Zwecken seiner Agenten ziemlich unabhängigen Sinnzusammenhangs, wo eins das andere erfordert eine freibleibende Deutung selbstverständlich, denn vielleicht verliebt er sich schon im nächsten Moment in den "labeling approach" und behauptet über alles, was ihm eben noch als "Rolle" galt, alles Bestimmte daran sei doch bloß das zusammengefaßte Urteil anderer über einen Menschen. Er kann sich aber auch gleich ohne Umschweife zum Prinzip aller soziologischen Ansätze bekennen und die Abstraktion eines gesell- schaftlichen "Zusammenhangs schlechthin " entdecken. Dann gerät ihm die wirkliche Welt des bundesrepublikanischen Kapitalismus zu einer Sammlung von Beispielen für den Systemcharakter d e r Ge- sellschaft, und diesen Katalog benützt er zum Appell an die Vor- stellungskraft seiner Leser und Hörer, so daß der S y s t e m t h e o r i e der Anschein der Plausibilität nicht fehlt. Sehr konsequent entwickelt sich dieses Denken fort zur Frage nach der S t r u k t u r des Systems und entwickelt eine ganze Welt von Elementen, die ziemlich strukturbildende Eigen- schaften aufweisen und so für die Stabilität des Systems durch ihre F u n k t i o n geradestehen. Der Vorzug dieses Karussells von Kategorien besteht darin, daß es nicht nur als Theorie der Gesellschaft, als S o z i o l o g i e betrieben werden kann, sondern auf jeden Gegenstand, weil auf keinen, paßt. Der S t r u k t u r a l i s m u s ist aus einem linguistischen Ein- fall zu einer Mode und zu einem bleibenden wissenschaftlichen "Ansatz" gediehen, mit dem sich noch manche schöne Habilitations- schrift auseinandersetzen kann. Verschlägt es den wissenschaftli- chen Geist heute in die L i n g u i s t i k, so entschließt er sich, unbekümmert um jegliche Alltagserfahrung und sogar um den Tatbestand, daß Dozent und Student sich ausgezeichnet zu verste- hen pflegen, zu der gelehrten Auffassung, im Grunde sei die "Kommunikation", die "sprachliche" zumal, ein noch völlig ungelö- stes Problem und die so schön funktionierende BRD ein einziger Turmbau zu Babel, dessen Fortbestand trotz totaler Sprachver- wirrtheit eigentlich ein völliges Rätsel ist. Eine Abteilung wei- ter ist nicht die Uneindeutigkeit der Sprache das Hauptproblem der Menschheit, sondern die BRD und überhaupt die ganze Welt la- boriert daran herum, daß die Prinzipien der Arterhaltung beim Menschen noch zu tierisch funktionieren, deswegen nicht so recht zur Entdeckung der Kernspaltung passen und gemäß den Ratschlägen der E t h o l o g i e gewaltsam durch neue Formen der Unterord- nung des einzelnen unter das Ganze zu ersetzen sind. Unter dem Stichwort 'Kindererziehung' sind in der Pädagogik Stories über den Säugling als lebensuntüchigen Nestflüchter fällig, der deswe- gen um seiner selbst willen nach all den Ein- und Zurichtungen verlangt, mit denen die bürgerliche Gesellschaft ihren Nachwuchs auf ihre Zwecke festlegt - ein Gesichtspunkt, der sich in man- cherlei Abwandlungen nicht nur auf Lernen und Gehorchen von Kin- dern anwenden läßt, sondern ebensogut auf Ausgeflippte (= Sozial- pädagogik), Rentner (= Altenpädagogik), die Freizeit (= Freizeit- pädagogik), die Arbeitszeit (= Betriebspädagogik)... Nur zu ver- ständlich, daß da am Ende auch die B e t r i e b s w i r t- s c h a f t s l e h r e nicht bei dem trockenen Geschäft bleiben mag, die Weisheiten und Schlauheiten erfolgreichen Konkurrierens zu sammeln und durchzuexerzieren: als "e n t s c h e i- d u n g s o r i e n t i e r t e BWL" gestaltet sie ihre idyl- lischen Vorstellungen über die Konkurrenz der Kapitalisten, die sie für ein unablässiges Bemühen um eine gelingende betriebliche wie überbetriebliche Ordnung hält; ihre entsprechenden Vorschläge leitet sie konsequent aus sehr prinzipiellen Erwägungen über die Schwierigkeiten und Komplikationen menschlicher "Entschei- dungsprozesse schlechthin" ab und gefällt sich darin, den Betriebswirten ihr Metier als eine "ganze Menschenwelt in der Nußschale" - und der Menschheit, soweit sie es hören will, die Welt als eine einzige große Betriebswirtschaft aus lauter kleinen "Entscheidungsprozessen" - auszudeuten. Für den modernen wissenschaftlichen Zeitgeist ist es unerheblich, mit welchen Gegenständen er sich gerade beschäftigt. Den Bestim- mungen der diversen Gegenstände entnimmt er allemal nur Anhalts- punkte, um sich in seiner wohlgenützten Freiheit diverse Betrach- tungsweisen für die Welt im Ganzen zuzulegen; die Verschiedenheit der zu erklärenden Gegenstände hat er erfolgreich aufgelöst in eine Konkurrenz alternativer Weltanschauungen, die nur noch in ihrem Namen mit dem Gegenstand verknüpft sind, von dessen ideolo- gischer Betrachtung sie ausgegangen sind - früher einmal -, und an dem sie sich noch heute v o r z u g s w e i s e betätigen. Auf welche dieser Betrachtungsweisen der forschende Geist sich verlegt, ist für den Zweck der ganzen Veranstaltung ebenfalls un- erheblich: Jede Disziplin gibt dem modernen Verstand die nötigen Instrumente an die Hand, um sich ein B i l d von der W e l t zu machen, sich dabei als wissenschaftlich überlegener Durch- schauer der wirklichen Welt vorzukommen, zu schlauen Ratschlägen an die Adresse von jedermann, vor allem aber der obersten Macher überzugehen, die die praktische Wichtigkeit des jeweiligen Meters beweisen sollen. Im selben Atemzug werden Durchblick und Ratschlag als bloße Deutungsvorschläge deklariert, mit denen man sich der Welt gegenüber natürlich keinerlei praktische Autorität anmaßen wollte, - und bei alledem pflegt man von sich die gute Meinung zu behalten und zu verbreiten, exakt so gehe wissen- schaftliches Denken. Die Konkurrenz der Einzeldisziplinen ist so zwar von tiefster wechselseitiger V e r a c h t u n g getragen, da nämlich jede ihren Durchblick für den entweder tiefsten oder exaktesten oder umfassendsten oder realistischsten oder... sonst- wie hervorragendsten und auf jeden Fall allernützlichsten hält; sie ist dabei - und ebendeswegen - aber auch eine sehr friedliche Angelegenheit, weil von vornherein kein Wissenschaftler auf die Idee kommt, den Spleen des anderen womöglich als fehlerhaften Un- sinn anzugreifen: solche Polemik ist ausgestorben. Es beseelt ja doch alle der eine Geist bescheidener Aussöhnung des Geistes mit Verhältnissen, deren Geistlosigkeit sich gerade darin behauptet, ihm alle Freiheit zu lassen - vorausgesetzt, er weiß sie zu nut- zen! Wo so der wissenschaftliche Verstand in allen seinen Disziplinen seine Ehre darein setzt, der Wirklichkeit mit philosophischer Sinndeutung lauter freundliche, Einverständnis erheischende Aspekte abzugewinnen; wo sogar die trockensten Abteilungen der Wirtschaftswissenschaft nicht nur nach amerikanischem Vorbild von den Machenschaften eines Managements als einer "Unternehmens- philosophie" sprechen, sondern die geistige Sinngebung in einer und für eine Welt der harten ökonomischen Fakten zu ihrem Anliegen machen und sich sogar dazu bekennen; da bleibt natürlich auch die P h i l o s o p h i e selbst nicht unberührt abseits, sondern kommt ganz neu zu Ehren. In ihr faßt sich nämlich der moderne wissenschaftliche Geist in der Weise zu seinem Inbegriff zusammen, daß er für die Propagierung versöhnlicher Weltsichten den S c h e i n d e r S a c h k e n n t n i s, der ihm in seinen Unterdisziplinen immer noch anhaftet, fahren läßt und seinen Z w e c k zu seinem T h e m a macht: als Sittenlehre fürs Denken und Methodologie fürs Mensch-Sein. Zugearbeitet haben ihr in letzterer Abteilung die Einzelwissenschaften, die ihre erfundenen Gesetzmäßigkeiten als "Grundkonstanten" m e n s c h- l i c h e r N a t u r überhaupt zu deduzieren pflegen: zum Vollzieher der Knappheit, dem "homo oeconomicus" gesellt sich als der natürliche Vollstrecker soziologischer Fehler der "homo sociologicus", dem ein Wesen namens "zoon politikon" auf dem Fuße folgt... Die bundesdeutsche Philosophie sieht hier ihre vornehmste Aufgabe darin, den Menschen die Schwierigkeiten, die ihnen zu schaffen machen, nicht etwa zu erklären, sondern ihnen weiszumachen, in Wahrheit stünden darin "Grundproblematiken" auf dem Spiel, von denen sie sich nie etwas hätten träumen lassen, - die nämlich nichts Geringeres zum Inhalt hätten als den S i n n d e s D a s e i n s - und nicht einmal bloß den des eigenen. Überlegt ein normaler Mensch sich vor dem Weihnachtsfest die Alternativen seiner Armut - Truthahn oder Skischuhe, oder beides auf Pump? -, so finden sich haufenweise deutsche Philosophen, die die tief- gründige Frage "Können wir (nämlich: als 'moderne Menschen') überhaupt noch Feste feiern?" nicht bloß überhaupt, sondern gleich noch in den großen Bogen von den sagenhaften Götterfesten der alten Griechen bis zur verlorengegangenen Innigkeit so man- cher Kriegsweihnacht hinein - stellen und Hinweise aufs Transzen- dente durchblicken lassen. Entdeckt ein ganzer fortschrittlicher Industriezweig die Computertechnik als Mittel, wenige Arbeits- kräfte die Arbeit vieler ehemaliger Kollegen miterledigen zu las- sen, und wendet sie entsprechend an, so entdeckt der philoso- phisch geschulte Kopf nicht bloß ein neues Beispiel für die Ent- menschlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen - über soviel Philosophie verfügt heute schon jeder Gewerkschaftsfunktionär -, sondern sieht mindestens das angebliche Herrschaftsstreben des menschlichen Verstandes in einer Sackgasse angekommen, die ari- stotelische Unterscheidung von "praxis" und "techne" neu aktuali- siert, wenn nicht Schlimmeres. Und wo philosophisch fixe Partei- ideologen angesichts des "Modell Deutschland" und der Kanzler- schaft eines Schmidt die Alternative "Freiheit oder Sozialismus" aufwerfen - und jeder weiß, wie es gemeint ist! -, da behauptet ein moderner Philosoph überhaupt bei jeder Gelegenheit, gerade da stünde die Menschheit vor einem bedeutenden Scheideweg zwischen Plotin, Gnosis und dem Göttlichkeitsstreben der hybriden men- schlichen Vernunft hie, dem heiligen Thomas, dem Glauben an die "materia prima" und den Tugenden der "kritischen Vernunft" da. Keine praktische Schwierigkeit, kein theoretisches Problem, noch nicht einmal ein ideologischer Streitpunkt in oder zwischen den einzelwissenschaftlichen Disziplinen des Geistes bleibt, was er ist, sondern wird von professionellen Philosophen in eine "letzte Frage" übersetzt; und bei allem Erfindungsreichtum ist das P r i n z i p a l l e r derartigen Übersetzungen stets dasselbe und erschütternd simpel: Als die "eigentliche" W a h r h e i t noch seiner schlichtesten Entscheidung bürdet die Philosophie je- dermann theoretisch eine unbedingte V e r a n t w o r t u n g für "Menschheitsfragen" auf, deren ganzer Reiz darin besteht, daß "jedermann" von ihnen ganz bestimmt k e i n e A h n u n g hat. Nichts wäre für einen philosophisch ausgebildeten Kopf fataler, als wenn die tiefsinnige Kontroverse, die er sich als den wahren Inhalt des Weltenlaufs ausgedacht hat - "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" von Platon über Marx bis Habermas; Seinsgeschick contra Zeughaftigkeit; das (!) Sein des Seienden oder "Ich und Du" (oder vielmehr 'Du und Ich'?) -, im Publikum nicht ehr- fürchtigem Staunen, sondern der Antwort begegnen würde: "Genau so habe ich es mir auch schon immer gedacht!" Denn genau das ist ja die Bedingung, unter der allein ein Gedanke als philosophischer akzeptabel ist: daß er an P r o b l e m b e w u ß t s e i n die Einfälle des normalen Verstandes weit überragt - auch wenn er sich mit diesen im Ergebnis gerne trifft (das beweist nämlich die R e a l i t ä t s t ü c h t i g k e i t des philosophischen Ge- dankens!). Als philosophischer ist der wissenschaftliche Geist der Inbegriff einzelwissenschaftlicher Weltbetrachtung eben darin, daß er die A t t i t ü d e d e s D u r c h b l i c k s und des 'Dahinter-Schauens' rein für sich und über jeden bestimm- ten Sachverhalt hinaus kultiviert. Die "Robinsonade" der Philoso- phie ist die abstrakte und deswegen auch so vielfältig ausmalbare - Lüge, d a s Dasein, d i e Menschheitsgeschichte oder gar die Welt als ganze hätten letztendlich e i n e n S i n n; eine Lüge, die sich gar nicht anders vortragen kann als so, daß blan- ker Unsinn mit der Miene des Tiefsinns vorgetragen wird. Dabei hält der moderne bundesdeutsche Geist sich auch hier be- wußt, daß es auf den I n h a l t seiner philosophischen Sagen über "ein Letztes" gar nicht weiter ankommt. Heutigen Philosophen genügt es vollauf, in der Art ihrer Problemstellung miteinander so einig zu sein, daß sie mit der Erfindung je problembewußterer Problemstellungen ihre Konkurrenz untereinander austragen können. Insbesondere reicht diese Einstellung allemal aus, die Welt mit philosophischen "Sachverständigengutachten" zur Lage der Zeit und dem, was gerade nottut, zu beglücken, sobald der philosophische Geist sich zu einer "praxisrelevanten" Nutzanwendung seines Trei- bens gedrängt fühlt. Seine Diagnose heißt stets, abstrakt und schlicht: Es f e h l t den Menschen an dem, wodurch der philo- sophische Geist sich auszeichnet, nämlich an Selbstreflexion und Problembewußtsein. Denn immer hat heutige Philosophie die norma- len Leute ja - ausdrücklich oder implizit - als welche vorge- stellt, die i h r e n tieferen Sinn und höheren Zweck unverant- wortlicherweise nicht wissen und nicht respektieren; und aus ei- ner solchen Diagnose folgt nicht, daß sie ihn schleunigst zu er- fahren hätten - dann wäre er ja nicht mehr das, worum es "eigentlich" geht, weil das weiß ja bloß der Philosoph! -, son- dern daß sie sich zur abstrakten Vorstellung irgendeines Lebens- sinnes j e n s e i t s ihrer tatsächlichen intellektuellen Fas- sungskraft zu b e k e n n e n haben. Ob dieses Ding gleich "Gott" heißt, oder ob "jenes höhere Wesen, welches wir verehren", nur in seiner nackten methodischen Gestalt als die Verpflichtung auftaucht, auf gar keinen Fall den eigenen Willen für etwas ir- gendwie Gültiges zu erachten und überhaupt alles zweifelhaft zu finden, ist für diesen "praxisrelevanten" Ratschlag des philoso- phischen Geistes gleichgültig. Auf alle Fälle tut E r z i e h u n g not, die den Leuten von Jugend auf klar macht, daß sie sich nur in einer Hinsicht wichtig zu nehmen haben, näm- lich als ein gewaltiges P r o b l e m für dass, worum es ihnen "eigentlich" zu gehen hätte; und deswegen bedarf es bei den wirk- lichen Adressaten derartiger philosophischer Ratschläge vor allem einer mit gutem Gewissen praktizierten R ü c k s i c h t s l o s i g k e i t gegen den Verstand und den Willen ihrer Zöglinge: "Mut zur Erziehung" heißt in der Konse- quenz die praktische Devise der modernen Philosophie. Von den Phantastereien und Mahnungen der T h e o l o g i e - die gibt es mitten im Modell Deutschland ja auch noch als intellektu- ell respektablen methodischen Überbau zu einer Volksreligion, de- ren Dogmen zwar niemand mehr ernsthaft für wahr hält, aus Gründen eines (entsprechend trostlosen) Trostes aber auch niemand wirk- lich missen möchte! - unterscheidet sich der philosophische Geist mit seinen Lebenssinn-stiftenden "Problemstellungen" insoweit gar nicht weiter; zumal die moderne Theologie selber schon längst gar nicht mehr die Wahrheit ihrer Religion verteidigt, sondern vom modernen philosophischen Standpunkt aus deren praktische Nütz- lichkeit in Sachen weltanschaulicher Zufriedenheit beschwört - sehr gelehrt nach dem verräterischen Motto: "Ohne Gott ist alles sinnlos!". Wenn eine solche Theologie um ihres intellektuellen Erfolgs willen die Inhalte der Religion in offene Fragen verwan- delt und darüber mit ihrer kirchlichen Obrigkeit in Streit gerät - weil die über andere Kriterien für geistige Linientreue verfügt als die Angeberei mit einem enorm tiefsinnigen Habitus, der, ganz modern philosophisch, "Probleme" nicht beantworten, sondern auf- geworfen wissen will -, dann darf sie sich der Solidarität des philosophischen Geistes sicher sein. Der fühlt sich dann aufgeru- fen, noch für die letzte Tübinger Spezialvariante im verrückten Bemühen um eine möglichst eingängige, plausible theologische Dog- matik Menschenrecht, Demokratie und Meinungsfreiheit zu reklamie- ren. Denn sein Metier ist es eben, die Freiheit des Geistes nicht bloß in ihrer reinsten Form, nämlich jenseits aller Verpflichtung auf den einzelwissenschaftlichen Anschein von Sachkenntnis, aus- zukosten, sondern in allen seinen Werken programmatisch als Kri- terium zulässigen Denkens hochzuhalten. In der heutigen Philoso- phie wacht der bundesdeutsche Intellekt darüber, daß kein Gedanke als wissenschaftlicher Anerkennung findet, der sich nicht damit rechtfertigt - und damit zugleich als seinen höchsten Maßstab an- erkennt -, Resultat und somit die Manifestation eines besonders raffinierten P r o b l e m b e w u ß t s e i n s zu sein. Die ganze Abteilung der f o r m a l e n L o g i k ist längst hinausgewachsen über das wenig aufwendige vernünftige Geschäft, die Schlüssigkeit von Gedankengängen formell zu überprüfen; dabei hat sie aber auch den Anspruch aus ihrer ersten Modernisierungs- phase, alle möglichen Inhalte wissenschaftlichen Denkens aus des- sen - angeblichen - "mathematischen" Formbestimmungen abzuleiten und einen "logischen Aufbau der Welt" (Carnap) zu konstruieren, längst hinter sich gelassen - oder nimmt ihn doch nur noch metho- disch, gewissermaßen als ihre "Robinsonade" ernst. Heute tritt diese ganze Abteilung der Philosophie von Anfang an ausdrücklich als eine Veranstaltung auf, die jeglichem Denken seine prinzi- pielle und unüberwindliche Unsicherheit nachweisen will. Klassi- sche Fehler wie die, wissenschaftliche Erkenntnisse als Allsätze, ihre Allgemeinheit also als Prognose über alle in Frage kommenden Einzelgegenstände - und damit entweder als Tautologie oder als Vermutung! - zu fassen, sind fortentwickelt zu dem absurden Dogma, Beweise und Bedeutungen könnten nichts miteinander zu tun haben: ein Freibrief für die argumentlose Bestreitung jeder wis- senschaftlichen Aussage - deren Inhalt soll sich ja nie und nim- mer beweisen lassen, w e i l er ein I n h a l t ist! - und gleichzeitig für argumentfreies Herumspekulieren - denn bei In- halten darf es auf Beweise ja ohnehin nicht ankommen. Dieses Dogma, seinerseits auf seine formelle Quintessenz gebracht, be- herrscht die andere - "klassische" - Abteilung heutigen Philoso- phierens: hier wird jedem Gedanken das Bekenntnis abverlangt, überhaupt kein Gedanke über einen Gegenstand, sondern eine sehr bedingte, vor allem vom eigenen Standpunkt abhängige Konjektur zu sein, die eigentlich nur eine neue Stufe in der Reflexion auf die eigene Bedingtheit, also einen neuen Problemansatz in Vorschlag gebracht haben möchte - n u r d a n n ist er respektabel, dann ist aber auch a l l e s respektabel. "Ist der Tod eine Bedin- gung der Möglichkeit von Bedeutung?" ist für "Vernünftiges Den- ken" heute ein Problem, das auf alle Fälle ernsthafte Abwägung verdient: einerseits ja; andererseits sind die theoretischen Kon- sequenzen dieses Satzes theoretisch doch nicht wünschbar, also trotz aller Plausibilität doch eher nein... Bei alledem kommt es wirklich nicht so sehr darauf an, daß irgendein Wissenschaftler einmal ernsthaft auch nur den Versuch unternähme, die formal- und transzendentallogischen Vorschriften der Philosophie wirklich auf sein Gedankenhandwerk anzuwenden. Es genügt, daß alles wissen- schaftliche Denken heute in der BRD i m G e i s t e philosphi- scher Problematisierung der Möglichkeit - also der Bestreitung! - von Erkenntnis vor sich geht: Eben so fungiert die Philosophie, und zwar sehr effektiv, als Sittenrichter in Fragen der Zulässig- keit wissenschaftlicher Einfalle. Der bundesdeutsche Geist lei- stet sich nämlich keine genialischen Extravaganzen oder "Radikalität" des Denkens in dem Sinne, daß ein Denker sich mit seiner besonderen Weltinterpretation den herrschenden Verhältnis- sen entgegensetzt und mit einer Verrücktheit Sensation macht, die die intellektuelle Versöhnung mit der Realität aufkündigt. Umge- kehrt begegnet er den jeweils neuesten Einfällen auch nicht mit jener amerikanischen Gelassenheit, die noch den größten Schwach- sinn unter dem Obertitel "I suppose" zur Kenntnis nimmt und prag- matisch zusieht, ob sich nicht irgendwo und irgendwie etwas Brauchbares daraus machen läßt. Schon im Kopf des Erfinders zen- siert ein jeder intellektuelle Einfall deutschen Geistes s i c h s e l b s t, vergleicht sich selbstkritisch mit dem anerkannten methodologischen Comment, hält sich dann einerseits noch bei sei- nen banalsten "Hypothesen" wer weiß wie viel auf seinen "Mut" zum wissenschaftlichen "Risiko" zugute und sieht dabei doch nur zu, daß er die Maßstäbe innerwissenschaftlicher Sittenwidrigkeit und vor allem das Grundgesetz der Freiheit, nämlich das Gebot zu um- sichtiger Selbstproblematisierung, ja nicht verletzt. Es handelt sich beim deutschen Geistesleben eben nicht bloß organisatorisch, sondern seinem ganzen Begriff nach um B e a m t e n w i s s e n- s c h a f t in höchster Vollendung, die ihren Willen, positiv, konstruktiv und für die "geistige Bewältigung" der Realität bedingungslos "nützlich" zu sein, in lauter Verfahrensregeln für den Umgang des Verstandes m i t s i c h faßt und über wirkliche Gegenstände am liebsten nur als Beispiele für ihren Regelkanon verhandelt - die dann nicht einmal als Beispiele ernst genommen werden dürfen: i h r B e g r i f f sollte ja gar nicht herauskommen. Nichts ist kennzeichnender für dieses bundesdeutsche Geistesle- ben, als daß es sich allenfalls und ausschließlich in diesem Be- reich, bei der Erörterung der Vorschriften für anständiges Den- ken, auf das verbotene Feld des theoretischen Dagegen-Seins vor- wagt - also im kritischsten Fall methodologisch die philosophi- sche E r l a u b n i s nachsucht, auf dem Wege einer über das übliche hinausgetriebenen S e l b s t k r i t i k des Denkens gewisse Zweifel an der Welt anmelden zu dürfen. Wissenschaftliche Kritik besteht in der BRD in ausführlichen Plädoyers des Inhalts, daß unter Umständen und angesichts des "Scheiterns" der vorlie- genden "Ansätze", deren Anliegen ihr Kritiker sich stets zutiefst verbunden weiß, doch vielleicht auch die umsichtige Erprobung "a l t e r n a t i v e r Denkstrategien" ratsam sein möchte, die den Bereich des allgemein als "undenkbar" Deklarierten streifen könnten; dies stets einerseits im Brustton der V e r a c h t u n g gegenüber jedem Denken, das - angeblich! - "einfach so", "naiv" auf die Welt losgeht - ausgerechnet "mangelnde methodische Reflexion" ist hier der härteste Vorwurf an die etablierte Wissenschaft! -, eben deswegen aber anderer- seits mit tausend devoten Beteuerungen, daß damit über die Welt zunächst einmal noch überhaupt nichts, geschweige denn etwas Ge- wisses gesagt sein soll. In den Werken der linken Professoralwis- senschaft schwellen solche Plädoyers von "Einleitungen" und "Vorüberlegungen" zu lächerlich voluminös en Hauptwerken an, denen dann oftmals nur noch als Appendix ein Hinweis folgt, was wissenschaftlich noch zu "leisten" w ä r e, w o l l t e man den vorgeschlagenen kritisch-methodischen Kapriolen folgen. Ihre unüberbietbare Spitze hat diese Schule des kritischen Geistes in ihrem Vorkämpfer aus dem Nachlaß der "Frankfurter Schule" er- reicht. Habermas' Denken besteht allein und erfüllt sich darin, schlechterdings jeden "theoretischen Ansatz", von modernsten Sprachphilosophien bis zur Ricardoschen Arbeitswertlehre und von der klassischen Transzendentalphilosophie bis zum letzten Schrei der Systemtheorie, in einen Diskussionsprozeß hineinzuziehen, der nur ein Beweisziel hat: zu demonstrieren, daß das Reflexionsni- veau aller dieser "Ansätze" "unzureichend" ist, weil sie das ih- rer weltanschaulichen Alternativen nicht in sich aufgenommen ha- ben, was schon daraus hervorgeht, daß es erst Habermas gebraucht hat, um sie untereinander richtig "ins Gespräch" zu bringen. So d e m o n s t r i e r t und b e s t ä t i g t Habermas, ohne jemals einen Gedanken auf die Realität verschwenden zu müssen, allein an den vielfältigen Interpretationen der Welt durch den freien bürgerlichen Geist seine fixe Idee: die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit einer heilen Gesellschaft als Sprach- gemeinschaft - als Bedingung der Möglichkeit philosophischen Denkens als Kri- tik - als Bedingung der Möglichkeit emanzipatorischer Praxis als kommunikativen Handelns - als Bedingung... usw. oder auch umgekehrt. Habermas hat das Selbstbewußtsein der heutigen Wissenschaft, den bedingungslosen Subjektivismus - eben die Freiheit des Geistes - zu seinem Lebensinhalt erklärt und weiß deshalb um das Wörtchen "als" a l s das wichtigste Werkzeug affirmativen Denkens. An Kritik an der Welt schaut dabei - und auch darin ist Habermas der Inbegriff jener Trostlosigkeiten, auf die der deutsche Geist ver- fällt, wenn er einmal mit der Attitüde des Dagegenseins koket- tiert - nur dies heraus, daß der Philosoph seine eigene Diskussi- onszirkelei auch noch zum normativen Maßstab der wirklichen Ge- sellschaft erhebt, und deswegen von vornherein über sie das Ur- teil fertig hat, sie lege einer diskutierenden "Verflüssigung" aller in ihr vorkommenden "festen Positionen" lauter Hindernisse in den Weg. Mit entsprechend absurden Mahnungen zu einer angebli- chen "Krise demokratischer Legitimation" tritt er an die Öffent- lichkeit und das alles findet er auch noch erstens sehr praxisre- levant und zweitens sehr kühn und kritisch. Was d a s F u ß v o l k d e r a k a d e m i s c h e n E l i- t e, also die unmittelbaren Adressaten dieses gesamten höheren Blödsinns, betrifft *), so findet dessen Werdegang seine Erfüllung logischerweise nicht im Begreifen einiger Gegenstände der kapitalistischen Welt, sondern im Übergang in ein A m t in- nerhalb jener Sphäre, in der die Staatsgewalt sich zwar auch nicht irgendeines Wissens, wohl aber seines A n s c h e i n s p r a k t i s c h b e d i e n t. Denn die eine lohnende Verwen- dung für den Intellekt ihrer Mitglieder hat die bürgerliche Ge- sellschaft ja immerhin erfunden: Über seine u n t e r- s c h i e d l i c h e A u s b i l d u n g, unterschieden nach dem Kriterium des Abschneidens im Leistungsvergleich, also über seine Herrichtung zum und Betätigung als Mittel der Konkurrenz organisiert sie die Verteilung der Individuen auf die Klassen und die Hierarchie der Berufe und der Positionen im Herrschaftsapparat g a n z g e r e c h t. Der Schein der Be- gründetheit aller Einrichtungen des Klassenstaates, um den die Intellektuellen sich in ihren Theorien verdient machen, ist das objektive Prinzip der Behandlung, die der Klassenstaat seinem Nachwuchs angedeihen läßt, so daß die Intellektuellen die schöne Aufgabe übertragen bekommen, in ihrem Berufsalltag praktisch an seiner Erzeugung mitzuwirken. An ihnen ist es, Unterschiede zwi- schen den Kindern in Sachen "intellektuelle Kompetenz" herzustel- len, so daß die einen zu ihrem "verdienten" 'sozialen Aufstieg' das Bewußtsein eigenen Verdienstes dazubekommen und die anderen zu ihrem lebenslangen Arbeitsdienst die Vorstellung von sich, un- tauglich zu sein für die Rolle eines Menschen, auf dessen Urteil es besonders ankommt in der Welt. Das Risiko, daß statt solcher Effekte unangenehme E i n s i c h t e n sich breitmachen im nachwachsenden Volkskörper, braucht die bundesdeutsche Staatsge- walt dabei nicht zu fürchten - obwohl sie mit ihren Aufsichtsor- ganen auch gegen die Eventualität einer Unterrichtsgestaltung, die dem Schulzweck ausgerechnet durch seine P r o b l e m a- t i s i e r u n g zur Durchsetzung verhelfen will, genaueste Vorsorge getroffen hat. Schon mit der friedlichen Absolvierung ihres Studiums und dem dabei entwickelten Fanatismus, sich für die Gesellschaft, die sie frei studieren ließ, nützlich zu machen, bieten Westdeutschlands Intellektuelle die jederzeitige Gewähr für einen korrekten Schulbetrieb, in dem irgendwelche Ahnungen davon, was eine Erklärung von irgendetwas ist, geschweige denn von der Erklärung irgendeiner der schönen Einrichtungen, unter denen die nachwachsenden Bürger ihr Leben zu verbringen haben werden, todsicher nicht aufkommen - stattdessen lauter moralische Vorstellungen über den Lauf der Welt, die in ihrer Albernheit wie hinsichtlich der nötigen Plausibilität dem jeweils angestrebten Bildungsniveau gemäß ausgestaltet und mit Spurenelementen von Wissen angereichert sind. Deutsche Lehrerstu- denten bringen ihre akademische Laufbahn ins Ziel, indem sie sich ohne den leisesten intellektuellen Skrupel bezüglich der ihnen vorgesetzten professoralen Einfälle, dafür voller Ängste vor der Nötigung, diese in Prüfungen wiederzugeben, an den vorgeschriebe- nen Bruchstücken akademischer Gelehrsamkeit abarbeiten und im kritischsten Fall ein wenig Selbstmitleid über "Streß" und "Frust" entwickeln, dem ausgerechnet sie so gräßlich ausgeliefert seien. Nach der letzten Prüfung stehen dieselben Intellektuellen, die soeben in ihrem Hauptseminar nicht in der Lage waren, zwei falsche Gedanken ihres Dozenten auch nur auseinanderzuhalten, ohne weiteres in der Schule ihren Mann. Jeder Zweifel an der ei- genen Kompetenz zum Lehrersein ist mit der Berechtigung dazu von ihnen abgefallen - und tatsächlich taugt ihre akademische Unbil- dung allemal dazu, die ihnen anvertrauten Kinder nach Noten aus- einanderzusortieren: sie brauchen deren Geistesleistungen ja nur in entsprechender Verkleinerung an ihren eigenen zu messen. Die Kritik an seinem Metier, zu der es ein im Ausbildungswesen prak- tisch engagierter und beheimateter bundesdeutscher Intellektuel- ler im äußersten Fall bringt, geht demgemäß auch nie gegen die Zerstörung des Verstandes, die er mit dessen Benutzung für eine gerechte Klassenscheidung unter den Kindern hervorbringt, ge- schweige denn gegen die Hierarchie der Berufe, der er so mitsamt dem nötigen Nachwuchs das Siegel der Angemessenheit an die Indi- vidualität des darauf verteilten Menschenmaterials aufdrückt. Im zur Schau gestellten Altruismus, in der heuchlerischen Sorge ums Kind ist seine Kritik vom Selbstmitleid des professionellen Aka- demikers getragen: I h m machen Notengebung, Schulordnung, große Klassen, falsch "sozialisierte" Schüler, uneinsichtige El- tern, reaktionäre Kollegen, autoritäre Direktoren, bornierte Be- hörden etc. das Leben schwer - und das läßt sich unschwer über- setzen in das hohe Ideal einer freizügigen Schule, die mit den Zensuren gleich auch noch die letzten seriösen Bildungsgüter als menschenfeindliche "Kopflastigkeit" des Unterrichts verabschiedet hat, mit kleinen Klassen und großer Kameradschaft zwischen dem Lehrstand und seinem Material. Die wissenschaftliche Pädagogik kommt an dieser Stelle dann auch zu ihrem Praxisbezug: Je nach Bedarf segnet sie entweder die Realität oder deren Ideal als ziemlich "kindgemäße" Angelegenheit ab. Und ihre Sternstunden hat die kritische Pädagogik, wenn es ihr gelingt, dem Staat ein prak- tisches Experiment aufzuschwatzen, das dann gerechterweise "Laborschule" o.ä. heißt und alle Gegner im Streit um die Bil- dungspolitik mit ideologischen Argumenten ausstattet. Keine Frage: Bei solchen Intellektuellen geht der BRD-Staat kein Risiko ein, wenn er ihnen sein Ausbildungswesen als Domäne für ihre Ambitionen, praktisch zu werden, großzügig überläßt. Er kann es sich sogar leisten, bei der kritischen Begutachtung der poli- tischen Gesinnung seiner künftigen Amtsträger sehr kleinlich zu verfahren, ohne auf andere Bedenken zu stoßen als das entschieden demokratisch-konstruktive: ob sich sein Überwachungsaufwand denn lohnt und sein Mißtrauen gegen solchen geistigen Nachwuchs über- haupt gehört? *) Ausgerechnet unter den Intellektuellen haben noch alle marxi- stischen, kommunistischen oder sonstigen oppositionellen Gruppen in der BRD ihre relativ größten Chancen entdeckt und wahrgenom- men: die einen, indem sie die akademische Spinnerei für zu kom- pliziert befanden und auf die unabgesättigten sozialen Empfindun- gen der Studenten setzten, die anderen in der Weise, daß sie sich mit dem Verzicht auf soziale Heuchelei durch die Kritik etlicher falscher und die Verbreitung einiger richtiger Gedanken über die Welt den Vorwurf der intellektuellen Arroganz einhandelten. Daß Marxismus und Kommunismus in der BRD derzeit tatsächlich kaum an- ders als in der letzteren Form vorkommen, ist einer unserer ent- schiedensten Einwände gegen die Lage der Nation. 3. Die praktischen Bedürfnisse des Intellektuellenstandes --------------------------------------------------------- Westdeutschlands Intellektuelle tragen den Gegensatz zwischen Macht und Geist, den sie selber gerne beschwören, nicht aus. Sie reden über ihn, sogar mit Vorliebe; und sie reden über ihn, ohne einseitig Partei zu ergreifen. Vom Geist, den doch niemand anders als sie selber macht, reden sie voll Nachsicht, also mit Verach- tung als von einer Einstellung, zu der es nun einmal hinzugehöre, sich an der Realität ein wenig zu reiben; über die Macht und ihre Inhaber reden sie despektierlich, also in der Haltung des Besser- wissers mit kaum verhohlener Bewunderung gegenüber der Sphäre der Tüchtigkeit, die sich um den Geist nicht groß zu kümmern braucht. Die Verbindung von "Theorie" mit der Umstandsbestimmung "bloß" ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen; und d a r i n sind sie alle ohne Unterschied, von den rechten Kammerjägern distan- zierten Denkens bis zu den kritischsten Häuptern des Schrift- stellerverbandes, Anbeter der praktischen Gewalt. Dem, was ist, treten sie nie zu nahe - eher werden sie selber, als der "praktischen Verantwortung" ledige Nur-Denker, sich zum Problem. So hat der bundesdeutsche Geist sich mit der "Geistlosigkeit der Verhältnisse" glänzend arrangiert. Daher ist es auch nur gerecht, wenn Aberhunderte öffentlicher Kulturpreise - von denen sogar schon mal einer ganz vorurteilsfrei an einen im Knast einsitzen- den linken Poeten geht - dokumentieren, wie sehr die demokrati- sche Gewalt es schätzt, daß die Intelligenz der Nation sogar noch in ihren kritischsten Vorurteilen die BRD als Chance und H e i m a t betrachtet. Westdeutschlands Intellektuelle l e i d e n ernstlich nur unter einem: unter ihrem eigenen Urteil, daß sie selbst b l o ß In- tellektuelle sind. Sie erdenken Interpretationen der Welt, die allesamt nur den einen Befund variieren, daß die demokratische Herrschaft mit allen ihren Einrichtungen als die - mehr oder we- niger glückliche - Lösung sehr tiefer, wenn nicht ewiger Mensch- heits p r o b l e m e zu verstehen sei; sie subsumieren sich selber selbstkritisch unter diese Anerkennung der Macht; und doch haben sie an der so innig bewunderten Praxis der Macht keinen An- teil. Als Intellektuelle sind sie eben nicht die Macher; und daß für das Gelingen des Geschäfts der Macht die Resultate ihrer Ge- dankenwerkstatt brauchbar, wichtig oder womöglich unverzichtbar wären, ist eine Ideologie, für die allein ihre eigene Beteuerung einsteht und die sie selbst immer problematisieren: nicht für den L a u f der Dinge wollen sie bedeutend sein, sondern bloß für deren rechtes V e r s t ä n d n i s. Unter Westdeutschlands Intellektuellen gibt es daher ein Ideal, und das heißt Ü b e r g a n g i n d i e P o l i t i k. Bun- desdeutsche Wissenschaftler fühlen sich noch allemal geehrt, wenn die Regierung sie zu Gutachtern bestellt; Professoren, die von den deutschen Schulbehörden die schlechteste Meinung haben, las- sen sich in eine von diesen installierte Reformkommission nicht zweimal hineinbitten; die Sternstunde seiner Laufbahn erlebt ein Sozialwissenschaftler, wenn er seinem staatlichen Auftraggeber 1000 Seiten Schwachsinn über den "Wandel in Deutschland" ablie- fert und dabei mit Helmut Schmidt aufs Fernsehbild kommt; und deutsche Dichter bilden sich die größten Schwachheiten ein, wenn der Kanzler sie einmal in seinem Diplomatengepäck mit ins Ausland geschleppt und damit angegeben hat, wie gut in der BRD sich Macht und Geist vertragen. Das Allergrößte für die geistige Elite aber ist, überhaupt vom Katheder weg auf einen Ministersessel zu ge- langen. Nichts ist ihnen selbstverständlicher, als daß ein sol- cher Abschied aus der Welt der Wissenschaft ein unbedingter A u f s t i e g ist; und wenn die Wechselfälle des politischen Lebens die Rückkehr auf den Lehrstuhl herbeiführen, dann findet sich keiner mit einem solchen Rückfall in die bloße Theorie leichten Herzens ab - dann schon lieber Chefökonom und V-Mann in einem Ölscheichtum! Für Intellektuelle, die einen derartigen Auf- stieg nicht schaffen, bleibt die populäre Ideologie von einer "besonderen politischen Verantwortung des Wissenschaftlers", mit der sie sich attestieren, daß sie immerhin zu dem Stand gehören, aus dem die politischen Macher sich rekrutieren; mit der Illu- sion, auf ihre politische Meinung komme es deswegen ganz beson- ders an, eben fast so wie auf die der wirklichen "Entschei- dungsträger", kosten sie in ihrer beschränkten Phantasie die Eigenart des entwickelten demokratischen Klassenstaates aus, daß hier die Verteilung der Individuen auf die Klassen und die Hierarchie des Herrschaftsapparates tatsächlich über den A u s s c h l u ß v o n B i l d u n g passiert. Für die Prak- tizierung dieser Illusion halten die Ortsgruppen der Parteien Möglichkeiten bereit - einschließlich der Chance eines Aufstiegs in die entscheidenden-Positionen, auf die in allen Parteien, nicht nur in der SPD, die Intellektuellen abonniert sind. Aber auch dann, wenn sich die intellektuelle Karriere mit einer politischen verknüpft, sieht ein Studierter seinen Beruf nie als einen Job zum Geldverdienen an. Z y n i s c h sind sie alle nicht, höchstens über den Umweg eines I d e a l s, das sie von ihrer "gesellschaftlichen Aufgabe" haben - vom Sozialpädagogen über den Lehrer bis zum Ausgestalter des Kulturlebens hängen sie alle einer gewissen Hochachtung vor ihrer höchstpersönlichen Ver- antwortung an. Ein Sozialarbeiter, der, wenn es seinen Beruf nicht höchst staatsoffiziell gäbe, nie und nimmer mit Ausgeflipp- ten und Kriminellen seine Zeit totschlagen würde, hält große Stücke auf sein soziales Engagement, weil er eine ziemlich ge- sellschaftliche Aufgabe auf sich genommen haben will; bisweilen versteigt er sich bei seiner Betreuung des Elends zu der Selbsteinschätzung eines Gesellschafts v e r ä n d e r e r s, worin es ihm mancher Lehrer mindestens gleichtun will. Auch der bemüht sich nämlich um das "Aufbrechen" überkommener Strukturen im Bildungswesen und opfert sein Herzblut für die Bewahrung der heranwachsenden Generation vor sämtlichen undemokratischen Irrwe- gen. Ein Lektor, Theater- und Filmmensch oder ein Bibliothekar glauben, ohne lachen zu müssen, an ihre schwergewichtige Veran- wortung für das Geistes- und Kulturleben, das ohne ihren Einsatz nur allzuleicht ins Stocken geriete, und daß die nationale Kul- turlandschaft ganz schnell in eine unfruchtbare Wüste verwandelt wäre, in der sich niemand mehr ein geistiges Wagnis zumutete... Westdeutschlands Intellektuelle verfolgen eben in ihrem gesamten Dasein ein zweites, nämlich ein B i l d u n g s ideal. Mit der idealistischen Überhöhung ihres Amtes distanzieren sie sich von dessen profaner Funktion und gelangen zu einer Wertschätzung der e i g e n e n P e r s o n jenseits des Amtes, aus dem sie ihr gesamtes Selbstbewußtsein beziehen. An s i c h s e l b s t führen sie den Beweis, daß nichts so wichtig ist wie ein intel- lektuelles Verhältnis zur Welt. Wiederum nahtlos einig mit staat- licher Macht und gesellschaftlichem Reichtum, die darin zurecht sich, nämlich als Grundlage gelungenen Mensch-Seins, r e p r ä s e n t i e r t finden, setzen sie ein umfangreiches K u l t u r l e b e n in Szene. Bemerkenswert am bundesdeutschen Kulturleben ist die Konsequenz, mit der es sich dem mit ihm ver- folgten Beweisziel unterordnet. Zwar hat die bürgerliche Kultur sich schon immer dadurch ausgezeichnet, daß sie es beim ver- feinerten Genuß nicht bewenden läßt, sondern sich ein Gewissen daraus macht, bloß Genuß, also nutzlos zu sein, und sich dagegen auf eine höhere Nützlichkeit beruft: eine t i e f e r e B e d e u t u n g ihrer luxuriösen Scherze. In der westdeutschen Kultur ist diese Verrücktheit jedoch bis zu dem Punkt weiterent- wickelt worden, daß ein Kulturgenuß überhaupt erst dann und nur in dem Maße als Bestandteil des Kulturlebens Anerkennung findet, wenn bzw. wie er alle Merkmale des bloßen Genusses von sich abge- tan hat und zur geistigen "Mühsal" ausartet, an deren Bewältigung der Mensch sich eben als gelungener Kulturmensch zu bewähren und zu beweisen hat. In der BRD konnte ein Frankfurter Musikphilosoph beim "sachverständigen" Publikum Anklang finden mit der verrück- ten Vorschrift, nur der dürfe sich eines angemessenen Musikgenus- ses rühmen, der dazu allein der Partitur bedürfe, sich also frei- gemacht habe vom Akustischen in seiner irdischen Mangelhaftig- keit. Zwar wurden deswegen die Konzertsäle nicht leerer, die dort und in den Feuilletons zur Schau getragene heuchlerische Attitüde angestrengter Sachverständigkeit, die jedes "naive" Geschmacksur- teil beschämt, dafür aber womöglich noch penetranter. In der BRD ist die von Brecht erfundene Manier, nicht einfach zur Lust und Erbauung des Publikums Theater zu spielen, sondern zugleich im- merzu an der - trivialen - Nicht-Identität von Theater und Wirk- lichkeit herumzuproblematisieren, auf daß die B o t s c h a f t des Theaters nicht mehr als "bloßes" Theater mißverstanden werden möge, zum Grundgesetz jeder Inszenierung geworden, die etwas auf sich hält; das Publikum findet sich geradezu betrogen, wenn ihm keine originelle Verfremdung geboten wird, bewundert dafür jede Peinlichkeit als tief und originell und zeigt sich beeindruckt, wenn der Regisseur ihm seine "Betroffenheit" durch das Stück da- durch klarmacht, daß er es nach der Pause auf die Bühne setzt oder drei Stunden lang stehen läßt. Und nirgendwo sonst können die Spinnereien des modernen bildenden Künstlertums auf so viel intellektuelle Ehrfurcht rechnen wie in der BRD: Kunstwerke sind eben nicht einfach für den Genuß da, denn das wäre nur "U" wie Unterhaltung, die Intellektuelle natürlich auch mitnehmen, aller- dings unter Wahrung ihres wählerischen Geschmacks - in den Werken der Massenkultur sind sie nur zu Hause, wenn sie "gut" und "schlecht", "kommerziell" und "progressiv" kundig unterschieden haben. Daß der Zweck wirklicher Kunstwerke darin besteht, dem Pu- blikum zu neuen Sichtweisen der Realität zu verhelfen, ohne die ihm ein Stück zum Selbstsein fehlen würde - deshalb heißen sie auch gerne "Objekte" -, und daß dieser Anspruch durch seine Ver- wirklichung ein tiefes Loch im Kasseler Boden oder ein Kranken- hausgerät, von dem man halt wissen muß, daß kein geringerer als Herr Beuys es arrangiert hat - nie und nimmer als idiotische Ab- straktion und lächerliches Getue bloßgestellt wird, sondern dem denkenden Kopf höchst respektabel ist - so etwas ist hierzulande so selbstverständlich, daß nicht einmal ein reaktionärer Dummkopf in politisch verantwortlicher Stellung seinen Ruf als Kultur- mensch aufs Spiel setzt, indem er auf seiner Verständnislosigkeit beharrt. Denn das ist andererseits klar: In dieser Sphäre, wo sie ihre ei- gene Unentbehrlichkeit für den Sinn in der Welt praktisch be- weist, versteht die Intelligenz keinen Spaß - und legt sich, wenn's sein muß, auch mit der politischen Macht an, der sie an- sonsten die herzlichste Treue hält. Da kann es sogar in der BRD einmal zu einem öffentlichen Skandälchen kommen, wenn einem aner- kannten Vertreter des Kulturlebens von der Staatsgewalt ein Tort angetan wird. Für die Staatsgewalt kostet diese Empfindlichkeit ihrer Intellektuellen zwar ab und zu eine Million für ein neues "Objekt" in der Staatsgalerie oder so was Ähnliches. Andererseits legt aber auch und gerade diese Empfindlichkeit nur Zeugnis ab von der Intellektuellen tiefster Sehnsucht: der Staat möge ihrem Treiben Anerkennung zollen. Nichts sonst steht ihrer Harmonie mit der Macht im Wege. Ein Schwätzchen mit dem Staatssekretär im Foyer, ein Verdienstkreuz für Walter Jens oder ein anderer Preis für Böll und ein lobendes Kanzlerwort über Engelmann, und für West deutschlands Intelligenz ist die Welt in Ordnung. IV Die Linke --------- 1. Die BRD als Projekt revisionistischer Politik ------------------------------------------------ Daß die (noch) existierende organisierte Linke aus der Studenten- bewegung entstanden ist, welche der Demokratie in allen Belangen ihre Ideale vorhielt und dafür auf die Straße ging, ist kein Ge- heimnis. Ebensowenig die Tatsache, daß die neuen linken Gruppen nichts hatten außer sich und ein paar kritischen Intellektuellen, die auch für den Marxismus ein Ohr hatten. Mit der linken Opposi- tion hatte Adenauer erfolgreich unter Billigung des westdeutschen Volkes aufgeräumt. Aus dem Antikommunismus, dem Bekenntnis zum Dafürsein, war unter Zuhilfenahme des eifrig geförderten Blicks nach drüben eine zweite Staatsreligion geworden, da andere Formen des Nationalismus nach dem verlorenen Krieg nicht gleich wieder salonfähig waren. Und dieser Umstand wäre auch nicht weiter er- wähnenswert, wenn nicht die sich in Parteien aufbauende und sich in sie differenzierende Linke, die bei allem und jedem energisch den Blick auf die "historischen Bedingungen" gerichtet wissen will, von ihrem Aufbruch Ende der sechziger Jahre bis heute sou- verän die Realität geleugnet hätte, die zu verändern sie angetre- ten ist. Unablässig haben diese Kämpfer vorgeführt, daß die Be- trachtung der Welt a l s "historische Bedingung" für das, was sich einer vornimmt, nie etwas zutagefördert als den Standpunkt, von dem er ohnehin beseelt ist. Und in dieser Imitation des bür- gerlichen Umgangs mit der Geschichte, der ja auch an jedem Ereig- nis vergangener Tage die ideologische Legitimation sehr aktueller Zielsetzungen bewerkstelligt, haben die Linken glatt übersehen, daß es außer ihnen niemand gibt, der die Verhältnisse in der BRD prinzipiell kritisiert und diese seine Opposition auch prakti- ziert; in konsequenter Fehleinschätzung aller damals üblichen Formen des Bürgerunmuts, der demokratischen Unzufriedenheit wollten sie nicht wahrhaben, daß ihnen ein Publikum abgeht, das für kommunistische Politik, egal welcher Färbung, etwas übrig hat. Ihre Untersuchung der historischen Bedingungen hat ergeben, daß mit der kommunistischen Partei die einzige fehlende Bedingung geschaffen werden muß für den Klassenkampf - und hierin haben sie auch ihre große historische Aufgabe gesehen. Das Ideal, das ihnen dabei Zuversicht einflößte, hatte wie gesagt mit der Realität nichts zu schaffen, und als r e v i s i o n i s t i s c h e r S t a n d p u n k t lebt es über alle Wechselfälle der Ge- schichte hinweg, seitdem es die bürgerliche Gesellschaft gibt: s i e w ä h n e n s i c h i n i h r e m A n l i e g e n e i n s m i t d e n g e l i e b t e n M a s s e n! So stellte sich den Linken Westdeutschlands mit dem Entschluß, politisch entscheidend tätig zu werden, sogleich die Organisati- onsfrage; und ungeachtet der Tatsache, daß sie im Unterschied zu ihren Vorläufern noch nicht einmal an vorfindliche Klassenkämpfe "anknüpfen" konnten, haben sie das Problem "Kader- oder Massenor- ganisation?" auf die Tagesordnung gesetzt und gelöst. Seitdem sind einige Parteien mit dem "Heer der unterdrückten Volksmas- sen", von deren Kampfeswillen sie überzeugt sind, in M a s s e n o r g a n i s a t i o n e n verbunden, und als be- sonderer Teil der Bewegung, als ihre Vorhut, bildet man selbst eine K a d e r o r g a n i s a t i o n. So ist die westdeutsche Arbeiterklasse ganz ohne übermäßig ausgeprägten Kampfeswillen zu ein paar kommunistischen Parteien gekommen, die sich auch gleich in großen Wahlschlachten anerboten haben, das Parlament, die "Tribüne des Klassenkampfes" mit ihrer Gegenwart zu beehren. Die Illusion, es existiere eigentlich gar keine Trennung zwischen denen, die linke Politik machen wollen, und der Arbeiterklasse, erleidet in der so entstandenen Welt unter 1% keineswegs eine Er- schütterung. Denn so wenig der besagte Idealismus sich gedrängt fühlt, über die Klassengesellschaft, der er den Kampf ansagt, auch noch Bescheid wissen zu wollen, so gewaltige theoretische Anstrengungen unternehmen seine Verfechter, wenn es darum geht, die Widersprüche zwischen den eigenen Vorstellungen und dem Ur- teil, das die Wirklichkeit nahelegt, für nichtig zu erklären. Für die Abwicklung ihres Publikationswesens liefert ja der Standpunkt das unumstößliche Kriterium jeder Botschaft: sie hat durch die nachdrückliche Darbietung sämtlicher Erfahrungen der Massen dar- zutun, daß es sich durchwegs um schlechte Erfahrungen handelt; sodann die Nutznießer dieser schlechten Lebenslage bloßzustellen und entschieden dazu aufzufordern, die Partei doch an die Seite der Werktätigen treten zu lassen, damit die Millionäre nicht län- ger auf Kosten der Millionen arbeitender Menschen mit ihrer reak- tionären Gesinnung den fortschrittlichen Leuten alles Mögliche reinwürgen. Genauere Kenntnisse über das Wie der kapitalistischen Ausbeutung und der sie sichernden politischen Herrschaft sind da völlig überflüssig, wenn nicht störend - immerhin würde ja schon die F r a g e danach, w a s die Massen den lieben langen Tag so treiben und warum sie so arbeiten, sparen, wählen, reden und denken, wie sie es tun, manches Problem aufwerfen; vielleicht so- gar die Überlegung hervorrufen, ob es nicht besser sei, statt sich auf die Interessen der Massen zu b e r u f e n, Wider- spruch gegen sie einzulegen! Aber das ist ja der Vorteil des Standpunkts, daß man sein Verhältnis zu den Massen als ein durch und durch positives zu arrangieren beschlossen hat, so daß solche Fragen eher als "elitär" bekämpft denn gestellt werden. Theore- tisch geht es erst dann zu, wenn trotz bestens funktionierendem "demokratischen Zentralismus" - die Massen agieren von unten nach oben, die Führung von oben nach unten, das ganze Hin und Her ist eine dialektische Wechselwirkung, von der jede Seite was hat -, trotz korrekter Einhaltung der "Massenlinie" und konsequenter Entlarvung des Feindes kein rechter Fortschritt in der kämpferi- schen Bewegung der Massen zu verzeichnen ist. Dann muß unter Wah- rung aller Prinzipien, also ohne jede Einsicht geklärt werden, wieso die Massen n i c h t kämpfen! Dieselben Leute, die von einer Kritik des falschen Bewußtseins, das zum Ertragen der Aus- beutung notwendig ist, nichts wissen wollen, gelangen dann zu Be- funden, die der verehrten Arbeiterklasse zu allem anderen als zur Ehre gereichen: sie läßt sich von der Springer-Presse, von kor- rupten Gewerkschaftsführern und anderem lichtscheuen Gesindel doch glatt einseifen - im Vorwurf der M a n i p u l a t i o n gestehen Linke genau die Politisierung ein, die sie leugnen; Be- stechung soll es auch geben, um sie von ihren revolutionären Am- bitionen abzuhalten, und schließlich fehlt auch der Hinweis auf den "relativen" W o h l s t a n d nicht als Grund dafür, daß die Werktätigen keinen Grund für den Klassenkampf mehr sehen. All diese Erfindungen sind durchaus als Entschuldigung gemeint und stellen ihrem Gehalt nach dem "revolutionären Subjekt" doch nur die m o r a l i s c h e A n k l a g e zu, die enttäuschte Liebe noch stets zustandebringt. Eines aber leisten die "Analysen" des n i c h t v o r h a n d e n e n Klassenbewußtseins: sie gestatten einem Revisionisten, weiterhin "davon auszugehen", daß die Interessen seiner Adressaten und die seiner Partei i d e n t i s c h sind, allerdings mit dem kleinen Zusatz "eigentlich". Aus der Ge- schichte der Arbeiterbewegung, aus der er sich lieber Auskünfte besorgt als aus der bundesrepublikanischen Realität, dringt die trostreiche Unterscheidung zwischen "objektiven" und "subjektiven" Interessen in seine Strategie- und Taktikdebatten, so daß er über das gedankliche Handwerkszeug verfügt, die Absti- nenz der Werktätigen in Sachen Klassenkampf mit seinem Anspruch, in allem und jedem nur die Erwartungen der Massen zu exekutieren, zu versöhnen. "Subjektiv" sind die t a t s ä c h l i c h v o r f i n d l i c h e n Interessen der Massen, und sie sind es "bloß", weil durch allerlei Widrigkeiten und Manöver des Klassen- feindes so geworden; "objektiv" haben sie selbstverständlich nur das eine Interesse, das, der Herrschaft der Bourgeoisie ein furchtbares Ende zu bereiten - eben das der Partei, wobei der Ha- ken nur darin besteht, daß dieses Interesse im Moment nicht mehr oder noch nicht wirklich vorhanden ist. Sicherlich liegt das Quidproquo nicht an den mangelnden Lateinkenntnissen der Partei- gründer, die ja allesamt Abitur haben - aber vielleicht ist das auch nicht mehr das, was es einmal war! Jedenfalls ist das Ver- trauen in die revolutionären Bestrebungen des Proletariats geret- tet und die Partei kann fortfahren in der Suche nach falschen Antworten auf die falsche Frage: "Warum kämpfen die Proleten n i c h t?" - sich also auch weiterhin die Marx'sche Erklärung des Kapitalismus und die damit irgendwie zusammenhängende Mühsal ersparen, den Massen die Gründe dafür zu sagen, warum sich Lohn- arbeit nicht lohnt (die "Erfahrung" davon haben sie schon selbst!) und warum Klassenkampf das Mittel ist, sich die täglich von Staat und Kapital erpreßten Opfer vom Hals zu schaffen. Da es an den Massen nicht liegt, wenn sie sich irre machen lassen in ihrer "objektiven" Sehnsucht nach dem Sozialismus, verfällt ein Idealist des Klassenkampfes, der mit aller Inbrunst den Leit- spruch "Dem Volke dienen!" zum Lebensinhalt erkoren hat, glückli- cherweise selbstkritisch auf sich selbst, wenn er den Sieg des "subjektiven" Interesses bremsen will. Wer sich statt der Über- zeugung zum Klassenkampf der Liebe zum Volk verschrieben hat, das ihn mit Mitleid erfüllt, der entdeckt auch bei sich schnell V e r s ä u m n i s s e - und die bügelt er gründlich aus. Dem revisionistischen Standpunkt ist deshalb die bemerkte Differenz zwischen den Zielen seiner Partei und denen der Massen von Anfang an ein Anlaß, diese Differenz als die Folge davon zu handhaben, daß die Partei (noch) nicht klar genug gesagt hat, was sie ihren Adressaten alles Gutes tun will. Eine P e r s p e k t i v e ha- ben sie deswegen alle anzubieten, die bundesrepublikanischen Ver- eine - und im Vergleich mit der Bewegung, als deren authentische Erben sie sich alle anpreisen, hat ihnen "die Geschichte" das Glück zuteil werden lassen, daß ihre Angebote nicht nur in der matten Gestalt der Vorstellung auszufallen brauchen. Allesamt huldigen sie in dieser Frage der R e a l i t ä t i h r e r I d e a l e einem Realismus, der nur einen Mangel hat: er paßt irgendwie nicht so recht zu den zwar bloß subjektiven, aber doch recht lebendigen Interessen der Massen. Denn die deuten in kein- ster Weise auf den Wunsch hin, ihr Verhältnis zu ihrer "Führung" dahingehend abzuändern, daß eine der Varianten des Zusammenwir- kens von Staat und Volk herauskommt, die ihnen als nicht nur mög- liche, sondern schon ziemlich w i r k l i c h e Perspektive an- empfohlen werden. Die DKP, die ein Erbe wirklich für sich geltend machen kann, näm- lich das der verbotenen KPD, und damit sogar moralische Plus- punkte zu sammeln versucht (nach dem beliebten Schlußverfahren: da verboten, gut!), will die westdeutsche Arbeiterklasse zuerst in die antimonopolistische Demokratie und dann in den realen So- zialismus à la DDR führen. Dort ist der ideale Sozialstaat ganz ohne Kapitalisten verwirklicht, die Arbeit steht in der Gunst des Staates ganz oben, und unter der Führung der Sowjetunion ist der dazugehörige Block nicht nur eine Ansammlung von Vaterländern der Werktätigen, sondern auch eine Macht. Einwände gegen die Zustände drüben kennt die DKP eigentlich nicht, höchstens das Zugeständ- nis, daß es manchmal "Schwierigkeiten" beim Aufbau gibt. Die Vor- züge des gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens drüben ermittelt sie durch das selektive Vergleichsverfahren, also: keine Krise, keine Arbeitslosigkeit, und Atomkraftwerke in der Hand des Vol- kes, in der Regierung nur Friedensfreunde und Antifaschisten. Leider u n t e r s t e l l e n diese Eigenschaften immer noch die Sehnsucht der Massen nach solchen Zuständen, sind also wenig werbewirksam, weil die Massen diese Ideale der DKP trotz ihrer bereits erfolgten Realisierung nicht teilen. Dem hat die DKP auch irgendwie Rechnung getragen, ebenso wie den Schwierigkeiten, Kri- tiker drüben hier einfach als Verbrecher oder Spione zu entlarven und den Einmarsch in Afghanistan dem hiesigen Publikum als Frie- densakt zu verkaufen. Deshalb gibt sich diese festgelegte Partei in der BRD auch noch als die demokratischere, arbeiterfreundli- chere und ganz und gar gewerkschaftlich orientierte Reformpartei - spekuliert also ohne viel Federlesens darauf, daß auch sie einen guten Nutznießer der "bloß subjektiven" Interessen abgeben könnte. Warum auch dieser "Realismus" so wenig Früchte trägt, ebenso wie die Anstrengungen von DKPlern, unter den Gewerkschaf- tern die 150%igen zu stellen, soll hier ebensowenig wiederholt werden wie die Frage, was denn die Arbeiter eigentlich davon ha- ben, wenn.... Denn soviel ist klar: Zum Idealismus der Perspektive gehört immer eine gesunde Portion Opportunismus u n d der Versuch, die Glei- chung Parteiinteresse = Interesse der Massen umzudrehen, wie das ja bei einer anständigen Gleichung erlaubt sein muß. Wer sich zum Anwalt von eingebildeten Anliegen seiner Adressaten macht, dem gebührt wohl auch das Recht, deren wirkliche Interessen zu be- schlagnahmen und ihnen eine viel bessere Verwaltung ihres Gemein- wesens zu offerieren, als sie die derzeitigen Favoriten in der Gunst des Volkes ins Werk setzen. Die "Maoisten" wissen zwar auch nicht so recht, welche Gründe die Massen in ihrer beschissenen Lage haben könnten, ihren Dienst am Kapital und ihren Konsens mit dem Modell Deutschland aufzukündi- gen, doch ist ihnen aufgefallen, daß das westdeutsche Volk für Ostberlin und Moskau als Perspektive rein gar nichts übrig hat. So als wäre der Antikommunismus d i e Kritik am realen Sozia- lismus, geben sie dem Volk, dem ihre Liebe gilt, ziemlich prinzi- piell recht und verweisen - wieder einmal im Bewußtsein völliger Übereinkunft mit den Massen - auf i h r e Perspektive, die ziemlich weit hinten liegt. Ihr Mao ist nämlich gegen Moskau, und in China herrscht echte Volksdemokratie. So durften - deutsche Arbeiter ein Flugblatt zum 80. Geburtstag Mao Tse-tungs mit in die Frühschicht nehmen und sich an der Botschaft erwärmen, daß die KPD ganz im Geiste des Oberchinesen auf ihrer Seite sei. Da- mit ist ihr der eindrucksvolle Beweis gelungen, daß ein Revisio- nist, je realistischer er sich anwanzt, um so exotischer wird. Inzwischen ist die Arbeiterklasse in der Früh- und Spätschicht völlig orientierungslos, weil nach den letzten großen Sprüngen in der KP des Hua, der neulich auch in der BRD war und allerlei be- stellt hat, China als Vaterland der Werktätigen ziemlich zweifel- haft geworden ist. Ein anderer K-Verein schätzt jetzt Albanien als einzig konsequent revolutionäre Kraft im Weltgeschehen ein; der KBW hält nach wie vor viel von der "Generallinie" der "Drei Welten" und betört damit Hausfrauen am Samstagmorgen in der Fuß- gängerzone. Der KB lag schon immer irgendwo dazwischen... Daß ein linker Verein darauf verfällt, den verehrten Massen die Weltlage ausgerechnet durch die Propaganda gelungenen Zusammen- spiels von Volk und Staat auswärts zur Kenntnis zu bringen, hat weder in der SU noch in China oder Albanien seinen Grund. Dazu ist schon eine Einbildung ganz erlesenen Kalibers vonnöten, näm- lich die, daß die Proleten hierzulande einerseits längst den tie- fen Wunsch nach sozialistischen Zuständen hegen, den Kampf um dieses Ziel jedoch mangels "konkret" ausgepinselten Vorbilds lie- ber sein lassen. So befangen sind Westdeutschlands Linke in ihrer Vorstellung, ein einziger geballter A u s d r u c k sämtlicher Regungen des Volkes zu sein, daß sie ihre gesamte Zeit und Kraft darauf verplempern, fiktive Hindernisse für einen erfolgreichen Klassenkampf zu erfinden und durch eine Agitation "aus dem Weg zu räumen", die ihre gewaltige Distanz zu dem, was ihre Adressaten tun und im Kopf haben, nicht bloß b e z e u g t, sondern s c h a f f t - und dem bundesrepublikanischen Kommunismus den Ruf der weltfremden Spinnerei eingetragen hat. Und das noch nicht einmal zu Unrecht: eine Linke, die kein einziges objektives Ur- teil über das hat, was läuft in den Fabriken, in der Gesellschaft und im Staat, weil sie in allem nur i h r V e r h ä l t n i s bespricht zu denen, die sie mit ihrer Fürsprache beglücken will - eine solche Linke versteigt sich eben zu Konstruktionen über die Realität, die den Schwachsinn der bürgerlichen Intelligenz als verständige Weltsicht erscheinen lassen. Denn im Unterschied zur bürgerlichen Wissenschaft beharrt ein Revisionist bei seiner Sicht der Dinge darauf, daß es auch wirklich so sei, wie seine K l a s s e n a n a l y s e behauptet. Ja, er verlangt sogar, daß die Menschheit sich praktisch seiner Weltsicht anbequemt. Daß Revisionisten nichts über die Welt wissen, die sie aus den Angeln heben wollen, heißt keineswegs, daß sie nicht viel über diese Welt zu sagen haben. Klassenanalyse treiben ist seit den Gründertagen eine Dauerbeschäftigung der linken Parteien: sie be- steht in der Besichtigung der Republik als Schauplatz i h r e s Kampfes, so daß alle am Kapitalismus beteiligten Charaktere nicht so vorkommen, wie es sie gibt, sondern als e i n Moment im K r ä f t e v e r h ä l t n i s. Gemäß ihrem politischen Ideal ordnen Revisionisten noch jedem Stand einen p o l i t i- s c h e n W i l l e n zu, sehen in Arbeitern, Gewerkschaftern, Studenten und Sozialarbeitern, in SPDlern und Grünen immerzu eine mehr oder minder gelungene Realisierung i h r e r Erwartungen. Die ganze Republik wird am Ziel der Partei gemessen, und jede Tat der feindlichen wie freundlichen Abteilungen auf dieses Ziel b e z o g e n. - Die A r b e i t e r sind die für die revolutionäre Bewegung zuständige Basis der Partei. Mögen sie in all ihren Taten noch so sehr für die Mehrung des Kapitals und für die Größe der Nation einstehen, der geschulte Blick entdeckt in jedem Opfer eine E r f a h r u n g, die dem im Proleten schlummernden Subjekt der Revolution die Augen öffnet. Oder auch nicht, wofür dann allerlei widrige Bedingungen und Machenschaften verantwortlich sind. Ga- rantiert ist mit dieser Sichtweise einerseits, daß die Partei der Arbeiterklasse die Kritik der Lohnarbeit und der dazugehörigen Konkurrenz als L o b d e r A r b e i t e r betreibt und alle Werke dieses g u t e n T e i l s der Menschheit als Fort- schritte und Rückschläge in Richtung Revolution deutet. Ein Pro- let mag von der Existenz der Vorhut seines Kampfes noch nicht einmal Notiz genommen haben, und doch ist er schon unterwegs zum Klassenbewußtsein, das ihm seine Erfahrungen besorgen. Die ganze BRD als B e d i n g u n g des Klassenkampfes auffassen, heißt eben auch, um die G r ü n d e für den Kommunismus kein großes Aufheben machen: so darf sich im Notfall auch einer, der statt bisher SPD jetzt CSU wählt, von einer Organisation mit K im Namen bescheinigen lassen, daß er das Scheitern des Reformismus belege und dessen Illusionen durchschaut habe. Da die Theorie dieser Linken in nichts anderem besteht, als der Welt die Deutung anzu- hängen, sie sei die Realisierung d e r Bewegung, die ein Linker schätzt, geraten die "Einschätzungen" grundsätzlich zum Witz. Nicht nur ist es besonders blöd, ausgerechnet in der BRD, wo es nicht einmal eine Bewegung gegen staatliche Mißwirtschaft, ge- schweige denn einen gewerkschaftlichen Kampf gibt, Revisionist zu spielen - das Hin und Her zwischen politischem Ideal und der ihm anzugleichenden Realität sorgt hierzulande auch dafür, daß Revi- sionisten den traditionellen Blödsinn enorm überbieten. Was da an Beweisen zusammengetragen wird, daß die Linie der Partei der "realen Bewegung" e n t s p r i c h t, daß in der Welt also nichts passiert, was nicht in den Fort- und Rückschritt der eige- nen Sache aufgeht, spottet jeder Beschreibung. - Sogar die K a p i t a l i s t e n, die ziemlich b ö s e sind, weil sie sich von ihrer Profitgier treiben lassen und nicht ruhen noch rasten, um die Arbeiterklasse nicht nur auszubeuten, sondern auch mit allerlei Tricks und Lockmitteln zu spalten, sind für die Interpretation des Klassenkampfgeschehens nicht n u r böse; auch sie bilden einen festen Bestandteil der Welt, die sich ein Linker als C h a n c e der Bewußtwerdung der Massen aus- malt. Sicher, manchmal gelingt es ihnen noch, dem Volk Sand in die Augen zu streuen, aber je ekelhafter sie zuschlagen, desto offenkundiger wird für die Arbeiterklasse, daß sie mit diesen Burschen Schluß machen muß. Die Logik des Seins, das das Bewußt- sein macht - die vulgäre Verdrehung eines berühmten Satzes -, wird von den Revisionisten Westdeutschlands unermüdlich bemüht: was auch passiert, im Betrieb, auf dem Arbeitsmarkt, in der Stadtverwaltung - alles erspart den Adressaten und mit ihnen der Partei, sich einen richtigen Gedanken über das zu machen, was mit ihnen angestellt wird; weder das falsche Bewußtsein ist das Werk der Massen, noch können sie sich der Entwicklung ihres Klassenbe- wußtseins widersetzen. Und hier haben die Techniken der Ausbeu- tung, die sich Kapitalisten ständig ersinnen, ihren festen Platz im System des revisionistischen Weltbildes; ihre "riesigen Pro- fite" zeugen nicht vom Gelingen der Ausbeutung und davon, daß die Proleten mitmachen - umgekehrt ist es: ihre maßlose Pro- fit g i e r bewirkt täglich aufs schärfste den Widerstand der um die gerechten Früchte ihrer Arbeit betrogenen Massen. Leute, die jeden "Seminarmarxist" schimpfen, der sich mehr als ausgewählte Kapitel aus "Kapital 1" studieren traut, schaffen es, mit Hilfe ihrer Interpretationskünste in einem Atemzug zu erzählen, daß die Krise "auf dem Rücken der Werktätigen ausgetragen wird", u n d den Werktätigen zu versichern, daß ihnen die Krise mit allen fäl- ligen Opfern die Chance gibt, nicht mehr länger auf die Listen ihrer Peiniger hereinzufallen; ganz akademisch dazugesetzt wird bei manchen Exemplaren des bundesdeutschen Kommunismus auch noch die Versicherung, daß "die Krise des K a p i t a l i s m u s" für die Volksmassen nun kein Geheimnis mehr bleiben könne.... - Die Klassenanalyse wird natürlich mit ihrem Universalschlüssel auch bei der G e w e r k s c h a f t fündig. Ihr P l u s ver- merkt die Einschätzung wieder unabhängig von der Realität, also unter Absehung von allem, was sich der DGB gegenüber den Mitglie- dern und unter ihrer Billigung leistet. Hier hat die Arbeiter- klasse eine Organisation, hier bildet sie eine Einheit - und das bedeutet für einen Anbeter des Proletariats schon allerhand. Die Einheit ist schon die halbe Revolution, so daß die andere Hälfte das zu lösende Problem darstellt; das M i n u s liegt selbst- verständlich nicht im geringsten bei den Arbeitern, die ja in ih- rer gewerkschaftlichen Einheit schon den Beweis angetreten haben, wie sehr ihnen der Klassenkampf am Herzen liegt. Da also eine korrupte Führung sich bürokratisch über die Anliegen der Basis hinwegsetzt, lauter Bonzen die Bürokratie dazu benützen, die Kampfbereitschaft der Arbeiter zu ersticken, konnte die Linke nicht umhin, einen imaginären Aufstand der demokratischen Basis gegen die undemokratischen Arbeiterverräter zu inszenieren - und mußte wieder einmal eine bittere Erfahrung hinnehmen. Ohne große Kenntnisnahme und schon gleich ohne Murren bei der Basis wurden die linken Gewerkschaftskämpfer hinausgesäubert (nicht einmal das organisatorische Denkmal ganz aufrechten gewerkschaftlichen Kämp- fertums, Arbeiter-Stimmme bzw. -Politik in Bremen, Hamburg und Nürnberg, ist bei aller Treue zur gewerkschaftlichen Einheit vor Kommunismusverdacht sicher!), zuweilen sogar unter tätiger Mit- hilfe der anderen Front linker DGB-Aktivisten. Die DKP hat sich nämlich in ihrer realistischen Deutung der Bedingung, die eine Gewerkschaft für die Demokratie und den Weg zu ihrer antimonopo- listischen Fortentwicklung darstellt, auf das Plus des DGB ver- steift: er i s t die Organisation der entscheidenden Fort- schrittsmacht Arbeiterklasse und darf seine demokratische Sub- stanz nicht den Störmanövern von "Chaoten" ausliefern. So kann man es natürlich auch machen: diese Sorte Kommunisten läßt grund- sätzlich keine Kritik am DGB aufkommen und stellt ihre Arbeit ganz und ohne revisionistische Zusätze in den Dienst des Vereins, steuert zur Abteilung "antikapitalistische Phraseologie" einiges bei und hilft mit, den Laden zu schmeißen. Dabei ist nicht einmal bei solchem Dienst die Dankbarkeit der Offiziellen in der Staats- gewerkschaft sicher! Korrekterweise fällt einem DKPler noch zu jedem Arbeitskampf die Weisheit ein, daß enorm viel Solidarität zu spüren gewesen sei, auf die Veranstaltungen schickt die Partei wie zum 1. Mai ihre ortsansässigen Song-Gruppen - und an den Uni- versitäten agitiert ein MSB nicht für den Marxismus oder die Par- tei, sondern o r i e n t i e r t gewerkschaftlich. Das Ideal der anderen Revisionisten hatte seine lichten Momente, in denen es Realität gewesen sein soll, in der Zeit vor der Grün- dung, nämlich in den legendären September-Streiks, als die linke Studenten-Bewegung urplötzlich die Kraft des Fortschritts ent- deckte. Heute gilt es, jeden Anscheins von Verlegenheit Herr zu werden, die sich mit der schwächlichen Ausbeute aus den Bedingun- gen des gewerkschaftlichen Kampfes einstellen könnte - und dafür sind eben wieder negative Bedingungen und ein paar Schuldige zu- ständig. Der übermächtige Druck der Krise stiftet Unsicherheit und tut hier genau dieselben Dienste wie die "Zugeständnisse der Herrschenden" in einer anderen Phase der Konjunktur. Wo die Lage "Bedingung" ist, kommt bei ihrer Verbesserung dasselbe heraus wie bei ihrer Verschlechterung, und daß ein anderes Mal die Krise wieder Chancen eröffnet, macht einem geschulten Revisionisten überhaupt keine Schwierigkeiten. Insgesamt steht es um die west- deutsche Bewegung nämlich deshalb immer schlecht, weil der Fa- schismus die K o n t i n u i t ä t des Klassenbewußtseins un- terbrochen hat. Dies wiederum verträgt sich bestens mit der Be- geisterung dafür, daß nach dem Kriege sozialistische Ideale sehr hoch im Kurs standen bei allen politischen Parteien und die ganze werdende Republik ein Hort der Perspektive war. So sieht einer die Geschichte, der seinen eigenen politischen Willen für den Ausdruck ihrer Tendenz halten möchte. Im Zweifelsfalle kann er deswegen auch vom "bloßen Syndikalismus" und "Ökonomismus " Ab- schied nehmen und den "subjektiven Faktor" in Rechnung stellen, also ganz zum Schluß für alle Fälle und unter diskutierender Mit- wirkung von vielen Theoretikern der Probleme des Klassenkampfes (allein zwei dicke Fraktionen in Berlin-West, der Wiege des gan- zen Blödsinns) p s y c h o l o g i s c h den so sehr vermißten revolutionären Willen der Proleten deuten: sie k ö n n e n gar nicht wollen. - Der B R D - S t a a t eignet sich nicht minder für die kon- krete Anwendung der Dialektik von Hoffnung und Enttäuschung. Mit der Behauptung, man habe es mit einem K l a s s e n s t a a t zu tun, ist nämlich noch gar nichts gesagt; und dies nicht des- halb, weil es auch darauf ankommt zu wissen, w i e sich der bürgerliche Staat in allen seinen Taten der Erhaltung und des Fortschritts seiner Klassengesellschaft annimmt, sondern, weil auch der Klassenstaat e i n g e s c h ä t z t und für die revi- sionistische Politik fruchtbar eingesetzt sein will. Sooft dieses Instrument der herrschenden Klasse etwas vorhat oder durchführt, werden daher A l t e r n a t i v e n ersonnen, die dem Volke - unter diesem Ehrentitel taucht neben der Arbeiterklasse noch manch anderer Zeitgenosse auf, wenn er nicht (Groß-)Kapitalist ist - nützen. Der souverän gehandhabte Maßstab ist das Ideal der Demokratie, jene Vorstellung also, daß die Massen ein R e c h t drauf hätten, Nutznießer der über sie ausgeübten Herrschaft zu sein, nur weil sie ihr auch noch zustimmen. Dieses Ideal vertritt außer den Revisionisten niemand, so daß ihnen der Stoff nie aus- geht, eben dies zu beweisen. Die Langeweile revisionistischer Staatsbetrachtung ist dadurch gewährleistet, daß das Ideal nütz- licher Herrschaft zu ganzen Katalogen staatlicher Untaten ausge- arbeitet wird, die vom Gestus der Anklage beseelt sind. An der Haltung des A n w a l t s d e r M a s s e n werden sie durch nichts irre, obgleich sie das Material ihrer wöchentlich erwei- terten Anklageschrift der demokratischen Presse der BRD entnehmen können - ihr Standpunkt macht eben von vorneherein die Frage überflüssig, weshalb das mit den staatlichen Untaten beglückte Volk in seiner alltäglichen Betätigung ebenso wie im Gebrauch seines Wahlrechts nicht nur fügsam, sondern p o s i t i v an der Ausübung der Staatsgewalt interessiert ist. Mit sicherem In- stinkt dafür, daß eine solche Frage nur jemand zu stellen wagt, der sich für den eingebildeten Konsens mit den Massen nie erwärmt hat, verlegen sie sich lieber darauf, ihre auswärtigen Beispiele für eine gelungene Harmonie zwischen Staat und Volk zu propagie- ren und das Urteil in die Welt zu setzen, daß hierzulande die po- litische Gewalt mißbraucht wird. Noch nicht einmal soviel wollen sie über den Staat wissen, daß er wie alle anderen Formen der Herrschaft höchst überflüssig wäre, wenn es nichts zu beherrschen gäbe daß die Demokratie ausschließlich darin ihren Zweck hat, das lohnende Funktionieren der Ausbeutung zu sichern - und daß in ihr d e s h a l b nach den Klassenkämpfen der bürgerlichen Revolu- tion oder nach einem Krieg der politische Wille der Klasse aner- kannt, gebildet und kontrolliert wird, die im ökonomischen Leben nichts zu lachen hat, daß also umgekehrt der politische Wille zur Demokratie i n einer solchen alles andere darstellt als die An- meldung von Ansprüchen. Unbeeindruckt davon, daß in der Demokratie die politische H e r r s c h a f t Zustimmung auf sich zieht, und tief beein- druckt von der Z u s t i m m u n g des Volkes zu seiner politi- schen Herrschaft beschimpfen sich Revisionisten wechselseitig mit haargenau demselben Vorwurf, der ihnen von seiten der bürgerli- chen Begutachter ihrer Erfolglosigkeit in aller Schadenfreude zu- teil wird. Sooft irgendeine Fraktion der Linken an einer ihrer Kampagnen oder Aktionen nicht teilnimmt, begründet sie dies mit dem S e k t i e r e r vorwurf - oder sie kriegt ihn zu hören. Die einen ersparen sich dabei regelmäßig eine Kritik des falschen Kampfes, die anderen beharren mit derselben Regelmäßigkeit auf der Fiktion ihrer Gemeinsamkeit mit Gott und der Welt, wechsel- seitig machen sie die S p a l t e r von der Gegenseite für das Ausbleiben greifbarer Erfolge verantwortlich - und daß das Ange- bot einer volksnützlichen, selbstlos inszenierten Alternative nichts mit einem Kampf gegen den bürgerlichen Staat zu tun hat, merken sie alle nicht. So sehr haben sie sich in die Vorstellung verrannt, daß eine Aktion von Kommunisten unmöglich eine Diffe- renz zu den Massen, dagegen immer nur deren ursprünglichste Sehn- sucht "zum Ausdruck" bringen kann, daß sie Kritik an sich n u r nach e i n e m Muster zurückweisen: die anderen sind, was die Massen nie sein können, Parteigänger des Staates! Dabei offenbaren sie ihren eigenen Staatsidealismus in Kabinett- stücken politischer Analyse, die mit der Z u s t i m m u n g z u r H e r r s c h a f t, die sie vorfinden, gleich auch noch ihren Frieden machen. D a ß Demokratie gemacht gehört, ist das ein Jahrzehnt heruntergebetete Glaubensbekenntnis dieser Linken gewesen - und wird es wohl auch nach ihrem Selbstzerstörungspro- zeß bleiben. Daß sie eine g u t e Demokratie sein muß, war der zweite Glaubensartikel, an dem die Geister sich überhaupt nicht, die Parteien dafür nach Kräften schieden. Neben den Offerten ans Volk, die ihm mit V o l k s demokratien kamen und vom Drang zeugten, sich als bessere, gerechtere, ehrbarere Politiker darzu- stellen, die das Vertrauen des Volkes eigentlich verdienen, mach- ten sie auch noch durch die StaMoKap-Theorie auf die prinzipielle Übereinstimmung ihres Ideals wirklicher Souveränität mit demokra- tischen Souveränitätsgepflogenheiten aufmerksam. Da wird nicht einmal der Wille derer, die unseren Staat schmeißen, ernstgenom- men, stattdessen ihre H ö r i g k e i t gegenüber den Monopolen beschworen, wobei natürlich eine gewisse Auseinandersetzung über den G r a d der "Verschmelzung", "Kooperation" und "Korruption" nicht ausbleiben konnte. So gelangen Leute, die den K l a s s e n s t a a t bekämpfen wollen, zu eben der Vorstel- lung, die sie sonst zu kritisieren vorgeben: in drei freigewähl- ten linken Händen ließe sich die Staatsgewalt auch ganz anders und viel besser verwenden. Der existente Staat ist für solche Leute immer auch ein p o s i t i v e r Anhaltspunkt; und wer davon nichts hält, muß sich von den Vereinen zur Abschaffung des kapitalistischen Staates sagen lassen, er würde nur "negativ" kritisieren, könne keine "Perspektiven" konkreter Veränderbarkeit angeben und sei damit auf den Schein staatlicher Allmacht herein- gefallen. In einer Demokratie, deren Verkehrsformen zwischen Staat und Volk die Emanzipation des Staates von allen Ansprüchen der arbeitenden Klasse bis zur Perfektion getrieben haben, prä- sentieren die Linken sich letzte Sachwalter demokratischen An- stands und emanzipieren s i c h ganz ideal von den Sorgen, die die verehrten Massen aufgehalst kriegen. Den Beweis, die eigent- lichen Saubermänner in Sachen Volksvertretung zu sein, haben sie alle angetreten: mal mit dem Pochen auf freie und geheime Wahl sämtlicher Staatsfiguren bis hinunter zum Oberfeldwebel, mal mit dem Wahlversprechen ganz gläserner Kassen für den Fall ihrer Wahl, und immer wieder mit dem genuin a n t i f a s c h i- s t i s c h e n Hinweis auf m ö g l i c h e Untaten der Staatsgewalt, dargelegt an Personen, die sich nicht erst in unserer schönen Republik im politischen Geschäft bewähren. Für diese Glanzleistungen, die aus der schieren Tatsache, daß die BRD kein Faschismus ist, dieser ein K o m p l i m e n t machen, haben sie ihre ganze Phantasie aufgeboten. Herausgekommen ist au- ßer dem Kompliment das untrügliche Geständnis, daß die besten De- mokraten in der BRD die Kommunisten sein wollen, weil sie Angst um die manierliche Führung der Staatsgeschäfte durch ebenso ma- nierliche Politiker haben. Sie sind eben die einzigen, die diese Republik nicht für echt halten, und riskieren dabei sogar den harten Vorwurf des "Realitätsverlusts", den sie in ihrer Replik so ungeschehen Machen: sie bemühen sich die G e s c h i c h t e unseres Staates, der ihnen nicht als Vervollkommnung der demokra- tischen Herrschaft, sondern als "Abbau der demokratischen Rechte" vorkommt. Ganz nebenbei verraten sie, daß für sie ein S o z i a l staat nie ein K l a s s e n staat sein, sondern eine einzige V e r s c h l e i e r u n g des Klassencharakters dar- stellt. Reformismus streut dem Volk Sand in die Augen, was nur dadurch geht - um der Logik auch dieses Arguments gerecht zu wer- den -, daß er dem Volk manches erspart und bietet. Die revisionistische Betrachtungsweise entsteht aus der Sehnsucht nach einem gerechten Staat und erzeugt in ihr ihre "Fortschritte". Psychologische G r ü n d e sind es nicht, die den Linken ihr Weltbild eingeben - was sie nicht hindert, sich dieser Lüge in ihren innerlinken Grabenkämpfen selber anzuschlie- ßen. Daß sie vollends für verrückt erklärt werden, wenn sie Staatsmaßnahmen aus der Not der Regierung bei der Verhinderung i h r e s Erfolgs ableiten und mit ihren persönlichen Opfern für die Demokratie, die sie meinen, werben, ist allerdings auch wie- der kein Wunder. Wer soll eigentlich solche V o r b i l d e r imitieren, um ausgerechnet die Demokratie zu retten vor F.J. Strauß, den er vielleicht, vielleicht aber auch H. Schmidt (Antifaschist? Demokrat? Arbeiterverräter? Oder was?) wählt! - Die I n t e l l i g e n z bietet für die klassenanalytische Einordnung Probleme und Erleichterung zugleich. Letztere besteht darin, daß sie keine Arbeiter nicht sind, also kein revolutio- näres Subjekt in ihnen steckt. So wenig ein Revisionist einem Ar- beiter etwas Schlechtes nachsagt, auch wenn er sich "noch nicht" zu seiner Mission berufen fühlt und sich vorerst von Reaktionären einseifen und falschen sozialdemokratischen Fünfzigem verraten läßt - auf ihn s e t z t ja die Partei, statt ihn von der Nütz- lichkeit des Kommunismus zu überzeugen -, so einfach findet er eine üble Nachrede für einen Studiker: es handelt sich um eine s c h w a n k e n d e Z w i s c h e n s c h i c h t. Daran stört einen Linken, der gerade eine Partei aufgemacht hat, weder die Tatsache, daß er vielleicht selber ein paar Semester herun- tergerissen hat und jetzt doch einigermaßen entschlußkräftig auf Revolution sinnt - noch die andere unbestreitbare Tatsache, daß ganz Bonn, der Beamtenapparat, die Führungsmannschaft jedes an- ständigen Unternehmens und die Welt der Wissenschaft von resolu- ten akademischen Unholden nur so wimmelt. Ein Problem wird aus dem Befund in anderer Hinsicht: müßte nicht gerade aus der Unzu- verlässigkeit für die falsche Seite mancher Bundesgenosse zu ho- len sein? Hat die Geschichte der Arbeiterbewegung, in der jenes Urteil über die Intelligenz von einem Angehörigen der Intelligenz gefällt wurde, nicht auch vom "Bündnis von Proletariat und Wis- senschaft" gelehrt? Und schließlich: gab es nicht auch in Rußland eine Studentenbewegung? Also war hier noch einiges zu klären, und zwar je nach Partei auf verschiedne Weise - wobei ganz nebenbei auch der - vorläufigen - Beschränkung auf die Intelligenz Genüge getan weiden konnte. Aber auch hier entwickelte der realistische Sinn des Revisionis- mus recht exotische Blüten. Zunächst wurde mit Marx gestritten um die Zugehörigkeit zum "produktiven Gesamtarbeiter", woraus die Lösung der Frage erwachsen sollte, ob man auch hier ein "objektives Interesse" an der Morgenröte des Sozialismus erhoffen dürfe. In einfacherer Fassung gibt es diesen Schmarrn, der auch bei Arbeitern doof genug ist, heute als Tendenz: zum Lohnarbeiter werden sie alle "degradiert", um das und in ihrem Studium müssen sie konkurrieren, im Hörsaal ist kein Platz und die Lebensbedin- gungen sind insgesamt "studentenfeindlich". Also nicht mehr lange fragen, warum die Studenten das mitmachen, sondern ihnen einfach sagen, wie schlecht es um sie steht - die Perspektive an der Seite der gewerkschaftlich-orientierten Arbeiterklasse ist gesi- chert. Einer Partei war das suspekt, so daß ihr der Klassengegen- satz zwischen "besitzenden" und anderen Studenten auffiel; die Parole "Arbeiterkinder an die Uni" konterte sie mit ihrer Deutung der "Studienverschärfung": hier liegt ein Anschlag der Bour- geoisie auf die Arbeiterkinder an d e r Uni vor - und das er- zählt sie seitdem in der Hoffnung, daß sich die studentischen Massen für den Klassenkampf begeistern, statt durchs Studium in den Genuß eines angenehmeren Lebens kommen zu wollen. Alle Varianten ermöglichten auf ihre Weise wieder einmal präch- tig, alles, was man von bürgerlicher Seite zu hören bekam, auf die Konkurrenz schöpferisch anzuwenden: die anderen finden keinen Anklang, sind also nicht nur"sektiererische Chaoten", sondern auch - I n t e l l e k t u e l l e. Gegen deren I d e o l o- g i e n mußte man also etwas sagen, so daß ein herzerfrischender Kampf gegen die bürgerliche Wissenschaft einsetzte, aber nicht mit den Mitteln der Wissenschaft, sondern mit Hilfe der je eigenen M o r a l. Es galt, grundsätzlich zwischen "fort- schrittlichen" und "reaktionären" Gedanken zu unterscheiden, und für diesen Unterschied wurde erst einmal "Marx an die Uni" berufen - selbst hatte man sich ja die Wissenschaft von Marx spa- ren können bis zu diesem Zeitpunkt, an dem der Standpunkt es nun doch erforderlich machte. So wurden an bundesdeutschen Universi- täten Marx & Engels gelesen, wo immer das Thema und ein fort- schrittlicher Hochschullehrer, der über der Studentenrevolte sein Herz für die Reform der Hochschule und ihren sozialen Auftrag entdeckt hatte, es zuließen. Das Ergebnis war einigermaßen beru- higend: die Berufung von/auf Marx sorgte dafür, daß erstens alles "gesellschaftlich" betrachtet wurde und zweitens der Student sich betrachten durfte als einer, der sich unter Anleitung oder im Un- terschied von der Massenorganisation der Partei als Problem be- handeln muß. P s y c h o l o g i s c h wurden die Fragen "Wo komm' ich her? Wo geh' ich hin?" also auch breitgetreten, so daß weniger die revisionistischen Parteien als die bundesdeutschen Hochschulen Fortschritte machten. Ideologisch durch die Moderni- sierung der Lehre und Forschung - heute endlich ist jedes Fach psychosoziologische Philosophie der Demokratie -, personell durch die Bestückung der Universitäten mit fortschrittlichen Hochschul- lehrern und ähnlichem Zeug. Heute jedenfalls braucht es nicht mehr die Initiative einer echten Partei, um sich an T h e m e n wie Bauernkrieg, Vormärz, Neofaschismus, Arbeiterbewußtsein und Sprachkritik und der dazugehörigen E i n b i l d u n g zu be- rauschen, man tue etwas ungeheuer Soziales und habe ein Verständ- nis zu den Menschen draußen und in der Geschichte. Das Verhält- nis, das man h a t - das Bewußtsein, im und durchs Studium eine ungeheuer soziale Tat zu begehen -, geht eben auch mit einem ge- wöhnlichen und nicht auf Weltrevolution hin orientierten Idealis- mus, also auch ganz ohne die E m p ö r u n g, aus der damals die Arbeiterparteien den letzten Punkt ihrer Klassenanalyse ver- fertigten, die korrekt der Parteilinie entnommene Begutachtung des - I m p e r i a l i s m u s. Auch dieser stellte sich recht zwie- schlächtig dar: an der Empörung der Studenten über Vietnam und andere Massaker war abzulesen, daß für Demokraten, die wenigstens das Ideal der Gewaltlosigkeit des Staates nach außen haben, der Imperialismus eine U n g e r e c h t i g k e i t ist und als solche die berechtigte Parteinahme für den Sieg anderer Völker verlangt. An den bereits e r r u n g e n e n Siegen, für die die Parteien Partei ergriffen, entstand wieder einmal Streit. Hier ging es um die Staaten, die jedermann als Vorbild taugen sollten - und auf diesem Felde haben Idealisten gerechter Herr- schaft samt der dazugehörigen Außenpolitik nun einmal unterschiedliche Meinungen. Diese lassen sich nicht einmal in den schönen Solidaritätsveranstaltungen überbrücken, auf denen die einen für Zimbabwe einen heben, dasselbe Verfahren aber in Sachen Äthiopien schärfstens mißbilligen und das für zynisch halten, weil Unterstützung des Sowjetimperialismus. Umgekehrt, umgekehrt - und so ist nicht nur über den Imperialismus wie über alles andere auch wenig herausgekommen. Die anti-imperialistischen Aktivitäten, selbst die in den Betrieben, sind zunehmend abgeflaut; und da ohne Praxis keine Theorie geht in diesen Kreisen, wird wohl auch die Debatte China - Cuba - UdSSR - Albanien nie zu einem guten Ende kommen - wenngleich noch immer ein Blick auf bevorzugte Befreiungsbewegungen, deren "Basis" garantiert nicht weiß, wo die Imperialisten wohnen, die ihnen die Waffen in die Hand drücken lassen, gute Dienste leistet für die Lüge von einer Welt im Aufbruch, deren Tendenz man selbst ein Teil ist. Den Abschluß einer gescheiten Klassenanalyse hat eben von jeher die internationale Lage gebildet, zu der sich eine ebenso feste Haltung und Perspektive gehört wie zu allen anderen Unarten der bürgerlichen Welt, die man dieser vorzurechnen gedenkt. 2. Die agitatorischen Leistungen des BRD-Revisionismus ------------------------------------------------------ Mit den Urteilen über die kapitalistische Welt und ihre Agenten ist zwar wenig über diese gesagt, dafür umso mehr über das unan- fechtbare Sendungsbewußtsein von Leuten, die aus ihrer W e l t a n s c h a u u n g kein Hehl machen und sehr stolz auf sie sind. Sicherheit besitzen sie in bezug auf ihr i d e e l l e s V e r h ä l t n i s zu den Ausgebeuteten, Un- terdrückten, Zukurzgekommenen eben zur Mehrheit des Volkes, den Massen, als deren Vertreter sie sich wähnen, weshalb sie auch mit dem r e e l l e n V e r h ä l t n i s zu den Massen keine all- zugroßen Schwierigkeiten bekommen. Jedenfalls ist ihnen in ihrem Bedürfnis, sich als d e r Anwalt jeglicher Unzufriedenheit zu präsentieren, kein Zweifel anzumerken - weder in bezug auf die faktische Übereinstimmung mit den Interessen ihrer Adressaten noch hinsichtlich der Konsequenz, die ihre Sichtung der Welt nach sich zöge, wäre sie wahr. Als Anwälte des Volkes, die seine urei- gensten Wünsche realisieren, müßten sie keine Silbe an die guten Massen und über die volksverachtenden und menschenfeindlichen Bosse und Reaktionäre verlieren. Die Parolen von denen, die sich alle vereinigen und erheben sollen, wären ebenso überflüssig wie die vielfältigen Angebote zum Dienen. Da sie aber in ihrer Klas- senanalyse sämtliche Klassen (und nicht nur die) auf ihr Ideal einer gerechten Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft beziehen und sie per definitionem mit den Eigenschaften ausstatten, die für die Erfüllung der "Mission" vonnöten sind, bleibt den Revi- sionisten angesichts gewisser Zögerlichkeiten in der Durchführung des Parteiprogramms doch nicht alles erspart. Zwar haben sie mit ihrem Staatsidealismus, in dem sie das Volksbedürfnis nach zu- stimmungswürdigen Dienern anerkennen, der Verlegenheit vorgebaut, die Massen k r i t i s i e r e n und davon überzeugen zu müs- sen, daß es für s i e das Beste ist, Klassenkampf zu machen und als Gegner der politischen Herrschaft aufzutreten - agitieren aber müssen sie schon, eben für ihre linke Sorte Politik als "Ausdruck des Volkswillens". Für dieses Agitationsgeschäft eignet sich nun allerdings die Klassenanalyse hervorragend. Sie ist unmittelbar eine ganz p r a k t i s c h e T h e o r i e, weil sie gleich die M e t h o d e des gesamten Verkehrs mit den Massen darstellt, denn sie enthält alles, was über die bestehende Einheit von Mas- sen und Parteilinie gesagt werden muß; die gesammelten Hinweise auf den Stand der Bewegung, wie ihn die Partei sieht, damit sie sich als Ausdruck wiedererkennt, liegen da vor - so daß alle Adressaten nur noch mit dem für sie geeigneten Trumm Weltbild ausgerüstet werden müssen. Immer brauchbar sind da die sprachlichen Varianten, deren ein Re- visionist mächtig ist, wenn er an den von ihm längst erkannten Kampfeswillen a p p e l l i e r e n will. "Jetzt reicht's!", "Das Maß ist voll!" sind da noch die leichtesten Übungen, denn da gibt es noch den chinesischen Imperativ, den längst auch die So- wjetfront anzuwenden versteht: "Für die eigenen Interessen kämp- fen!" Falls zufällig Studenten gemeint sind, gehört hinzugesetzt: "Mit der Arbeiterklasse verbünden!" Falls Zweifel aufkommen ("was denn nun?"), ist irgendetwas mit "Seite an Seite" oder so ratsam. Die politische Rhetorik macht da wirklich keinen Unterschied zwi- schen den Bildungsunterschieden, weil sie ihre eigenen, ganz pri- mitiven Gesetze befolgt und jenseits allen üblichen Sprachge- brauchs operiert. Da wird ein "unerhörter Anschlag" gestoppt, so- bald überhaupt ein Konflikt stattfindet, und wenn für jeden Blöd- mann ersichtlich nichts Gescheites herauskommt, muß die Nachbe- reitung der Affäre umso sorgfältiger vollzogen werden. Einerseits war es ein "konkreter Teilerfolg", der manchmal schon darin be- steht, daß etwas "gelaufen ist" - "bei den Kolle- gen/Kommilitonen", die sich aber noch mehr auf die Tugend der "Solidarität ist unsere Waffe" besinnen müssen. Das nächste Mal, wenn sich die "Betroffenen wehren müssen", ist dann gleich eine Warnung zur Stelle: "Laßt euch nicht täuschen... spalten... die Butter vom Brot nehmen!", was auch ganz hübsch klingt, wenn der Appell gleich in der 1. Person ertönt: "Wir dürfen nicht resi- gnieren!", weil die Herrschenden darauf ja nur warten. "Wir müs- sen uns gut vorbereiten!", "noch umfassender und konsequenter", "die Erfahrung hat uns gelehrt, daß" vor allem "das Bündnis noch breiter und fester geschmiedet werden muß", um mit den tausend- fältigen Manövern der Bosse fertigzuwerden. Zur Weckung allgemei- ner Aufmerksamkeit eignet sich die Versorgung der Bevölkerung mit Sinnesorganen: Die Kollegen/Studenten haben erkannt..." "lassen sich keinen Sand in die Augen streuen", "erinnern sich sehr genau an...", wobei diese originelle Vorform der Organspende günstigen- falls mit dem Aufruf endet: "Kommt massenhaft!". Empfehlenswert auch die lockere Einordnung des eigenen Getöses in eine größere, kaum noch aufzuhaltende Tendenz: "Immer mehr haben erkannt...", "die Aktion hat gezeigt, daß die demokratische Bewegung überall Fortschritte macht" - ein Verfahren, bei dem es überhaupt nicht darauf ankommt, ob ein paar Studenten lieber nicht so viele Scheine machen möchten, ob ein paar Studentinnen für mehr Frau an der Uni eine Wandzeitung gemacht haben - oder ob im Hafen ein Streik wieder einmal eine einzige Kostenfrage geworden ist. Die Erfolgsmeldungen können aber auch ganz anders laufen; es muß nicht immer ein Wink mit der Zukunft oder dem Zusammenhang sein, den die Partei sieht man kann zum Beispiel vermelden, daß jeden- falls "nichts Schlechteres" als ohne den Tumult herausgekommen sei, und auf die gemeinsame Erfahrung pochen, daß "Kampf möglich" ist. "Werdet aktiv!", und zwar "selbst", denn "ohne eine Unter- stützung" läuft nichts, mit ihr geht's schon. Auch ein Lob macht sich nicht schlecht, wenn schon Tadel nicht zulässig ist. Obwohl nur ganz wenige, ziemlich "eindrucksvoll", das Zeugnis von der "Entschlossenheit". Nie darf man für irgendeine Maßnahme sein, ohne sie "entschieden" zu befürworten, und der Schein breiter be- wegter Wirksamkeit heizt die Massen geradezu auf. Was liegt da näher, als vom weitest entfernten Ortsverband eine Grußadresse zu ordern, eine Resolution zu beschließen, sie zurückzuschicken und draufzuschreiben: "Nicht locker lassen, Kommilitonen/Kollegen!". Solidaritätserklärungen immer abstimmen lassen, heißt übrigens die zweitwichtigste Technik der öffentlichen Veranstaltungen, an- schließend die Anwesenden mal zwei plus zwanzig - das gibt Kraft! Diese Praktiken beschränken sich keineswegs auf den Bündnispart- ner, die an die Seite der Arbeiterklasse getriebene Intelligenz. Auch die "Hauptkraft" Arbeiterklasse selbst kommt in den Genuß wohlwollender revolutionärer Interpretation ihrer Taten. Eine Ta- rifrunde, die streng nach dem gewerkschaftlich vorgesehenen Schema abläuft, wird von der ersten bis zur letzten Minute zur Veröffentlichung revisionistischer Illusionen benützt. Das Thea- ter um die Aufstellung der Forderung bewegt die für die Führung des Kampfes bereitstehenden Parteien zu "taktischen" Überlegun- gen, die dem längst ausgemachten Kampfeswillen seine adäquate Verlaufsform geben sollen. Die Forderungen der Linken, die sie alternativ zu den Gewerkschaften in die Debatte werfen, liegen manchmal über, bisweilen aber auch unter den Prozenten der Tarif- kommission - und das kommt daher, weil ein Linker von einer For- derung verlangt, daß sie nicht spaltet, sondern v e r e i n h e i t l i c h t. Stets fingiert die Agitation im Rummel der Tarifrunden das B e d ü r f n i s nach solidarischem Kampf, und immer wird dieses erfundene Bedürfnis von spalteri- schen Bonzen hinterlistig umgangen (dies ist das ganze Konzept der RGO!). Daß etwas für die Einsicht in die N o t w e n d i g k e i t des Kampfes getan werden muß, daß sich erst auf Grundlage dieser Ein- sicht die Überlegung einstellt, effektiv vorzugehen, erscheint den Revisionisten angesichts der "in Bewegung" geratenen Basis als ziemlich absurde Vorstellung. Schließlich haben sie sich längst mit der Arbeiterklasse darüber ins Einvernehmen gesetzt, daß nach Lenin "der Kapitalismus in seiner monopolistischen Peri- ode faulender, sterbender Kapitalismus" ist; schließlich haben sie außer solchen weltgeschichtlichen Statements auch noch Flug- blätter in den Betrieben verteilt, die das R e c h t und die Möglichkeit des Kampfes um einen gerechten Lohn aus den hohen Profiten der Bosse ableiten; jede Partei hat denen, die die Aus- beutung erfahren, mit handfestem Zahlenmaterial über das Mißver- hältnis zwischen Konzerngewinnen und Arbeiterlöhnen das Bewußt- sein vermittelt, daß es so nicht weitergehen könne - also mit Be- rechnungen über das M a ß d e r A u s b e u t u n g und den sie begleitenden Karikaturen (schwitzende Proleten ziehen Wagen mit Zylindermännern drauf!) gezeigt, auf wessen Seite sie steht und so ihrem Anspruch Genüge getan, im Proletariat "verankert" zu sein. So als wäre der Reichtum der Bosse und nicht die Armut der ihn produzierenden Proleten der Grund für den Klassenkampf, sind die auf Verankerung gegangenen frisch gegründeten Parteien mit Berechnungen der Mehrwertrate an die Betriebe gegangen und unter- einander in Streit darüber geraten, wie hoch das Ding nun eigent- lich sei. Linke Theoretiker des Klassenkampfes haben ihre ökono- mischen Bedenken zu den vorgelegten "Bilanzanalysen" angemeldet, und allesamt haben sie Zahlen ermittelt, die ausgesprochen lä- cherlich ausgefallen sind. Die schöpferische Anwendung der Kapi- tallektüre, in der sich die frischgebackenen Parteigänger der Massen i h r e Gründe suchten, für das Proletariat zu sein, en- dete in der trostlosen Beschwörung der ungerechten Verteilung und unendlich viel Mitgefühl mit den Zukurzgekommenen. Diesem Men- schenschlag wurde also ständig bescheinigt, daß er in seiner gan- zen Güte zum Opfer gieriger Gewinnemacher werde, so daß der Standpunkt der M e n s c h h e i t aufs Erfreulichste zum Tra- gen kam, den Marx schon bei den historischen Vorläufern dieser Sorte Kommunismus feststellen konnte: "Der Feind der Partei wird ganz konsequent in einen Ketzer ver- wandelt, indem man ihn aus dem Feinde der wirklichen Partei, mit dem man k ä m p f t, in einen Sünder gegen die nur in der Ein- bildung existierende M e n s c h h e i t verwandelt, den man b e s t r a f e n muß." Die einschlägigen Phantasien, die vor allem beim KBW zur Blüte gelangt sind, haben natürlich ihre andere Seite in der Vorstel- lung gezeitigt, man müsse die Einheit mit der großen besseren Hälfte der Menschheit durch so Quatsch wie "proletarischen Le- bensstil" unter Beweis stellen; und die idealistische Einbildung von einem Volk, das von den eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen beflügelt ist, hat sich auch durch die Erfahrung mehrerer zehn- jähriger Parteigeschichten nicht irre machen lassen. Daß die pro- letarischen Massen am M a t e r i a l i s m u s ihrer Konkur- renz, von dem sie nicht viel haben, festhalten, gilt einem Revi- sionisten als Zeugnis dafür, daß er den I d e a l i s m u s der Massen zu gering eingeschätzt hat: er hält seine falsche Agita- tion mit der Ausbeutung für glatten Ö k o n o m i s m u s, be- zichtigt sich also selbst, "nur" auf die materiellen Interessen seiner Adressaten spekuliert zu haben, und landet beim p o l i t i s c h e n K a m p f, beim Katalog der Alternativen fürs demokratische Walten des Klassenstaats. Sogar zu den bürger- lichen Ideologien von den nicht mehr vorhandenen materiellen Nö- ten versteigt sich diese Linke, um in einer Bestechungstheorie neuen Zuschnitts zu behaupten, durch Zugeständnisse aller Art auf dem Feld der elementaren Lebensbedürfnisse seien dem Proletariat von heute der Kampfesmut und die Perspektive des Sozialismus aus- getrieben worden. Da konnte die Suche nach V o r b i l d e r n in der Geschichte der Arbeiterbewegung und in anderen Weltgegenden nicht ausblei- ben. Außer einer stattlichen Bibliothek von Arbeiterromanen der zwanziger Jahre und lebendigen Schilderungen von heldenhaften Kämpfen in Italien - wo die "Erfahrung des Kampfes" noch nicht "abgerissen" ist - haben die linken Verlage die westdeutsche Ar- beiterklasse mit allerlei Kampagnen beglückt, in denen sie sehen kann, daß i h r e Sache von a n d e r e n V ö l k e r n bei- spielhaft verfolgt wird. Mit diesen Anstrengungen freilich ist man von den p r a k t i s c h e n I n t e r e s s e n des re- volutionären Subjekts ein schönes Stück entfernt, so daß sich Propaganda und Aktion hauptsächlich in den Teilen des Volkes ab- spielen, die einen Sinn für Probleme der imperialistischen Ge- rechtigkeit und für die kunstfertige Verarbeitung "sozialer Wi- dersprüche" aufweisen. Das Publikum einer Politik, die sich die Sache der Arbeiter und Unterdrückten zu Herzen nimmt, will aller- dings auch gewonnen sein. Und zwar über die M o r a l und das ihr entsprechende Bedürf- nis, nicht nur einer g u t e n Sache, sondern auch einer s c h ö n e n beizuwohnen. Irgendwie muß sich "politisches Enga- gement" auch l o h n e n, damit es einem idealistischen Her- zensmenschen einleuchtet, der sich ja auch nicht immer ganz si- cher ist, ob die gerade besolidarisierten Arbeiter und unter- drückten Völker überhaupt was wissen von ihrem Glück. Deswegen auch immer mit Musik und Folklore, besonders wenn es sich um blu- tige Frontbegradigungen des Imperialismus handelt. In solchen Veranstaltungen, wo nur demokratische Freunde erscheinen, tun alle Revisionisten ihr Bestes, den (Noch-)Nichtkommunisten nicht den Abend zu versauen und sie mit großartigen Einsichten über die Natur des eigenen Staates und dessen Beteiligung Imperialismus zu behelligen. Da soll kein Christ, Humanist oder Naturfreund Angst haben, für etwas Verdächtiges eingespannt zu werden, so daß sich hier die demokratischen Massenorganisationen bewähren: die Ligen, Initiativen und Komitees, die den demokratischen Kampf "als Bedingung" für weitergehende Forderungen und Aktionen in die Hand nehmen. So gehört sich das, damit - wenn schon niemand über- zeugt wird von irgendeiner Notwendigkeit des Klassenkampfes - auch keiner verprellt wird, wenn er schon mal da ist! Politisch ist es daher auch, wenn linke Organisationen zum Vergnügen bitten und den Rock'n Roll, der da unter ihrer Anleitung getanzt wird, mit der eindeutigen Stoßrichtung "gegen Rechts" versehen. An den Universitäten schenken moderne Kommunisten in der BRD den Studen- ten, denen ihrer Ansicht nach das Studieren zu schwer gemacht wird, einen AStA und ganz eigene Fachschaften mit selbstgemachten Wahlen und Pappurnen, und wenn sie von 3% der Studenten auf ihren ebenso selbstgemachten 5 Listen eine Stimme haben, verlangen sie von ihren Wählern höchstens, sie möchten für die gesetzliche Wie- deranschaffung des abgeschafften AStA kämpfen. Das geschieht dann abermals an der Seite der Arbeiterklasse oder wenigstens des DGB, der ab und zu einen Funktionär oder Betriebsrat an die Uni schickt, um die Wichtigkeit der Gewerkschaft für alle zu unter- streichen. So ein Arbeitervertreter sagt zwar sicher am andern Tag vor Ort nichts davon, wie solidarisch 61 gewerkschaftlich- orientierte Idioten mit seiner Belegschaft sind, aber für die Studenten war es doch immerhin eine berauschende Standortbestim- mung. So geht das in einer Politik, die dem Volke dient - und zwar durch die ständige Information desselben (oder auch nur eines Bruchteils) über den Stand seiner Bewegung. Wer etwas anderes macht, ist "elitär" und "redet unverständliches Zeug"; wenn die Massen von Staats wegen mit einem Holocaust-Zirkus für die wirk- liche Demokratie, in der sie leben, agitiert werden und vom 17jährigen Oberschüler bis zum jüdischen Opa dankbare Gefühle und enormen Bekenntnisfleiß zur BRD an den Tag legen, so ist das sehr verständlich. Eben deshalb, weil ein anständiger Revisionist sein antifaschistisches Lieblingsthema noch nie so "breit" verankert sah und glatt bemerkt haben will, daß nur seine ideale Demokratie gemeint sein kann. Wenn ein Klose von der SPD behauptet, von ihm bekomme keiner Berufsverbot, der es nicht verdiene - und da kenne er sich als SPDler wohl aus! -, so ist das ein Meilenstein im Kampf g e g e n die Berufsverbote, der ansonsten reichlich be- sungen wird. Wie überhaupt alles nie bloß Niederlage, sondern im- mer auch Druck auf die Herrschenden, Auftakt zu neuen Kämpfen und Siegen ist - eine ohne jede Beteiligung der geliebten Massen zu bewerkstelligende Propaganda. Und einen anderen I n h a l t hat diese M e t h o d e nicht als den, sich unter Aufbietung aller Kräfte g l e i c h g ü l t i g gegen alle Widerlegungen zu verhalten - sei es in Form von theoretischer Kritik oder in Gestalt einer Welt, die partout nichts wissen will von ihrer revisionistischen Ausdeutung und Bemutterung. Revisionistische Agitation und Auf- klärung ist nicht nur vom ersten bis zur letzten Satz emanzipiert von Kritik an ihren Adressaten, die weder Revisionisten sind noch Kommunisten - sondern eben ganz gewöhnliche arbeitende Bürger, wenn nicht stinknormale Studenten -; sie hat sich auch f r e i g e m a c h t v o n j e d e r F ä h i g k e i t z u r S e l b s t k r i t i k. Blamiert sich das Ideal von der Bürger- seele auch noch so offenkundig in jedem Wahlkampf, wo die Massen ihren Sinn für die Staatsmacht beweisen und sogar mancher "Protestwähler" dann doch seine Stimme nicht verschenkt; blamiert sich die Verherrlichung der blutigen Benützung ganzer Negervölker für die Schaffung einer N a t i o n vor denselben Bürgern, weil sie eine haben und nicht wissen, warum sie für eine andere ver- antwortlich sein sollten; wird schließlich die Anbiederung an an- dere Idealisten - Christen, Humanisten - an deren durchaus anders gemeintem Zweck zuschanden - kurz: was immer auch ablaufen mag im Kampf um die Perspektive, ein Revisionist mag sich mit seinen Irrtümern nicht anders auseinandersetzen als er es mit den Feh- lern seiner Adressaten tut, eben r e v i s i o n i s t i s c h. Dafür trifft er sogar organisatorische Vorsorge. Von den ersten Tagen der Parteigründung bis zu den Stunden, in denen die Auf- bruchstimmung längst verflogen ist, kümmern sich revisionistische Parteien um die detaillierte Ausgestaltung der S p i e l- r e g e l n des "demokratischen Zentralismus". Mit ihnen schaf- fen sie sich die Verkehrsformen, die das Weltbild des Vereins einer Überprüfung entziehen, dafür das der Mitglieder dem kritischen Vergleich mit d e r L i n i e unterziehen. Politi- sche Fehler lassen sich nämlich einzig als Abweichung von der Li- nie dingfest machen. Daß einem Beteiligten ein neues Argument einfällt, das er äußert, um die Politik zu korrigieren, muß einer Vereinigung von Leuten, die ein Ideal eint, abwegig erscheinen. Als Idealisten organisieren sie ihren Zusammenhalt eben wie in einer Demokratie, also mit Unterwerfung und Zustimmung. Korrektu- ren der Parteilinie finden entweder gemeinsam, durch Spaltung oder überhaupt nicht statt - auf jeden Fall entsprechend der Par- teilinie. 3. Konsequenter Opportunismus: Der Rechtsrutsch der Linken ---------------------------------------------------------- Ein gestandener und organisierter westdeutscher Linker ist das hat er mit einem gläubigen Christen gemein - fast unangreifbar. Er glaubt derart fest an seine ideale Weltsicht, seine Perspek- tive und den eigentlich idealen Zustand "der" Bewegung, daß er sich von einem Hinweis auf einige Ungereimtheiten in seinem mar- xistisch-leninistischen Gedankengebäude oder auch nur darauf, daß die Wirklichkeit der politischen Landschaft in der BRD anders aussieht, als e r sie sieht, nicht beirren läßt. Auch die nicht zu übersehenden Mißerfolge, denen sich die Linken jahrelang, seit es sie gibt, gegenübersahen, wußten sie auf ihre Weise zu ver- kraften: mit der Lüge, in Wahrheit stünde die bewegte Welt doch geschlossen hinter ihnen, die stets gemeinsam auftritt mit der diese Lüge dementierenden, dafür Hoffnung stiftenden Parole, bei angemessener Vorbereitung und noch größerer Konsequenz seien "Erfolge möglich". Nach dem schönen alten und fernöstlichen Motto "Kampf - Kritik - Umgestaltung", demzufolge es "aus den Fehlern der Vergangenheit" immer nur das Eine "zu lernen" gibt, daß näm- lich die Massen fast schon zum Aufstand entschlossen sind, nur das richtige Fanal noch gefehlt hat, demonstrierte noch jeder Parteitag Ge- und Entschlossenheit, die Tugend der Kraft und einen neuen Sprung nach vorn. Trotz allem ist der i d e a l i s t i s c h e O p p o r t u- n i s m u s der Anbiederung an eine rein eingebildete "Mas- senlinie", den Westdeutschlands Revisionisten praktizieren, nicht ganz unberührt geblieben durch den Umstand, daß auf der erwähnten Linie nie auch nur die geringsten Massen, geschweige denn proletarische, anzutreffen waren: Er hat sich konsequent und prinzipientreu fortentwickelt. Gemäß dem Grundsatz: "Kommunisten müssen in a l l e m die Führung innehaben!", den man für hiesige Verhältnisse ruhig weniger hochgestochen so übersetzen darf: 'A l l e s ist eine C h a n c e, denn an a l l e m, was die Leute irgendwie auf- oder anregt, muß ja etwas dran sein, weil es doch Ausdruck ihrer Bewegtheit ist, haben die organisierten Linken neben der eigentlichen "Haupttendenz" noch weitere neue "Aufgaben" aufgespürt und sich in Agitation und Aktion auf Verrücktheiten konzentriert, die sie sich vom Volk, wie es nun einmal ist, besonders vom intellektuellen, eingeben ließen. - Chance Nr. 1 liegt für die Linke ausgerechnet in dem beim westdeutschen Volk tief verwurzelten A n t i k o m m u n i s m u s. Denn weil Revisionisten sich die Abneigung ihrer Adressaten gegen ihre Politik stets so erklären, die geliebten Massen - seien in einem Irrtum darüber befangen, w i e g u t sie es mit ihnen meinen, sind ihnen - gemäß ihrer eigentümlichen Dialektik sämtliche Topoi des Kommunistenhasses ganz extra gute Gelegenheiten, durch vorbehaltlose Z u s t i m- m u n g zu demonstrieren, wie sehr das Volks sich irrt, wenn es seinen Haß ausgerechnet gegen s i e richtet. DKP und ihr MSB praktizieren diese überhaupt nicht taktische Behandlung ihrer Adressaten schon immer mit ihrer saubermännischen Kritik an allem, was sich sonst noch "links" und "Kommunist" nennt in diesem unserem Lande, bis hin zum Gerichtsverfahren gegen Kon- kurrenten, die diesen "Ehrennamen" in den Schmutz ziehen, indem sie ihn sich zulegen; dies ergänzt durch die Ausmalung der DDR zu einem Traumbild von Staat: ohne Gammler, nur mit wohlfrisierten Studenten, die eifrig lernen statt zu randalieren, und mit Poli- tikern, die nur so strotzen von Biederkeit. An den Gründen, aus denen das staatsbürgerliche Bewußtsein des Westlers trotz - zu- mindest für ein faschistisches Gemüt - so "ansehnlicher" Qualitä- ten der "kommunistischen Sache" sich deren Protagonisten als ter- roristische Finsterlinge vorstellt, geht diese Sorte Anbiederei natürlich ebenso vorbei - und bleibt daher ein ebenso hoffnungs- loses Unterfangen - wie die umgekehrte der übrigen Linken, die allen Ernstes glauben, s i e hätten es so schwer beim Volk, weil das von den Errungenschaften des "realen Sozialismus" drüben so tief enttäuscht sei, und deswegen jeder nationalistischen Feindschaftserklärung an die Adresse der DDR und der Sowjetunion i h r e tiefste Sympathie aufdrängen. Als hätte das bundesdeut- sche Volk je einen abwägenden Vergleich zwischen dem sozialisti- schen und dem kapitalistischen "Modell" angestellt und sich per saldo schweren Herzens dazu entschlossen, dann doch lieber nicht kommunistisch werden zu wollen; ja: als wäre die ideologische Be- schwörung der "Unfreiheit" im Osten der G r u n d dem ein west- liches Gemüt der Freiheit seiner Nation die Treue aus hält; also mit einer auf reichlich idealistischen Prämissen beruhenden List tut sich der Teil der Linken, der sich deswegen auch noch für "antirevisionistisch" hält, noch vor den westdeutschen C-Gruppen und -Parteien hervor im agitatorischen Theater über mangelnde De- mokratie im Osten. Begierig greift man das Thema auf, an dem die bürgerliche Öffentlichkeit sich mit Vorliebe ihre Kreuzzugsgesin- nung b e s t ä t i g t. Im Lamento über die östlichen "Dissidenten" g l a u b t die gesamte Nicht-DKP-Linke sich end- lich einmal einig mit den tiefsten politischen Wallungen des "eigentlich" freiheitssehnsüchtigen Volkes und w i r d sich darin und insoweit untereinander tatsächlich einig. So gehorcht die wechselseitige Kritik unter den linken Parteien wie immer dem einen Gesetz: jeder bürgerliche Vorbehalt gegen was für einen Kommunismus auch immer, jeder Vorwurf von außen wird begierig aufgegriffen und gegen die andere Partei gerichtet - so daß diese Abteilung Sympathiewerbung unter dem Strich dem Volk in allen Belangen r e c h t gibt, in denen es sich für die kapita- listischen Zustände erwärmt. Gerade so als wüßte die Geschichte um das Anliegen der westdeut- schen Linken, läßt sie im Osten einen kritischen DDR-Staatsapo- stel aufstehen: der schreibt "als Kommunist" die "Alternative" zum "realen Sozialismus" auf, landet dafür drüben im Knast - und fertig ist der Fall, mit dem man sich in der Heimat einmal wieder sehen lassen können möchte und die Zerrissenheit überwindet. In unzähligen Aufsätzen, Stellungnahmen und Resolutionen, in Bahro- Komitees und auf einem ganzen Bahro-Kongreß legt der "Antirevisionismus" seine letzten Hemmungen ab, mit dem Antikom- munismus unisono zu reden. Das Linke an den Linken kommt nur noch darin zum Vorschein, daß sie als einzige in dem ganzen Theater die H e u c h e l e i der westlichen Menschenrechtskampagne für bare Münze nehmen und aus den darin propagierten höheren Werten, ganz als hätte in denen ihr sehr einseitiges Einverständnis mit der bürgerlichen öffentlichen Meinung eine solide beiderseitige Basis, eine Zukunftsperspektive ableiten, mit der sie s i c h, und zwar immer noch in einem gewissen Gegensatz zu den politi- schen Verhältnissen in den Heimatländern dieser Kampagne, ins R e c h t setzen wollen. Denn immerhin s o l l ja ihre kriti- sche Fortentwicklung des alten "Deutschland ist unteilbar!" zu der Parole "Sozialismus und Demokratie sind unteilbar!" a u c h (!!) eine kritische Note gegen die BRD enthalten. Durch ihre "breite Solidarität" mit linken SPDlern, russischen Emigranten, ehemaligen Prager Frühlingsboten und ganz normalen Studierten - auch Löwenthals Nico Hübner wird inzwischen vorbehaltlos mit ein- bezogen - wollen sie sich ja gerade von der bürgerlichen Öffent- lichkeit die wohlwollende Erlaubnis besorgt haben, auf sehr stim- mungsvollen "Antirepressionstagen" und vor juristisch sehr kor- rekten "Russell-Tribunalen" ihre Deutung der BRD als ziemlich "repressives System" anzumelden und ihren Heimatstaat wegen man- nigfacher "Verletzungen" seines Rechts zu tadeln. Die genaue Ko- pie des Rechtsverfahrens hat enorme m o r a l i s c h e Folgen, und zwar in der genau entgegengesetzten Richtung als der, die be- absichtigt ist. Spätestens dann merkt nämlich noch der letzte Depp sofort den gewaltigen Unterschied, ob BILD und SPIEGEL oder KPD und engagierte Alternativlinke "Menschenrechtsverletzungen" und fehlende Freiheiten im Ostblock geißeln; und weil im Normal- fall die Heuchelei der ersteren seine eigene ist, "entlarvt" er voll vergnüglichem Abscheu taktische Absicht und Heuchelei der letzteren. Für die "antirevisionistische" und "undogmatische" Linke der Re- publik sind solche Erfolge bei der Ausnützung ihrer "Chance Anti- kommunismus" jedoch nur ein weiterer Ansporn, um so heftiger mit der bürgerlichen Öffentlichkeit um die A n e r k e n n u n g d e r G l a u b w ü r d i g k e i t ihrer ehrlichen Absichten zu rechten und zu ringen. Von jedem dahergelaufenen Christdemo- kraten, der ertrunkene wie durchgekommene Vietnamflüchtlinge als Beweis für die Menschlichkeit des Imperialismus der USA und ihres Indochinakrieges g e n i e ß t, läßt diese Linke sich inzwi- schen das Problem aufdrängen, ob man nicht mit der einstigen Ver- urteilung amerikanischer Massaker und der Parteinahme für die Ge- genseite zu v o r e i l i g und e i n s e i t i g gewesen ist; mit "Tribunalen" über die, denen man einst wenigstens in der Phantasie zur Seite gestanden hat, leistet man heute öffentlich Abbitte für alle häßlichen Töne, die damals gegen die Brutalität lautgeworden sind, deren westliche Demokratien ganz souverän fä- hig sind. Wie gut paßt es da, daß der Fall Afghanistan eine so einzigartige Gelegenheit bietet, die linke Perspektive schöpfe- risch mit einer entschiedenen Befürwortung sämtlicher "Ahwehrmaßnahmen" des westlichen Imperialismus zu verknüpfen - und mit einem unbedingten Einverständnis mit der Rolle der BRD "zwischen den Blöcken"... - Den Übergang zur Chance Nr. 2 findet die Linke über einen gran- diosen negativen Schluß: wenn das revolutionäre Subjekt Arbeiter- klasse keinen Kampfeswilllen zeigt, muß es ihm relativ gut gehen; a l s o liegt der Ansatzpunkt sozialistischer Politik heute vor allem bei den "Erniedrigten und Beleidigten" des alten Kommuni- sten Dostoevskij, die staatliche "Repression" und "ungerechte Verteilung" e x t r e m zu spüren bekommen: bei den R a n d g r u p p e n. Die Rote Hilfe, die denen zuteil wird, die der Staat nach seinen Kriterien als sehr kleines Problem be- handelt - also wohl extra für die Linken links liegen läßt -, be- steht darin, an den typischen Randgruppenerscheinungen in Sachen "Möglichkeiten der Herausbildung sozialistischen Bewußtseins" fündig zu werden. Die Bedingungen dafür sind ausgezeichnet. Wer wollte schon bestreiten, daß im Knast - wo das Recht seinem Be- griff, Gewalt zu sein, sehr deutlich entspricht - die Individua- lität der Insassen kaputtgemacht wird; daß Fixer sich kaputtma- chen; arbeitslose Jugendliche ihre Kraft, die nicht gebraucht wird, im Rocker-Gewalt-Unwesen autonom austoben und dafür eins auf die Schnauze bekommen; daß der private Faschismus der Fuß- ballfans unter ihnen "Formen der Gemeinsamkeit" erzeugt; daß Schwule es immer noch schwer haben, als solche voll anerkannt zu sein, und entsprechend vom Gesetz behandelt werden? Zu allen die- sen wenig schönen Lebensumständen in der bürgerlichen Gesell- schaft haben die Linken ihre Deutung parat: Erstens handelt es sich hier - wie für Revisionisten immer, wenn sie Leute in Schwierigkeiten entdecken - um Probleme der G e s e l l s c h a f t, die zweitens in der menschenfeindlichen BRD n i c h t g e l ö s t sind, wodurch drittens den Betroffe- nen ganz von selbst die Augen darüber aufgehen, daß es ihnen erst im Sozialismus gut geht. Also: Im Knast erfährt man nicht die harte Seite der staatlichen Gerechtigkeit, mit der ein anständi- ger Verbrecher von vornherein kalkuliert hat, sondern man sieht sich in seinen geheimen Hoffnungen auf die liebevolle Zuneigung des demokratischen Sozialstaats enttäuscht und macht "Repressionserfahrungen" (linke Anhänger eines gerechteren Rechts nennen die Gefängnisse denn auch lieber "Repressionsanstalten", weil dort den Insassen doch "eigentlich" eine zum Sozialismus tendierende Neigung zum Aufruhr abgewöhnt werden soll); dem Dro- genrausch ergibt man sich aus Protest gegen die schlechte Welt, merkt also vor- oder hinterher, daß "ohne Sozialismus alles sinn- los" ist; Rocker sehnen sich in der Tiefe ihres Herzens nach ei- ner nützlichen Aufgabe für die Allgemeinheit und spüren, daß der K a p i t a l i s m u s sie frustriert; Schwule haben mit der ihnen eigenen Sensibilität die geschichtliche Bedingtheit und Be- grenztheit gesellschaftlicher Normen durchschaut, sind deshalb schwul geworden, weil sie sich diesen Normen nicht beugen wollen, und stehen deswegen mit einem Bein immer schon in der sozialisti- schen Zukunft; und auch den Lesben, die der Staat einigermaßen in Ruhe läßt, hat sich in Wahrheit die Problematik erfüllten Mutter- tums im Kapitalismus aufgedrängt. Kurz: soviel Leute mit Spezial- problemen, soviele "Risse im System". Wie diese Leute mit sich und der Welt umgehen, was für einen Mist sie sich über beides ausdenken, wie sie vom Staat und ihren moralischen Mitmenschen behandelt werden und wie sie sich in dieser Behandlung einrichten - alles das ist für einen Revisionismus auf der Suche nach "gesellschaftlichen Widersprüchen" und einem "revolutionären Po- tential" n e b e n der immerzu nur "eigentlich" kampfbereiten Arbeiterklasse genuin politisch, genau besehen schon ein halber Aufstand und auf jeden Fall eine Chance, die man nicht auslassen darf. Kein Wunder daher, daß die "sozialistische Bewegung" vor allem die größte "Randgruppe" für sich entdeckt hat: die F r a u e n (inzwischen sind die A l t e n im Gespräch: erstens mausern die sich ja schon erfolgreich zu einem öffentlich anerkannten gesell- schaftlichen Problem, und zweitens werden die Kader ja auch nicht jünger...), zumal hier im Feminismus bereits eine zwar durch und durch "kleinbürgerliche", a b e r Protestideologie vorliegt, an welche konstruktiv und ohne "patriarchalische Bevormundung" anzu- knüpfen für einen geschulten Linken nicht die geringste Schwie- rigkeit bedeutet. Die Bünde und Parteien der Arbeiterklasse haben nur wenige Probleme damit, daß in den Reihen der Organisation Ge- nossen a l s Schwule, Lesben, Frauen sich und ihre reaktionären Ansichten ins politische Konzept einbringen. Dies ist eben das moderne kommunistische Programm der eigenen "Entpolitisierung", welcher Begriff hier einmal paßt; und ein KB leidet höchstens darunter, daß seine als undogmatisch geltende K-Gruppe sich in Flügelkämpfen aufreibt, weil die Lesben-Fraktion im Schwulen doch noch mehr den Unterdrücker Mann sieht denn den gleichgesinnten Homo. Auch das gehört zu den brennenden Fragen der Bewegung, ebenso wie die Entscheidung, das neutral gebrauchte 'man' nurmehr bigeschlechtlich (man/frau) zu gebrauchen, eine linke Verrückt- heit, der sich auch der MSB-Spartakus nicht verschließen will: seine überall eingerichteten AStA-Frauengruppen fordern, daß das Thema Frau breiter im universitären Lehrbetrieb vertreten sein solle, ganz ohne "Marx an die Uni". Streng verboten ist auf alle Fälle jegliche Kritik an der Kund- schaft, die die revisionistischen Vereine sich da unter den be- sonders "Leidtragenden des Systems" einzufangen gedenken und ein- gefangen haben. Denn es sind ja allein ihre Glückwünsche zur je- weiligen Absonderlichkeit ihrer Adressaten, die das "breite Bünd- nis" stiften. Das K r ä f t e v e r h ä l t n i s verschiebt sich damit enorm und ziemlich eindeutig: Der westdeutsche Revi- sionismus - vor allem in seinen "antirevisionistischen" Fraktio- nen - entwickelt sich von der "Vorhut der Arbeiterbewegung" zum ideellen Gesamtrandgrüppler. - Ihre letzte Chance entdecken Westdeutschlands Linke an sich selbst, nämlich in der Sehnsucht des psychologisch durchschnitt- lich geschulten Kopfes nach einem "unentfremdeten", "sinnerfüllten" L e b e n s s t i l. Wenn es nämlich gar nicht vorangehen will mit der Revolution; wenn die Welt, die doch sich zum Guten hinbewegt, von dieser ihrer "Haupttendenz" im eigenen Umkreis so gar nichts merken läßt, wenn die "Perspektive" der Linken so gar keinen Anklang findet; dann steht für einen Ideali- sten des Fortschritts zum Sozialismus ein Fortschritt seiner Po- litik an, der für alle Mißerfolge entschädigt, indem er einen kleinen Wechsel der Perspektive einführt: Er führt a n s i c h den Beweis, daß d e r S o z i a l i s m u s g e h t - trotz allem. Abstrus kann dieser Übergang nur jemandem erscheinen, der sich noch nicht mit den heutigen und hiesigen Linken zu der Auf- fassung entschlossen hat, daß der Sozialismus etwas weit Höheres ist als die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise - de- ren Machbarkeit an der eigenen Person nachzuweisen, dürfte in der Tat schwerfallen. Für die organisierte Linke Westdeutschlands ist dieses Unterfangen jedenfalls nicht absurd, sondern eine sehr konsequente Fortsetzung ihres Glaubens an die Welt als einen Kampfplatz des Guten mit dicken Bonzen und repressiven Bürokra- ten. Vom Vorkämpfer in einem vorgestellten Kampf aller Entrechte- ten machen die Linken den ganz kleinen Übergang dazu, sich eine sehr schöne Vorstellung von einem sozialistischen Vorkämpfer sämtlicher Menschheitsbefreiungskämpfe zurechtzulegen und d i e s e m e d l e n B i l d e n a c h z u l e b e n. Von der "F r ö h l i c h k e i t des Revolutionärs", der sich allem Guten, Wahren und Schönen verbunden weiß, bis zur E n t s c h l o s s e n h e i t, mit der jeder Tag dem Kampf ge- gen die gesellschaftliche Fäulnis gewidmet sein will; von der re- volutionären H i l f s b e r e i t s c h a f t, die das Zusam- menleben nicht nur zu einer permanenten Strapaze macht, sondern diese auch noch in heiterer Selbstlosigkeit "auszuhalten" gebie- tet, bis zum G e m e i n s c h a f t s g e f ü h l bei solida- rischem Sang und Klang und Sagen aus der Kampfzeit der Altvorde- ren (von Biermann bis Degenhardt); alles, und vor allem die be- sonders nötige Tugend, n i c h t z u r e s i g n i e r e n, sondern hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken, wird einem sol- chen Menschen zur lieben Pflicht (er sieht dann auch entsprechend aus!). Die DKP hat in ihrem neuen Programm jeden Verdacht ausge- räumt - oder es wenigstens versucht -, sie stünde bei diesem Übergang im stalinistischen Abseits: "Kommunist sein heißt, in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu wirken. Das schafft die besten Bedingungen für die Entfaltung der Persönlichkeit und die Bereicherung des Lebens jedes einzel- nen Kommunisten." Denn so beweist der linke Mensch praktisch, wenn schon die Welt es weder beweisen noch glauben will, erstens wie schön der Sozia- lismus ist - und zwar gerade wo es ihn sonst gar nicht gibt! - und zweitens wie einfach er zu haben ist - man braucht ja nur zu wollen! Als Demonstrationsobjekte für die Güte und die Realisier- barkeit der eigenen guten Sache aufzutreten, S o z i a l i- s t e n wie aus dem Bilderbuch z u s e i n, machen die Linken s i c h zu ihrem B i l d u n g s- u n d L e b e n s i d e a l - und so zu ihrer letzten Chance. Wenn die Leute den Sozialismus nicht wollen, dann sollen sie gar nicht mehr weiter auf Argumente warten, sondern am p e r s ö n l i c h e n V o r b i l d erstklassiger Sozialisten - das ihnen wohl gerade noch gefehlt hat - glauben lernen, daß "verkehrt lebt", "wer sich nicht wehrt", und daß deswegen nur solche Manns- und Weibsbilder wie sie, dank Kommunismus, unverkehrte, heile und frohe Menschen sind. Die auserlesenen Peinlichkeiten, mit denen revisionistische Agitation heute hausieren geht Parteitagsbeschlüsse über eine Kampagne der "fröhlichen Agitation", die nicht bloß befolgt, sondern vor allem dem geehrten Adressaten immerzu mitgeteilt werden; Aufsatzsammlungen der "Roten Blätter" zum Thema "Wir und unsere Ortsgruppe", womöglich mit Literaturpreisen; revolutionäre Spielmannszüge und Ausbildungskurse in Schwimmen, Geschichte der Arbeiterbewegung und Autoklempnerei; kommunistische Agitations- wagen in rheinischen Karnevalsumzügen; Agitation per Angeberei mit der ungebrochenen Lebenslust eines Berufsverbotsopfers, dargestellt von und vor erwachsenen Menschen als Straßentheater mit Schminke und Klampfe; in "undogmatischen" Gazetten nostalgische Verse des folgenden Kalibers: "Du wirst uns fehlen, Rudi. Doch werden zwei, drei, tausend Rudi Dutschkes werden"; oben drüber die neue kommunistische Parole: "Sinnvoll leben" -, das sind keine Ausrutscher. Sie sind Programm - und werfen aller- dings die Frage auf, wen außer sich selbst diese Linken damit ei- gentlich vom Sozialismus überzeugen wollen. - B e r e c h n e t ist dieser Fortschritt linker Politik jeden- falls auf das, was die BRD sich als l i n k e S z e n e lei- stet. Von Anfang an bestand nämlich die stärkste Fraktion der Studentenbewegung und ihrer Hinterlassenschaft aus Leuten, die aus einigen Widrigkeiten des Lebens im Kapitalismus für sich das moralische R e c h t und aus der demokratischen Regelung des politischen Lebens die politische P f l i c h t ableiten, in ganz anderen als den üblichen "korrupten" Bahnen zu leben. Dem bürgerlichen Dasein ein a l t e r n a t i v e s entgegenzuset- zen, das das alte heuchlerische "Wir" überall, vom wohngemein- schaftlichen Herd bis zur Betrachtung der großen historischen "Fragen der Zeit", wirklich ganz, ganz ernst und ehrlich nimmt, und so ein Selbstbewußtsein als Irritisches Gewissen der "verbürgerlichten" Republik zu pflegen, ist das "politische Pro- gramm" dieser bundesdeutschen S u b k u l t u r: darin fühlt sie sich l i n k s. Diese Szene ist in Bewegung geraten, seit sie in der Ökologie ein Mittel entdeckt hat, den eigenen Moralis- mus als letzte Rettung vor einem aus ungezügelter Wachstumsgier resultierenden "ökologischen Weltuntergang" auszumalen und da- durch eine so zugkräftige politische Ideologie auf die Füße zu stellen, daß auf einmal der blöde alte Weg des (Wahl-)Kampfes um parlamentarische Repräsentation als allerneueste Chance zu "konkret verändernder Praxis" zu Ehren kommt. Zwar ist es nicht gerade übermäßig "alternativ", in den demokratischen Konkurrenz- kampf um Wahlerfolge einzutreten und die Kriterien solcher Er- folge, die Wählbarkeit, zur Richtschnur der politischen Programm- gestaltung zu machen. Dafür gewinnt die "grüne Bewegung" aber in den vorweisbaren Wählerstimmen ganz ungemein an M a s s e und B e r e c h t i g u n g; und schon allein diese Aussicht: daß sich da etwas "Kritisches" um die 5% statt wie bisher unter 1% "bewegt", ist für die Organisationen des bundesdeutschen Revisio- nismus eine Offenbarung. Eine regelrechte "Bewegung" mit einer zwar nur vergleichsweise, vergleichsweise aber gewaltigen Massenbasis - das läßt eine schrumpfende Linke, die die Massen - nämlich deren angebliche vorwärtsweisende Haupttendenz - als einziges politisches Argument gelten läßt, nicht ungerührt. Soweit sie nicht gleich in Gestalt ihrer Mitglieder zur Szene in ihrem politischen Aufbruch Richtung Parlament ü b e r l ä u f t, läuft sie ihr organisiert h i n t e r h e r. Bis hin zu den aufrechtesten DKPlern, deren Hauptmassenbasis mit den westlichen Massen von vornherein gar nicht viel zu tun hat - ihr "Sozialismus" i s t ja längst "real"! -, besinnt der Revisionismus sich auf seine alte Liebe zu Natur und Gummistiefeln, propagiert als traditionsreiche Selbst- verständlichkeit des Marxismus-Leninismus (die "Führer" der Ar- beiterklasse haben sich in der einschlägigen Geschichtsschreibung ja schon immer als Vorbilder in moralischer, den Massen zugewand- ter s a u b e r e r L e b e n s f ü h r u n g ausgezeichnet!) die Albernheit von der Politik als Lebensform und Macht statt des unmittelbar bevorstehenden Ausbruchs des "Klassenkampfes" die Einheit von "Ökologie und Marxismus" zu seinem Lieblingsproblem. Seine "antirevisionistische" Fraktion dient sich darüberhinaus als Verein bewährter Kämpfer für grüne Belange an - als könnte ein westdeutscher Wahlverein für Demokratie und Umweltschutz sich mit der Selbstlosigkeit tatkräftiger Demonstranten schmücken! So konkurrieren alle linken Organisationen untereinander um die Chance, durch die "Grünen" ein wenig Auftrieb zu bekommen, und werden allesamt doch nur mit der harten demokratischen Wahrheit bekannt gemacht, daß ein Verein, der auf Wahlerfolge scharf ist, allemal haargenau merkt, wann die noch so uneigennützige Unter- stützung durch Linke mit kommunistischem Ruf und Rufnamen i h m schadet: nicht einmal als Anhängsel der Bewegung sind sie gedul- det. - Ein Revisionismus, der so weit heruntergekommen ist, daß er die A l t e r n a t i v e n, also eine Szene, die links sein will, ohne von ihrem Antikommunismus irgendwelche Abstriche zu machen, als s e i n e C h a n c e interpretiert, der ist nicht nur nicht mehr bei Trost: der ist auch nicht mehr zu retten. Wahrhaft selbstlos, hat er sich aller seiner "Dogmen" entledigt, die ihn von den Massen und deren angeblicher Bewegung Richtung Fort- schritt und Sozialismus trennen könnten; und doch gelingt ihm die ersehnte Einheit mit den Massen nicht. Der einfache Schluß, daß die geliebten Massen also offenbar andere Zwecke im Kopf haben als das Bedürfnis nach einer "sozialistischen Perspektive" und daß daran die eigene Agitation auch noch nichts geändert hat - auch nichts ändern konnte, weil sie ihre Adressaten ja nur im- merzu für Dinge g e l o b t hat, die die noch nicht einmal geahnt, geschweige denn gewollt haben! *) -, steht einem Revisio- nisten aber auch nicht offen. Denn bei aller Liberalität in Fra- gen des politischen Zwecks: daß die Massen zutiefst und recht ei- gentlich immer schon auf ihrer Seite stehen, dieses sein Haupt- und Grunddogma kann ein Revisionist schon deswegen n i e u n d n i m m e r aufgeben, weil er ja mit jeder Faser seines politi- schen Willens s i c h auf d e r e n Seite gestellt hat. Als unerschütterlicher Parteigänger der eigenen Illusion einer zum Sozialismus voranstrebenden Menschenseele kritisiert er nie seine politischen Zwecke; lieber gibt er s i c h d i e S c h u l d, bei aller richtigen Absicht den Fortschrittsnerv der Menschheit noch immer nicht genau genug getroffen zu haben. Und weil er an seinem politischen Programm ja schon alles gestrichen hat, was seines Erachtens die Massen verprellt haben könnte - daß denen die "sozialistische Perspektive" s e l b s t verdächtig ist, dieses Gedankens ist er nicht mächtig! -, gibt es für ihn, wenn er seine letzte Chance bei den Grünen gescheitert sieht, nur noch eine vorwärtsweisende Konsequenz: In dem Umstand, eine P a r- t e i, also als Vorhut der Massenbewegung o r g a n i s i e r t zu sein, entdeckt er schließlich und endlich das letzte und entscheidende M o m e n t d e r T r e n n u n g von den Massen - und l ö s t s i c h a u f! Folgerichtig wird daraus natürlich keine schlichte Auflösung, sondern eben der letzte Schritt nach vorn - was allerdings für Ungeübte nicht so leicht zu erkennen ist und daher um so ausführlicher zu erklären ist, am besten indem man schon ein halbes Jahr vorher die eigene Parteizeitung zum Diskussionsforum über die Unabdingbarkeit dieses Fortschritts umfunktioniert und den geneigten Leser mit der korrekten Sicht der Parteigeschichte vertraut macht. Denn die war in jeder Phase Ausdruck der tiefsten Bedürfnisse der Massen - wenn auch erst mit der Auflösung der ganz korrekte. Am Anfang stand ein "Sieg der Arbeiterklasse": "Die führende Rolle der Arbeiterklasse gewann eine neue Dimen- sion, ohne eine fundamentale Auseinandersetzung mit ihren Kriti- kern, durch die Realität des Klassenkampfs: die Septemberstreiks und die im Parlament mit Zweidrittelmehrheit durchgezogenen Not- standsgesetze stellten in ihrem Zusammenhang sowohl die Klassen- natur des bürgerlichen Staates als auch die Klassenkraft des 'wiedererwachenden Proletriats' so schlagend unter Beweis, daß die Frankfurter Schule erledigt und die Komintern-Politik und der Leninismus rehabilitiert wurden - weniger theoretisch als durch die Realität." (KPD) Für einen Revisionisten ist "die Realität" eben jemand, der stra- tegische Streitfragen zwischen einem System philosophischer Spin- nerei und dem Aufbau des "realen Sozialismus" in der SU nicht nur aufwirft, sondern auch entscheidet und so den Freund der Massen über seine korrekten Zwecke ins Bild setzt: "Damals 'verlangte' die Realität des Klassenkampfes eine Hinwen- dung zur Praxis." An der "revolutionären Situation" hat es also nicht gefehlt: Die Partei hatte den Ruf der Geschichte vernommen und ihm entspro- chen. Nur - vertrackte Dialektik der Realität -: dadurch, daß sie ihm entsprach (und nicht darauf gewartet hat, daß "die Partei" ganz ohne Initiatoren sich von selbst gegründet hat), hat sie sich an ihm versündigt, nämlich mit der Sünde des "V o l u n t a r i s m u s": "Parteiaufbau..., ohne sich in Beziehung zum Parteibildungsprozeß der Arbeiterklasse oder in Bezug zu anderen progressiven Strömun- gen zu begreifen." Die Realität hat bei der Realisierung ihres eigenen historischen Bedürfnisses nicht mitgespielt - so lautet der idealistische Op- portunismus des bundesdeutschen Revisionismus in selbstkritischer Wendung. Man bezichtigt sich des Fehlers, "als Marxist" den ob- jektiven Tendenzen der Geschichte allzu hoffnungsvoll vorausge- eilt zu sein - und hat sich so für den eigenen Mißerfolg eine sehr linientreue D e u t u n g zurechtgelegt, die mit dem Ein- geständnis des angeblichen Fehlers aufs schönste die eigene Ent- schuldigung vereint; Schuld war im Grunde erstens der Marxismus, nämlich zweitens, daß "das Kräfteverhältnis" ihm nicht entspro- chen hat. "Obwohl es schmerzt, es ist ein Faktum: die heutige und nachachtundsechziger Linke - und wir als einer ihrer Teile - sitzt vor den Scherben ihrer Hoffnungen. Trotz einiger Risse hat sich der Kapitalismus in der BRD relativ stabil erhalten, haben sich die Hoffnungen auf revolutionäre Erschütterungen nicht er- füllt, der marxistische Einfluß ist kaum gesellschaftlich wirksam geworden, die Linke ist nach wie vor zersplittert, marxistische Theorie findet nicht ausreichende Antworten auf die Entwicklung unserer hochentfalteten bürgerlichen Gesellschaft, die in ihren Rissen (?) zugleich ihre Reserven (?) offenbart. Insofern, als von marxistischer Theorie und Politik trotz dieser (? s.o.) Er- schütterungen (Arbeitslosigkeit, Legitimationskrise des bürgerli- chen Staats, Kriegsgefahr bei wachsenden innerimperialistischen Widersprüchen (?) zur Dritten Welt, besonders zu den ölproduzie- renden Ländern, Rationalisierungswellen, gescheiteirte Reformpo- litik usw.) kaum gesellschaftliche Wirksamkeit erreicht worden ist, ist es berechtigt, von einer Krise des Marxismus und der Marxisten zu sprechen; auch deshalb, weil 'der' Marxismus nicht abstrakt, sondern in dieser Fähigkeit zur Durchdringung gesell- schaftlicher Realität und Gewinnung gesellschaftlicher Wirksam- keit existiert." Das ist revisionistische Logik: Weil sie den Marxismus nie als Erklärung des bundesdeutschen Kapitalismus - eine solche ist ent- weder falsch oder richtig, auf keinen Fall aber je in einer "Krise"! - begriffen und benutzt, sondern zum Argument für falsche H o f f n u n g e n gemacht haben, ist e r fürs S c h e i t e r n ihrer Hoffnungen verantwortlich. Zu retten ist er folglich dadurch, daß man ihn zur M e t h o d e fortentwic- kelt, sich n e u e Hoffnungen auf eine selbsttätige "gesellschaftliche Wirksamkeit" der eigenen Anliegen zu machen. Und diese Fortentwicklung des Marxismus geht sehr einfach: Schon damit, daß man bloß über sein Scheitern redet, macht man sich zum "Ausdruck" jener Tendenzen, am denen er scheitern mußte, und hat "als Marxist" vor allen revisionistischen Konkurrenten die Nase vorn: "Daß auch uns das Bewußtsein einer Krise erreicht hat, daß auch andere Linke selbstkritisch die Ursachen und Bedingungen des Scheiterns analysieren und neue Wege suchen angesichts der heuti- gen objektiven und subjektiven Entwicklungen, zeigt einen neuen Umbruch und Aufbruch an." Wohin die Reise geht, ist da keine Frage. Nicht umsonst hat man nicht die eigenen Ansichten über die Welt kritisiert, sondern die Entdeckung des eigenen Scheiterns als Partei zur Beseitigung des letzten Hindernisses erklärt, Ausdruck der Bewegung der Massen zu sein. Alle revisionistischen Illusionen über die Welt bleiben be- stehen; nur soll ihre Praktizierung nicht mehr isoliert von den bewegten Massen geschehen: Wir treten ein für ein Näherrücken der von linken Teilen der So- zialdemokratie beeinflußten Arbeiterbewegung mit den fortschritt- lichen Kräften der grün-bunten Bewegung und Marxisten und Kommu- nisten gegen den Rechtsblock in unserem Land. Für dieses Näher- rücken gibt es objektive und subjektive Tendenzen" (schön für euch!). "Innerhalb dieser Kräfte und Bewegungen könnte sich ein neuer Zusammenhang der in die Krise geratenen revolutionären So- zialisten entwickeln - mit Kommunisten als einem besonderen Teil." (so ein "ständiger Ausschuß"!) Eins ist klar: Diese "Kommunisten" kriegen, was sie sich so sehn- lich wünschen. Die Selbstliquidierung ihrer Organisationen, die sich derselben Argumente über den Zustand der Welt bedient wie ihre Gründung, ist eben eine Konsequenz der Treue zum alten Standpunkt - und als solche ganz auf Erfolg abgestellt. Da ist es am Ende gleichgültig, ob die Auflösung als eine letzte Offensive wie bei der KPD, als organisierter Streit wie beim KB, als kon- struktive Mitwirkung bei einer großen Konferenz oder sonstwie passiert - sie beseitigen so die letzte, ohnehin nur noch for- melle Schranke zwischen sich und der linken Szene. Mit ihrem Entschluß, "erst einmal" T h e o r i e zu treiben - sogar eine "Arbeitskonferenz" soll dafür aus der Taufe gehoben werden (und dies 10 Jahre nachdem die damaligen "Roten Zellen" ihre notwendige theoretische Klärung mit diesem blöden Namen be- dacht haben)! -, werden sie nicht klüger, sondern gelehrter: In der Konkurrenz mit den älteren Organen zur linkspolitologisch- ökonomisch-soziologischen Gegenwartsdeutung gleichen sie sich jenem parasitären Philosophieren an, das die Geschichte des Revi- sionismus schon immer sehr getreu "widergespiegelt" hat. Ihre Praxis reduziert sich auf die energische Begutachtung der ewig aktuellen Frage, wen "wir" denn am besten w ä h l e n sollen; und der Kommunismus kommt allenfalls als Anspruch vor. Auf diese Weise macht der BRD-Revisionismus sich zum geduldeten Bestandteil einer Subkultur, in der allerlei moralische Unzufriedenheit mit "dem System" sich für die harmlosen und leichten Herzens gedulde- ten Späße des "alternativen Lebens" zusammentut. Die erzbürgerli- che Lebensweisheit, daß Kommunismus eine Jugendtorheit ist - eine Weisheit, die nichts als den höchst absehbaren und sehr billigen Triumph der bürgerlichen Heuchelei über jeglichen Idealismus der Moral ausspricht! -, wird von der westdeutschen Linken wieder einmal wahrgemacht. Insofern ist ihr Abgang gar nicht originell - immerhin aber ein letzter Ausdruck des tatsächlichen Kräftever- hältnisses in der BRD, an dem sich die hiesigen Linken immer so gerne orientieren. Hier entschwinden nicht einzelne in bürgerli- che Karrieren: organisiert vollstreckt der bundesdeutsche Revi- sionismus an sich s e i n e D e u t u n g des eigenen Mißer- folgs. *) Daß jemand k e i n e n Erfolg hat in seinem Bemühen, die Ar- beiter oder sonstige Massen von der Notwendigkeit gewisser Aktio- nen zu überzeugen, kann nie einen vernünftigen Vorwurf gegen sol- ches Bemühen begründen; Vorwürfe und Kritiken dieser Art, die deswegen auch stets mit Schadenfreude einhergehen, sind die Sache von Demokraten, linken wie normalen, die gewohnt sind, Massenhaf- tigkeit für ein Argument zu halten. Den Erfolg der eigenen Agita- tion dadurch selbst zu hintertreiben, daß man ihn sich in die Ta- sche lügt, ist allerdings ein schwerer Fehler; und die unaus- bleiblichen Enttäuschungen in gerechten Zorn auf jeden zu verwan- deln, der diese idealistische Lüge nicht mitmacht, so als wäre der der eigentlich Schuldige, ist schon ziemlich albern. V Die Linken haben das Kräfteverhältnis ------------------------------------- nur verschieden interpretiert... -------------------------------- (Hier bricht das Manuskript ab) zurück