Quelle: Archiv MG - BRD ALLGEMEIN - Auf dem Weg zur Weltmacht
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DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 1980 -
UND WAS MARXISTEN IN DEN 80ER JAHREN AN IHR ZU ÄNDERN HABEN
Inhalt
I. Das Funktionieren der politischen Herrschaft
1. Das öffentliche Leben in Westdeutschland: Indiz einer gelunge-
nen Politisierung
2. Wirtschafts- und Sozialpolitik: der Klassenkampf von oben
3. Die Rolle der BRD in der imperialistischen Arbeitsteilung
II. Die Lage der arbeitenden Klasse und ihre Gewerkschaften
1. Ausbeutung und Armut im Modell Deutschland: Lohn ohne Leistung
2. "Lebensqualität" '80
3. Die Rolle der schwarz-rot-goldenen Gewerkschaft oder: die ar-
beitende Klasse in ihrer Eigenschaft als "Basis"
III. Der Geist der Intelligenz
1. Von der Geistesfreiheit
2. Ein Blick in die Werkstatt des Geistes
3. Die praktischen Bedürfnisse des Intellektuellenstandes
IV. Die Linke
1. Die BRD als Projekt des Revisionismus
2. Die agitatorischen Leistungen des BRD-Revisionismus
3. Konsequenter Opportunismus: Der Rechtsrutsch der Linken
V. Die Linken haben das Kräfteverhältnis verschieden interpre-
tiert...
***
I
Das Funktionieren der politischen Herrschaft
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1. Das öffentliche Leben in Westdeutschland:
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Indiz einer gelungenen Politisierung
------------------------------------
Der westdeutsche Staat genießt im Urteil der internationalen Be-
obachter einige Anerkennung. Vormals unter dem Titel des
"deutschen Wirtschaftswunders", seit einem Jahr "Modell Deutsch-
land" beglückwünschen ihn die mit den Maßstäben moderner Staats-
kunst vertrauten Theoretiker und Praktiker der Politik zu seinen
Leistungen. Und da diese Maßstäbe allesamt verwandelte Ausdrücke
des einen Interesses an einer gelungenen Kontrolle und Steuerung
der sozialen Gegensätze sind, die den Kapitalismus nun einmal
auszeichnen, geraten die einschlägigen Urteile zu regelmäßigen
Grußadressen an die westdeutsche Regierung, der versichert wird,
sie mache ihre Sache gut. Die dazugehörige Botschaft ans deutsche
Volk erschöpft sich in der Ideologie, es habe mit seinen Machern
einen guten Griff getan und allen Grund, dankbar zu sein mit der
Fügung seines Nachkriegsschicksals. Da wird ohne große Umstände
das Wachstum des nationalen Reichtums bewundert und als Resultat
wirtschaftspolitischer Künste dargestellt, obwohl jedermann klar
ist, daß die ökonomische Potenz eines Landes nicht im Kabinett,
sondern in den Fabriken zustandekommt. Sooft die niedrige Anzahl
der Streiktage in der BRD zur Sprache kommt, gilt sie nicht als
Beleg für den Gewohnheit gewordenen Gehorsam der arbeitenden
Klasse und für recht eigentümliche Anliegen ihrer Gewerkschaften,
sondern als Beweis dafür, daß westdeutsche Arbeiter außer zum Ar-
beiten zu nichts mehr einen Grund haben. Und selbst dann, wenn
auswärtige Nationalisten ihre Komplimente um den Neid auf den
Konkurrenten ergänzen und einmal zu Vorwürfen gegen die Praktiken
der westdeutschen Staatsgewalt schreiten - so geschehen anläßlich
des Umgangs mit Terroristen, AKW-Gegnern sowie angesichts der Be-
rufsverbote -, blamieren sich die Kritiker an der offensiven
Rechtfertigung, die deutsche Politiker an den Tag legen und mit
der sie bei ihren ausländischen menschenrechtsbewanderten Kolle-
gen auf ebenso großes Verständnis stoßen wie bei ihrem Volk.
Sämtliche Versuche oppositioneller Minderheiten in der BRD, durch
die Entlarvung eindeutiger Praktiken von Polizei und Justiz, von
Verfassungsschutz und Geheimdiensten einen öffentliche n Skandal
herbeizuführen, sind gescheitert. Die demokratische Öffentlich-
keit hat noch jeden "Fall" abschlägig beschieden und sich beharr-
lich geweigert, irgendeinen Anlaß als einen zur Kritik an den
staatlichen Organen zu akzeptieren. Dabei ist keineswegs die Ver-
heimlichung der Tatsachen der Usus, sondern ihre ausführliche Be-
sprechung als P r o b l e m, und zwar als eines, das die
R e g i e r u n g hat: politischer Stil, Vertrauensverlust,
Rechtssicherheit sind die Kategorien, in denen das Vorgehen der
Staatsgewalt hierzulande abgewogen zu werden pflegt; und damit
sind auch die Grenzen klar abgesteckt, innerhalb deren sich Empö-
rung und Kritik bewegen.
Was immer die Regierung auch beschließt und durchsetzt, sei es in
bezug auf den handfesten Verkehr mit politischen Minderheiten
oder handle es sich um Maßnahmen der Wirtschafts- und Sozialpoli-
tik, die "uns alle" betreffen - daß vom Standpunkt der
B e t r o f f e n e n geurteilt und gestritten wird, ist in der
BRD nicht demokratische Sitte. Aber nicht deshalb, weil der Men-
schenschlag der Westzone das zur Demokratie nötige Gebaren nur
mangelhaft beherrscht, sondern aus dem gegenteiligen Sachverhalt
heraus: die Relativierung sämtlicher Ansprüche in der Welt der
Arbeit und Politik, die nur bedingt vorgetragene Forderung nach
Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ist hierzulande nicht nur
üblich, sondern anerkanntes Prinzip, auf das sich freie Mei-
nungsäußerung, von Interessengruppen wie von Individuen, ver-
pflichtet weiß. Es gehört sich einfach nicht, ein partikulares
oder Klasseninteresse durchsetzen zu wollen; da gibt es nicht
erst ein Gegeneinander der Interessen, aus dem sich durch staat-
liche Auflagen vermittelt oder sogar in Gegensatz zu den Absich-
ten der Regierung ein "Kompromiß" herstellt, an dem die große
Mehrheit der Bürger zu spüren bekommt, wie wenig ihre Interessen
und Bedürfnisse mit dem Allgemeinwohl vereinbar sind. Die bundes-
republikanische Praxis ist die einer fortgeschrittenen Demokra-
tie, in der sich kein Anspruch rücksichtlos, ohne den Blick auf
den "Rahmen des Möglichen", ohne die Legitimation durch die Ver-
nunft der Selbstbeschränkung überhaupt vorträgt. Die einzige Aus-
nahme in dieser Hinsicht bilden die Lieblingskinder der modernen
Republik, die es an Selbstbewußtsein, an der Sicherheit nicht
fehlen lassen, daß die Erfüllung ihrer Wünsche noch allemal mit
dem Geschäftsgang des Ganzen zusammenfällt - es ist eben ein Un-
terschied, ob sich ein herrschendes oder ein untergebügeltes In-
teresse aufs Gemeinwohl verpflichtet.
In der BRD haben sich die Bürger daran gewöhnt, daß sie als Ar-
beiter und Angestellte, als Mieter und Benützer der öffentlichen
Verkehrsmittel, als Arbeitslose und AKW-Gegner usw. ihre Anliegen
nur in p o l i t i s i e r t e r Form vorzubringen haben. Statt
etwas zu verlangen und auf Mittel und Wege zu sinnen, i h r e
Notwendigkeiten durchzusetzen, pflegen die Geschädigten der Na-
tion unter verschiedensten sozialen Titeln K l a g e zu führen
über d i e Notwendigkeiten, die ihnen Staat und Kapital aufer-
legen. B e r e c h t i g t hat ein Interesse zu sein, sonst
zählt es nicht, und der erlittene Schaden wird als
U n g e r e c h t i g k e i t betrachtet. Geläufig ist einzig
die Suche nach denen, die der S t a a t nicht ebenso in ihre
Schranken weist; und sooft es zu einer organisierten Form der In-
teressenvertretung kommt, stellt sich regelmäßig jene biedere
Meinungsäußerung ein, die aus dem vertretenen Interesse eine
Sorge ums Gemeinwohl verfertigt, in dem die Geschädigten ihren
Platz reklamieren. So ist es kaum überraschend, daß diese Ver-
bände zu Gesprächspartnern und Anhängseln der Parteien werden,
die bereits in ihren Programmen die verschiedenen Ansprüche aner-
kennen, um sie aneinander und dem höheren Ganzen zuliebe zu rela-
tivieren. Der Verzicht auf zählbare Erfolge im "sozialen Vertei-
lungskampf" wird mit dem Recht auf Gehör und viel Verständnis
entgolten; die P o l i t i s i e r u n g der gesellschaftlichen
Gegensätze lohnt den "verantwortungsvollen Umgang" mit den eige-
nen Bedürfnissen durch die trostreiche Gewährung der
Mit s p r a c h e. Politische Alternativen dürfen artikuliert
werden, als M e i n u n g e n u n d M ö g l i c h k e i t e n
sind sie geduldeter und geachteter Ausdruck bleibender Unzufrie-
denheit. So sehr bestimmen demokratische Tugenden die Abwicklung
aller sozialen und politischen Konflikte in der BRD, daß häufig
nicht einmal mehr auszumachen ist, ob Empörung, Protest und Kri-
tik auf seiten Betroffener sich unabhängig von ihrer öffentlichen
Ein- und Unterordnung entwickelt haben oder ob sie nicht gleich
als "unser Problem" auf die Tagesordnung der öffentlichen Konfe-
renz kamen, die den politischen Willen bildet, indem sie ihn zu-
richtet. Dafür bietet die Bundesrepublik 1980 Woche für Woche
Beispiele.
Eine Regierung, der angesichts der neuesten Höhepunkte in der
weltpolitischen Konfrontation im Mittleren Osten einfällt, die
Opposition öffentlich zu befragen, inwieweit sie bereit sei,
"unpopuläre Maßnahmen" mitzutragen, fürchtet ganz gewiß nicht um
ihre Popularität. Das von vorneherein feststehende Ergebnis -
alle "Verantwortlichen" aus Politik und Wirtschaft sind bereit,
in Sachen Steuern, Rüstung, Inflation, Benzinpreis etc. etc. den
arbeitenden Bürgern einiges mehr noch als bisher abzuverlangen -
erfährt in Westdeutschland keine öffentliche Kritik, sondern all-
seitiges Lob. Der "Mut" jener Herrschaften wird herausgestrichen,
daß am Ende fast Mitleid um sich greift mit denen, die unter der
Last, anderen einige zusätzliche Lasten aufzuhalsen, schier zu-
sammenbrechen und dennoch nicht das Handtuch werfen.
Mit derselben Souveränität haben Regierung und Parteien die Ar-
beitslosigkeit mit viel Verständnis für die Betroffenen zum Pro-
blem Nr. 1 erklärt, sind damit bei den (Gewerkschaften auf Ver-
ständnis gestoßen - und haben den Beschäftigten wie den Arbeits-
losen außer regelmäßigen Statistiken eine Diskussion über Ar-
beitsscheu und Faulenzertum präsentiert. An diesem Verfahren ist
weniger bemerkenswert, daß Politiker und Unternehmer, Journali-
sten und Wissenschaftler kein Interesse für den Grund der Ar-
beitslosigkeit und auch nicht für die Beseitigung des mit ihr
verbundenen Elends entwickeln; nicht einmal aus Gewerkschafts-
kreisen hat man andere als volkswirtschaftliche Bedenken zu den
Arbeitslosen vernommen. Solche Bedenken zeichnen sich dadurch
aus, daß sie sich streng an die Ideologie der
g e m e i n s c h a f t l i c h e n Betroffenheit und der
g e m e i n s c h a f t l i c h e n Schwierigkeiten bei der Ver-
folgung der hehren Ziele Wachstum, Geldwertstabilität und Vollbe-
schäftigung halten - also deswegen ständig leugnen, daß Inflation
und Arbeitslose konsequent eingesetzte Mittel des kapitalisti-
schen Wachstums sind, wovon die grundgesetzlich vorgesehene
Staatsverschuldung sowie die staatliche Definition der Vollbe-
schäftigung gleich 3% Arbeitslose ja hinreichend Zeugnis ablegen.
Daß Arbeit eine Ehrensache sei, deswegen nie zu knapp werden
dürfe, ist den offiziellen Vertretern der Arbeiter ebenfalls ein-
gefallen, weil für sie die Einbuße an "Sinn" - die ja mit dem
Verlust eines Arbeitsplatzes in der Akkordabteilung einer Auto-
firma unmittelbar ansteht - höher steht als die Frage des Einkom-
mens. In dem Hin und Her über das "Problem Nr. 1", das inzwischen
lockerer an der Meinungsbörse gehandelt wird - die runde Million
Arbeitslose sind Gewohnheit; die auf sie per Gesetz ausgeübten
Zwänge sind nach allen Regeln der sozialstaatlichen Kunst ausge-
staltet worden -, haben alle Beteiligten streng an dem Grundsatz
festgehalten, daß die Sorgen der Arbeitslosen ein Problem
"unserer Wirtschaft", "unserer Gesellschaft" seien; und die
"Lösungen", die da vorgeschlagen wurden, wie "Verkürzung der Le-
bensarbeitszeit", waren nur für eines gut - sie dienten als Be-
gleitmusik für die dringend erforderlichen Rationalisierungsmaß-
nahmen, die einerseits "unserer Wirtschaft" ihre Probleme lösen,
andererseits für beschäftigte und nicht mehr gebrauchte Lohnab-
hängige ein paar neue Probleme schaffen. Die Art und Weise, das
"brisante Thema" von Gott und der Welt mit einer Stellungnahme
aller "relevanten Kräfte" zu versehen, hat nicht einmal bei Ge-
werkschaftern, die sich für links halten, zu dem Urteil geführt,
daß die Nicht-Benützung eines Teils der arbeitenden Klasse eben
auch eine Variante ihrer profitlichen Benützung darstellt - kein
Wunder, daß anstelle von Abwehrmaßnahmen die Initiative ergriffen
wurde, vom Staat eine ausgiebigere Finanzierung des Aufschwungs
zu fordern. Auch der letzte Konjunkturzyklus der BRD-Wirtschaft
hat in den Köpfen der Betroffenen bestenfalls die Auffassung ih-
rer Gegner bekräftigt, der Kapitalismus sei zwar eine Wirt-
schaftsordnung mit gewissen "Systemschwächen", aber auf dem Markt
der verfügbaren Wirtschaftsordnungen, von denen "man" sich aus
pragmatischen Gründen nun eine "aussuchen" muß, immer noch die
beste.
Auch eine Tarifrunde findet alljährlich statt, und zwar streng
nach den demokratischen Regeln der Tarifautonomie. Die Leistun-
gen, welche die Tarifpartner und die am konjunkturgemäßen Ergeb-
nis interessierten Betrachter dabei vollbringen sind enorm. Die
regelmäßige Hetze gegen gewerkschaftliche Forderungen liest sich
wie ein einziger Aufruf zur Abschaffung der Lohnarbeit, wird aber
von niemandem als solcher mißverstanden, am allerwenigsten von
den Ideologen und Tarifkommissionen des DGB. In endlosen Abwand-
lungen wird da versichert, daß Staat und Wirtschaft unmöglich ge-
deihen können, wenn die Arbeiterorganisation auch nur unwesentli-
che Verbesserungen im Verhältnis von Lohn und Leistung durch-
setzt. Jede Phase der Konjunktur ist per se ein unumstößlicher
Grund für die Zurückhaltung der Gewerkschaft, die Krise genauso
wie der Aufschwung und der Boom; die "Abhängigkeit vom Weltmarkt"
vom Import genauso wie vom Export verhindert prinzipiell jedes
Zugeständnis der "Arbeitgeber", ebenso die Inflation, die Finanz-
lage der Nation und die zweifelhafte Energieversorgung... Da wird
keine Gelegenheit versäumt kundzutun, daß in einer modernen Demo-
kratie der Lohnkampf - Notwendigkeit der arbeitenden Bürger zwar
anerkannt und institutionalisiert ist, daß aber nur von Mißbrauch
die Rede sein kann, wenn er g e f ü h r t wird, um die zwischen
den Tarifrunden erfolgten Einkommensverluste und Leistungssteige-
rungen zu korrigieren. So wird Jahr für Jahr der Weisheit, daß
das Funktionieren "unserer" freien Marktwirtschaft mit einer über
das Nötige hinausgehenden "Bereicherung" der Proleten nicht ver-
einbar ist (das "Nötige" ist genauso viel, wie ein Proletenhaus-
halt braucht, um brauchbar zu bleiben; die Kriterien wie die
Macht, darüber zu entscheiden, liegen bei der "Wirtschaft" - un-
serer Ansicht nach ist das ein nicht ganz zu vernachlässigender
Grund für eine Revolution!), noch eine andere hinzugefügt: die
nämlich, daß Gewerkschaften andere Aufgaben haben, als für ein
irgendwie geartetes Wohlergehen ihrer Mitglieder zu sorgen. Wie
die zweite Hälfte der Tarifrundenöffentlichkeit zeigt, weiß der
DGB das längst: er beteuert nämlich alle Jahre wieder, daß er
nichts der wirtschaftspolitischen Vernunft Zuwiderlaufendes je
unternommen hat noch künftig zu tun gedenkt, vielmehr in wirt-
schaftlichen Dingen gelegentlich anderer Meinung sei; bisweilen
schadet seiner Auffassung nach ein bißchen Kaufkraft in Arbeiter-
taschen der Wirtschaft nicht, sondern gereicht ihr zur Hilfe,
welche die dummen Unternehmer in Unkenntnis der Notwendigkeiten
ihres Geschäftsganges immer wieder ausschlagen. Nie ist dieser
Gewerkschaft das, was ein Prolet braucht, Grund genug, es auch zu
verlangen - und stets gelangen ihre tarifpolitischen Sprecher
nach detaillierten Aufstellungen über Prozente ihrer Lohnforde-
rungen (3% für Inflation, 4% für Produktivitätszuwachs, 2% für
den Verzicht beim letzten Mal!) zur öffentlichen Erklärung des
Inhalts, daß die von ihnen errechnete "Notwendigkeit" nur die
Ausgangsbasis für einen Kompromiß sei. Daneben ächten sie jede
Stellungnahme der anderen Seite "Angriff auf die Tarifautonomie",
die ihnen als E r l a u b n i s zum Tarifstreit nun schon 30
Jahre soviel wert ist, daß sie mit ihrer B e n ü t z u n g
nicht öffentlichen Unmut erregen wollen. Konsequenterweise gelten
die hinterher verbreiteten Erfolgslügen kaum der Rechtfertigung
der wie immer mageren Tarifprozente, sondern der für die Basis so
lohnenden Tatsache, daß ihre Gewerkschaft auch in dieser Ta-
rifrunde so anerkannt ist wie in der letzten. Daß ein Streik aus
anderen Gründen als für die Anerkennung der Tarifautonomie oder
gegen "inhumane Aussperrung" geführt wird, steht daher für den
DGB auch gar nicht zur Debatte. Er hält sich viel auf seine
h i s t o r i s c h e L e i s t u n g zugute, als hätte er
b e s s e r e und nicht bloß m o d e r n e r e Arbeitsbedin-
gungen und Löhne "durchgesetzt". Aus der hundertjährigen Tradi-
tion der Gewerkschaften leitet er die "neue Tarifpolitik" ab, die
die Gewerkschaft nicht zur "Lohnmaschine" degradiert; und er ver-
meidet jeden Gegensatz, der sich bei der rationellen Verfolgung
der Interessen, die seine Mitglieder haben, einstellen würde. Der
klassische Vorwurf, die a n d e r e Seite würde den "sozialen
Frieden" gefährden, beweist, wie wenig in den Augen der bundes-
deutschen Arbeiterorganisation die Lohnarbeiter Grund haben, un-
friedlich zu werden. So bewährt sich dieser hochanständige Tarif-
partner in der mannigfach vorgetragenen Argumentation, daß er die
Demokratie mit aufgebaut habe, ihm also auch das Recht zustehe,
sie weiter mitzubauen, weil sie nämlich gut sei - was alle sagen,
auch die, die den DGB lieber nicht so viel mitreden lassen möch-
ten. Der seinerseits betont seinen Charakter als eigenständige
"politische Kraft", die m i t w i r k e n dürfen muß - und be-
stätigt zumindest für seine Seite, daß die ausgiebig vertretenen
Thesen vom "Ende des Klassenkampfs" stimmen.
Nicht minder positiv als der DGB ist das Bild, das Leute und
Gruppen in der westdeutschen Öffentlichkeit von sich abliefern,
wenn sie g e g e n etwas sind. Und entsprechend sieht die Be-
handlung aus, die ihnen von denen zuteil wird, die b l o ß da-
für sind:
- Eine Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, die Wahl eines ehema-
ligen NSDAP-Mitglieds zum Bundespräsidenten zu verhindern. Trotz
dieses Zeugnisses dafür, daß sich radikale Opposition in der BRD
auch auf die Sorge um würdige Repräsentation von Herrschaft ver-
steht, ist besagte Bewegung in die Schranken gewiesen worden. Und
zwar mit dem Hinweis darauf, daß sich gegen ein mehrheitsfähiges,
daher freiheitliches Staatsoberhaupt nicht schon deshalb etwas
einwenden läßt, weil es sich auch unter heute mißbilligten poli-
tischen Verhältnissen seinen Aufstieg erarbeitet hat. Der Skandal
wurde keiner, die öffentliche Meinung befand den gestandenen Op-
portunismus des Karl Carstens für gut, zog seine Treue zur FDGO
nicht in Zweifel; unter den schwierigen Umständen des Dritten
Reiches - so die Einlassungen des Staatsoberhauptes vor der Wahl
- wäre er von seinem Jura-Studium nur allzuleicht ausgeschlossen
worden, hätte er sich nicht ein Parteibuch zugelegt.
- Der antifaschistische Widerstand mitten im demokratischen West-
deutschland ist freilich nicht ganz erfolglos geblieben. Denn
Filbinger ist Späth gewichen, allerdings nicht wegen seiner Ver-
gangenheit, sondern wegen seines Ungeschicks beim Eingeständnis
derselben. In diesem Fall haben die Leute gemeint, der Minister-
präsident sei "untragbar" - aber ganz offensichtlich nur für
seine Partei. Die hätte natürlich ebensowenig wie ihr Häuptling
alles verloren, aber eben vielleicht 3% Wählerstimmen. Die Höhe-
punkte antifaschistischer Begeisterung für den BRD-Staat lagen
allerdings woanders: in einer nur in unserem Land organisierbaren
Kampagne wurde mit einem 4-teiligen Ami-Film die Empörung des
Volkes über den deutschen Staat "vorher" angefacht, ohne daß in
den staatsbürgerlichen Zusatzveranstaltungen auch nur einmal zur
Sprache kam, daß der Faschismus "irgendwo" etwas mit Staatsrecht
und Bürgerpflicht, Kapital und Arbeit und dergleichen zu tun ha-
ben könnte. Da wurde mit Geschick, Geschichte und Schicksal ope-
riert und viel Verständnis entwickelt für alle, die tatkräftig am
Faschismus mitwirkten. Leuten, die zweifelsfrei nie einen Gedan-
ken an Widerstand hegten, wurde bescheinigt, wie schwer Wider-
stand gewesen wäre. Insbesondere den Bürgern, ohne deren natio-
nale Begeisterung wohl nicht viel aus dem Faschismus geworden
wäre, wollte niemand zu nahe treten - nur einen Fehler haben sie
begangen, und der war nicht der ihre: sie haben sich
m i ß b r a u c h e n lassen und waren ungefähr genauso
"verstrickt" in das unrühmliche Kapitel Geschichte wie all die
ehrenwerten Leute, die schon mitten im Krieg daran dachten,
hinterher einen neuen Staat aufzumachen und ihm als Politiker zu
dienen. So war die Holocaust-Welle ein Siegeszug der großartigen
Idee, der Faschismus sei das schönste Argument für die bundes-
deutsche Demokratie. Die von jedermann für selbstverständlich und
von Kritikern für berechtigt gehaltene Sehnsucht eines Deutschen,
für seinen Staat geradezustehen, hat nach ihrem Mißbrauch endlich
Gelegenheit, sich zu betätigen - dies das einhellige Urteil aller
Stars und Komparsen des nationalen Sozialkundeunterrichts: ei-
gentlich lohnt es sich erst heute wieder einmal, O p f e r zu
bringen. Vor dem TV-Hintergrund der faschistischen Greuel hat ein
Volk den Beweis angetreten, daß es im Bewußtsein seiner Freiheit
um die Notwendigkeiten, die ihm sein Staat beschert, kein Aufhe-
bens machen will. So wurde aus der A n s c h a u u n g des Fa-
schismus, nachgestellt von ein paar Filmfritzen, eine erschüt-
ternde Feier des demokratischen Nachkriegsdeutschland. Die Kom-
plimente aus dem Ausland bezüglich des "Muts" unserer öffentlich-
rechtlichen Anstalten lösten die Rede vom "häßlichen Deutschen"
ab, und für "Staatsverdrossenheit" hatte niemand mehr etwas üb-
rig. Der Gegenschlag gegen die antifaschistische Nörgelei am BRD-
Staat, die ihn von dem Makel befreien möchte, persönliche Remi-
niszenzen an seinen Vorgänger nicht getilgt zu haben, war gelun-
gen: die Nicht-Identität konnte eindrucksvoll bewiesen werden -
und das reichte als Argument für das zeitgemäße Urteil, auf das
es einzig ankam, völlig aus: die BRD ist gut!
- Diesem Leitsatz mündigen Bürgertums schließt sich auch eine Be-
wegung an, die sich in ihrem P r o t e s t alle Argumente, Po-
sen und Prozeduren zueigen gemacht hat, die für den Beweis tau-
gen, daß man eigentlich am a l l e r d a f ü r s t e n ist: Die
AKW-Gegner samt den vereinigten Grünen, Alternativlern und Anhän-
gern des Schmetterlingsgedankens. Alles, was dieser Opposition
mißfällt, erscheint ihr als nicht berücksichtigte Nebenfolge
kurzsichtiger Profitgier. Vom eingebildeten Standpunkt der
Menschheit aus greift der ökologische Protest nicht Politiker und
Kapitalisten an, sondern deren moralische V e r f e h-
l u n g e n; als Anwälte einer verschonten Natur und des
gesamtgesellschaftlichen Verzichts sind die Grünen das
b e s s e r e G e w i s s e n der Staatsgewalt, die ja auch ih-
rer Meinung nach zu allerlei guten Werken berufen ist - so daß
ihr Idealismus etliche Komplimente auf sich zieht. Ganz offiziell
wird ihnen v e r a n t w o r t l i c h e s Denken bescheinigt,
wenn sie die Schädigung "unserer" Gesundheit durch diverse Ener-
gieerzeugungspraktiken und industrielle Giftverbreitung nur an-
führen, um den gestörten Haushalt der Natur sowie den unserer
schönen Demokratie zu beklagen. Ob mit Hochrechnungen über die
verheerenden Folgen kapitalistischen Umgangs mit Land und Leuten,
ob mit Visionen vom "Atomstaat" oder mit ökologischen Demonstra-
tionen der eigenen Verzichtsbereitschaft - stets beteuert die
neue Bewegung ihre G l a u b w ü r d i g k e i t durch das Be-
kenntnis zum g e m e i n s c h a f t l i c h e n I n t e r e s-
s e von "uns allen". Dabei übernehmen sie die "Verantwortung"
für Dinge, die sie in der marktwirtschaftlichen Demokratie
absolut nichts angehen (als ob man sie gefragt hätte, offerieren
sie ihren Meinungsknopf "Atomkraft? Nein danke!" und ihre
Bereitschaft, mit weniger Annehmlichkeiten auszukommen, gleich
dazu, die Entgegnung von seiten der führenden Demokraten ist
denkbar einfach: erstens meinen das nur sehr wenige; die Al-
ternativen gehen auch nicht, weil sie noch zu teuer sind - und
Atomstrom ist sauber, weil wirtschaftlich!), und ergreifen die
B ü r g e r i n i t i a t i v e; als B e t r o f f e n e n
fällt ihnen ein, daß ihr Anliegen das ihrer Repräsentanten zu
sein hätte - und ihren Repräsentanten fällt auf, daß hier hochan-
ständige Leute an ihr Gewissen appellieren. Sie geben die War-
nung, sie möchten auf die Zukunft und auf die Natur achten, mit
gutem Gewissen zurück: einerseits hätten sie sich schon längst
der "Probleme" angenommen und Umweltgesetze gemacht, andererseits
entbehre mancher der gutgemeinten Ratschläge des "Realismus":
"wir" brauchen viel Energie, können uns auf die Ölscheichs nicht
verlassen, und trotz der bereits praktizierten Selbstdisziplin in
Sachen "Energiesparen" (nicht etwa "Geldsparen") werden "wir" um
ein paar Kraftwerke nicht herumkommen. Im übrigen sollten die
Bürgerinitiativen auf die falschen Gesellen aufpassen, die sich
von links her in ihren Reihen breit machen - eine Aufforderung,
der die inzwischen zum Wahlverein ausgebaute Bewegung schon des-
halb gerne nachkommt, weil sie weiß, wovon ihre
W ä h l b a r k e i t in der Bundesrepublik abhängt. So kon-
struktiv ist die größte Protestbewegung der BRD beschaffen, daß
sie, von den Politikern an ihre Prinzipien erinnert, sogleich
s e l b s t k r i t i s c h wird und nur noch ein Problem auf-
wirft: bringt sie bei den Wahlen die etablierte Parteienkonkur-
renz durcheinander oder nicht?
- Der Kampf um die politische Macht, den die beiden großen Par-
teien und eine kleine hierzulande führen, wird streng demokra-
tisch über die Stimmen der Wähler ausgetragen. Was da aber als
Grund für die eine oder andere Alternative vorgebracht wird, wi-
derlegt jeden Rest der bürgerlichen Ideologie, daß sich Kandida-
ten für ein Staatsamt zur Verfügung stellen, um ihren Wählern
Gutes zu tun. Der Wahlkampf in der BRD wird von Legislaturperiode
zu Legislaturperiode immer mehr zur Demonstration dafür, daß die
Unterwerfung unter die politische Gewalt des Staates und sonst
nichts gefragt ist: die Parteien werben mit ihrer Eignung zum Re-
gieren, mit dem unverhohlenen Hinweis darauf, daß sie beim Ge-
brauch der Macht besser als die Konkurrenz die
E m a n z i p a t i o n v o n d e n I n t e r e s s e n der
Bevölkerung zu praktizieren in der Lage seien. Die Frage "Wer
macht den stärksten Staat?" beherrscht die "sachliche Auseinan-
dersetzung" und nicht das fingierte Eingehen auf die Wünsche des
Wahlvolks. Da kann man mit dem Vorwurf Punkte machen, der Gegner
würde sich mit "Wahlkampfgeschenken" auf Kosten der nationalen
Sache prostituieren; noch die lächerlichsten Versprechungen gel-
ten im Parteienstreit als unseriös, wenn nicht gar als skandalö-
ser Verrat der Sache des Staats an partikulare Wünsche; da spielt
bei jeder innerparteilichen Auseinandersetzung der Fingerzeig auf
die nicht vorhandene Einheit des anderen Lagers eine Rolle: wer
so streitet, heißt es, ist der Macht im Staate nicht würdig; zu
sehr würden um ihre Berücksichtigung kämpfende Interessengruppen
den Rückhalt der jetzigen oder künftigen Regierung schwächen.
Keine Seite befürchtet, mit dem Argument, sie würde durch ihr
Vertrauen in der Bevölkerung die "notwendigen Opfer" reibungslo-
ser herbeiführen, Stimmen zu verlieren; und die Programmdiskus-
sionen und Parteitage strotzen nur so von N a t i o n a-
l i s m u s, mit dem der mündige Bürger die verlockende Per-
spektive versprochen bekommt, zum Gedeihen seines Staates von
seinen kleinlichen Interessen Abstand nehmen zu dürfen. Das
sozialdemokratische Argument, eine Regierung der C-Parteien werde
mit den Gewerkschaften nicht in derselben Weise einvernehmlich
fertig - Originalton: setzt den sozialen Frieden aufs Spiel -,
wird seit langer Zeit honoriert. Medien und Presse tun das Ihre
dazu, daß Kritik nur als politische stattfindet, also in so
herrlichen Fragestellungen gipfelt wie der, ob es der Kanzler und
seine Mannschaft "schaffen"; ob der Oppositionsführer eine "gute
Figur" macht, ist natürlich auch von brennendem Interesse. Den
Schein, hier würden andere Alternativen verhandelt und ent-
schieden als die des W a h l e r f o l g s, erhält nur noch
eine hoffnungslose Minderheit von unzeitgemäß gläubigen Demokra-
ten aufrecht: eine Linke, die ihre Kritik an der BRD auf die
Sorge zusammenkürzt, in ihr wäre ein Rückfall hinter die erreich-
ten demokratischen Errungenschaften noch immer nicht ausgeschlos-
sen; die deswegen in ihren Anti-Strauß-Kampagnen den alternativen
Kanzler zu einem alternativen, nämlich Anti-BRD-Programm umstili-
siert. Das wählende Volk weiß dagegen, woran es sich zu halten
hat. Kein Tag geht vorbei, an dem es nicht seine Repräsentanten
in wichtigen weltpolitischen Missionen besichtigen und aus dem
vom Fernsehen vorgeführten Vergleich seine Schlüsse ziehen kann.
Fährt Schmidt voraus oder Strauß hinterher? Gesagt und repräsen-
tiert wird von beiden ohnehin dasselbe. Die "Ohnmacht" der Bun-
desrepublik, ihre "Einbindung" ins westliche Bündnis und derglei-
chen wird beschworen, allerdings auch stets mit "mehr Gewicht" in
der Weltpolitik kokettiert und spekuliert - und das nie ohne
Klarstellung der "Notwendigkeit", daß die "Handlungsfreiheit" in
einem Fall, die "gebundenen Hände" im anderen von den lieben Bür-
gern nur eines verlangen: mitmachen, und das heißt ihrer Regie-
rung durch keinerlei Ansprüche in die Quere kommen. Kein Wunder,
daß die subtile u n d die grobe Ausländerhetze ihren festen
Platz in der Werbung der Parteien für ihre Variante der Machtaus-
übung erobert haben.
- Erwähnt werden muß auch noch der im wahrsten Sinne des Wortes
liberale Umgang mit Kommunisten. Sooft diese Minderheit - auf Un-
terschiede kommt es ganz und gar nicht an - an irgendeinem Pro-
test beteiligt ist oder eine Aktion hinter sich gebracht hat,
pflegen die verantwortlichen Männer und Frauen der Nation aufge-
regt darüber zu diskutieren, ob wieder einmal ein Verbot der Or-
ganisationen anstünde, damit alles mit K im Namen das politische
und soziale Leben der BRD nicht verunziere. Wenn sie in den letz-
ten Diskussionsrunden dieser Art zu dem Ergebnis gelangt sind,
auf eine Neuauflage des KPD-Verbotes von 1956 zu verzichten, dann
stets mit Überlegungen, die die Chancenlosigkeit kommunistischer
Umtriebe hervorhoben und die S i c h e r h e i t der
"maßgeblichen politischen Kräfte" in diesem, unserem Lande beton-
ten - also ein Verbot für n i c h t o p p o r t u n erachte-
ten, obgleich seine Durchführung weitaus geringere
"Schwierigkeiten" machen würde als die Aktionen von 1956.
O h n e offizielles Verbot machen sich Nachrichtendienste, Poli-
zei und Justiz an der Kriminalisierung von linken Leuten zu
schaffen und diesen ihre Politik und das Leben schwer; die Be-
rufsverbote sind durch die Besprechung von F ä l l e n und ih-
rer Notwendigkeit zum festen Bestandteil des demokratischen All-
tags geworden; so verbindet sich die Freiheit in wunderbarer Har-
monie mit der Behinderung von Vereinen, die dagegen sind. Dem
"einfachen Bürger" ist das recht. Er erschrickt eher vor einem
Studenten, der ihm ein Flugblatt in die Hand drückt, als vor sei-
nen Politikern, die unbehelligt von des Volkes Meinung ihre Auf-
rüstungsbeschlüsse durchziehen, laut darüber nachsinnen, ob das
Heer nicht durch Frauen aufzustocken ginge - und Kirchentage be-
suchen. Dazwischen verschaffen sie sich innerhalb einer Woche mit
"Anti-Terror-Gesetzen" die "unerläßlichen" rechtlichen Handhaben
für all das, was ihre Exekutivorgane in Sachen Jagdsport ohnehin
längst tun. Von all ihren guten Taten unterrichten die Massen-
blätter täglich das Volk, weisen es darauf hin, wer außerhalb und
innerhalb der Nation zum Hindernis dafür wird und werden könnte,
daß "unser Staat" seine Handlungsfreiheit bewahrt - und die Kunst
der Selbstbeherrschung in Betrieb und Familie wird ausgiebig nach
allen Regeln der Psychologie an den Mann gebracht.
Die professionellen Betreiber der öffentlichen Meinung nehmen die
Bildung des politischen Willens, an der sie mitwirken, ziemlich
ernst. Bundesdeutsche Journalisten wissen auch um ihre Verantwor-
tung als "vierte Gewalt" und führen mit Vorliebe Debatten um die
"Gefahren", die von ihrem Handwerk so ausgehen. Nach dem Motto:
"Wer kontrolliert die Kontrolleure?" führen sie ständig die Ge-
fahr u n b e h e r r s c h t e n Journalistentums im Munde; sie
erfinden die Gefahr der Unbotmäßigkeit der Bürger, welche die von
der Presse etc. veranstaltete theoretische Teilhabe an den
schwierigen Entscheidungsprozessen der Politiker heraufbeschwören
könnte. Das devote Gebaren von Interviewern, die einen politi-
schen Häuptling vors Mikrophon kriegen und ihm mit vorbereiteten
Fragen in den Arsch kriechen, zeigt, wozu sich deutsche Meinungs-
macher durchgerungen haben - aus den respektlosen Anwürfen gegen
Kohl seitens niederländischer Fernsehbürger ist tatsächlich so
etwas wie ein Skandal gemacht worden. Leistet sich ein Mann vom
Staatssekretär aufwärts einen Verstoß gegen die heiligen Prinzi-
pien demokratischer Geschäftsführung, so wird sein Fehltritt 1.
nur zögerlich enthüllt und 2. nur mit der wichtigen Frage zusam-
men der "Öffentlichkeit" übergeben, ob das Enthüllte oder die
Enthüllung das eigentlich Verwerfliche sei! Und noch jeder Abhör-
fall, dessen Rechtfertigung durch den zuständigen Minister für
den demokratischen Menschenverstand zu wünschen übrig läßt, zieht
die Forderung nach sich, man solle Gesetze schaffen, die den Be-
hörden das Leben und das Abhören nicht so schwermachen - und dem
Bürger die Gewißheit vermitteln, was ihm alles blüht. Verschleie-
rung ist also die Sache der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht,
ebensowenig wie Kritik. In aller Offenheit macht sie die Bürger
mit den Sorgen bekannt, die sie der Regierung bereiten. Daß es
demokratischen Politikern "doch bloß" um die Macht geht, wird dem
Volk ebenso schonungslos mitgeteilt wie das Bekenntnis zur Nütz-
lichkeit einer Staatsgewalt, die in der Gewißheit, den Volkswil-
len darzustellen, völlig souverän darüber entscheidet, was des
Volkes Wille ist. Die Medien der BRD gehen völlig in ihrer
Pflicht auf: sie sind so frei, eine Unterabteilung des Regie-
rungsgeschäfts zu sein. In der Bundesrepublik ist alles unter be-
ster demokratischer Kontrolle. Wo immer sich Kritik regt oder
angeregt wird, erfährt sie sogleich ihre Zurichtung: verantwor-
tungsvoll hat sie zu sein, also in Vertrauen und Zustimmung denen
gegenüber auszuschlagen, die die "Verantwortung tragen". Wer sich
aus seinen Einwänden gegen den Gang der Geschäfte nicht gleich
ein staatsbürgerliches Gewissen macht, ist verdächtig, nicht kon-
struktiv und muß sich den harten Vorwurf gefallen lassen, daß er
nur seinen, weil der freiheitlichen Demokratie Feinden nütze, die
auf der Flamme der Empörung "ihr Süppchen kochen". Diese Redens-
art ist der bundesrepublikanische Zensurstempel, mit dem der
seine negative Meinung äußernde Bürger sich noch allemal zur Ord-
nung rufen läßt, wenn er schon einmal etwas auszusetzen hat.
Daran, daß die Hauptbeschäftigung der westdeutschen Öffentlich-
keit nicht in Kritik, sondern in der Kritik von Kritikern be-
steht, läßt sich ermessen, welche Freiheiten diejenigen genießen,
die sich der Ausgestaltung der politischen Herrschaft verschrie-
ben haben.
2. Wirtschafts- und Sozialpolitik: der Klassenkampf von oben
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Die Vorteile der gelungenen Politisierung, von der die westdeut-
sche Öffentlichkeit Zeugnis ablegt, liegen zunächst einmal ganz
bei der dreigeteilten Staatsgewalt. Die Techniken demokratischer
Unterwerfung sichern ihr die prinzipielle Zustimmung zu allen
Maßnahmen, die sie ihrem "Auftrag" entsprechend für nötig erach-
tet. Weder brauchen sich die Politiker über mangelnden Zuspruch
bei Wahlen zu beklagen noch haben sie Sorgen wegen der
"Gleichgültigkeit", mit dem Desinteresse ihrer Bürger zwischen
den Wahlterminen, an denen das Volk sein Interesse an einer
"leistungsfähigen" Regierungsmannschaft bekundet. Im Unterschied
zu den akademischen Propagandisten des "mündigen Bürgers", die in
ihrer Sorge um den idealen Zeitgenossen nicht müde werden, mehr
politische Aktivität - sei es nach links oder rechts - zu verlan-
gen, wissen sie sehr genau um die Kleinigkeit, auf die es im Ge-
schäft der politischen Willensbildung einzig ankommt: daß das
Volk seine Interessen in politische Alternativen ü b e r-
s e t z t und darin d e n staatlichen Auftrag bewirkt und
immer wieder erneuert. Im Streit der politischen Meinungen, wie
ihn die bundesrepublikanischen Parteien vor und unter den Bürgern
austragen, kommt kein Zweifel darüber auf, worin die Leistung der
demokratisch hergestellten Souveränität des Staates zu bestehen
hat. Dieser Streit führt getreulich Protokoll über die Taten der
Regierung, die ihre Handlungsfreiheit nützt und dabei nur von
einer Opposition bedrängt wird, die genau dasselbe machen würde
wie sie: in aller Gründlichkeit regelt sie die Austragung der
Gegensätze in der bundesrepublikanischen Wirtschaftswelt, ge-
nehmigt in ihrer Treue zum Grundgesetz den verschiedensten sozia-
len Klassen und Gruppen der Gesellschaft die Verfolgung ihrer An-
liegen - oder verwehrt sie ihnen -, betont den "pluralistischen
Charakter" des neuen Deutschland und nennt das Ganze ihrer Wirt-
schafts- und Sozialpolitik einen "Ausgleich der Interessen".
Die allgemeinen Prinzipien des modernen Klassenstaats, der auf
die profitable Abwicklung der Konkurrenz und deswegen auch auf
die Brauchbarkeit der arbeitenden Klasse achtet, sind dabei zu
einer Perfektion gediehen, die ihresgleichen sucht. Während in
anderen entwickelten kapitalistischen Staaten Krisen auch zu
R e g i e r u n g s k r i s e n führen, weil die diversen Oppo-
sitionen sich die Opfer der ökonomischen Konjunktur, die Ver-
schlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und die daraus
enstehende politische Unzufriedenheit zunutze machen, sind die
Macher des Modells aus der zeitweiligen Verringerung des Wachs-
tums an Kapital als politische Helden hervorgegangen. Wo ander-
wärts die dem Klassenstaat gemäße harte Gangart gegenüber gewerk-
schaftlichem Aufbegehren ihre demokratische Konsequenz nach sich
zieht - die Regierungspartei verliert das Vertrauen ihres Wähler-
volks sowie die Unterstützung mancher auf tätige Hilfe scharfer
Kapitalisten -, also zur Erprobung der Opposition Anlaß gibt, hat
man sich in der Bundesrepublik jenseits der "Lager" schon einmal
auf die nationale "Lösung" einer großen Koalition besonnen, wel-
che seitdem auch immer wieder ins Gespräch kommt für den Ernst-
fall - der hierzulande eine Opportunitätserwägung der Parteien
ist, also lange vor dem staatlichen Notstand ins Blickfeld rückt.
Besonderer Schwierigkeiten mit dem Regieren enthoben, läßt sich
die Regierung der späten 70er Krisenjahre von der politischen Al-
ternative im Land offen und versteckt bescheinigen, daß die auch
nichts besser machen könnte. Der von wegen nahender Wahlen von
Strauß und den Seinen bisweilen in die Diskussion gebrachte Vor-
wurf, die Koalition sei nicht (mehr) handlungsfähig, blamiert
sich schon im Augenblick seiner Artikulation. Die Sozialdemokra-
tie hat immerhin nicht nur das Erbe gewisser maßgeblicher Momente
der Arbeiterbewegung angetreten (die bis Gotha und Erfurt zurück-
reichen, also Tradition h a b e n!), sondern auch das von Kon-
rad Adenauer. Ihre spezifischen Leistungen für die Klassengesell-
schaft der Bundesrepublik kann nur übersehen, wer mit rechter
oder - noch schlimmer - linker Brille die Ideale des Sozial-
staats, jene Ideologie einer Politik für die "sozial Schwachen",
mit der Durchsetzung von Interessen verwechselt, die sich gegen
das Kapital richten. Erstens haben Sozialdemokraten den Idealis-
mus des linken und intellektuellen Protests für sich eingespannt;
zweitens haben sie, wo sich dies nicht machen ließ, die Ächtung
der Kritiker bis hin zur Kriminalisierung erwirkt und prakti-
ziert, so daß heute alles, was links von der SPD steht, der be-
hördlichen und polizeilichen Observation unterliegt. Und drittens
haben sie die Resultate des "Wirtschaftswunders", das akkumu-
lierte Kapital wie die über das Lohnsystem, die Gewerkschaft und
den Sozialstaat zugerichtete Arbeiterschaft so konsequent für die
staatlichen Ziele ausgenützt, daß die C-Parteien mit ihrer
"Freiheit statt Sozialismus" lächerlich werden und Strauß sich
von der SPD sagen lassen muß, er sei ein "Sicherheitsrisiko" -
für die Abwicklung des nationalen Betriebs. Woraus viertens eben
nicht folgt, daß die Christen keine Chancen mehr hätten in diesem
unseren Lande. Immerhin haben die Sozialliberalen die rationale
Einigung soweit vorangetrieben, daß heute jede Mannschaft gleich
problemlos die Republik regieren kann.
Eine bundesdeutsche Regierung verfügt nämlich heute unabhängig
von ihrer Couleur über M i t t e l d e r K r i s e n-
b e w ä l t i g u n g, die den ausländischen Kollegen schmerz-
lich abgehen:
a) ein mit hoher Produktivität gesegnetes Kapital, das auf dem
Weltmarkt mit der Konkurrenz fertig wird und vom Staat nach allen
Regeln der Finanz- und Steuerpolitik Unterstützung erhält, um
sich auch künftig im W a c h s t u m zu üben. Wenn der BRD-
Staat seinen Haushalt verschuldet, weil er Milliarden für Inve-
stitionsprogramme locker macht, dann l o h n t sich die Sache
auch und gerade in der Krise, weil er den A u f s c h w u n g
mit gewaltigen Gewinnen subventioniert. Seine "Opfer" gelten
zünftigen Rationalisierungsinvestitionen und unterscheiden sich
in ihrer Wirkung ganz entscheidend von der anderswo praktizierten
Alternative der Subvention von Verlusten und der Verstaatlichung
unrentabler Betriebe.
b) eine "vernünftige Arbeiterschaft", die den Auswirkungen von
Krise wie Aufschwung einerseits die Bereitschaft zu gesteigerter
Leistung entgegensetzt, andererseits mit Hilfe des "sozialen Net-
zes" die staatlich reglementierte Form einer geplanten Armut er-
fährt. Im Modell Deutschland sind die unter der Rubrik
S o z i a l s t a a t zusammengefaßten Leistungen nicht nur
stets nach guter ideologischer Sitte als Wohltat des Staates ge-
priesen worden; der Zwang, mit einem Teil des Lohnes für die Un-
sicherheit und die äußerst gesicherten negativen Folgen der Lohn-
arbeit geradestehen zu müssen, ist hier zugleich für die Beförde-
rung nationaler Großanliegen f u n k t i o n a l i s i e r t
worden. Der westdeutsche Staat macht schon immer Ernst mit der
Auffassung, die den Lohnabhängigen auferlegte und staatlich ver-
waltete Kompensation ihrer Unbrauchbarkeit (Arbeitslosigkeit,
Krankheit, Invalidität, Alter) sei ein G e s c h e n k; er dis-
poniert mit den Zwangsbeiträgen wie mit den Steuern der Leute
recht großzügig als einem Posten seiner Einnahmen, der sich auch
einmal erhöhen läßt - aber auch als einem Posten seiner Ausgaben,
die er dann vermindert, wenn die einschlägigen Zahlungen bei den
Opfern des Arbeitslebens und der Konjunktur am nötigsten sind.
Die allgemeinen Grundregeln kapitalistischen Wirtschaftens für
die arbeitende Klasse - viel Leistung, knapper Lohn - sind in
Westdeutschland also nicht nur um die sozialstaatlichen Zusätze
bereichert worden, in denen der Staat die bleibende Armut der
Lohnarbeiter und die ständig fällige Pauperisienng so handhabt,
daß beides die Verwendbarkeit der Klasse nicht gefährdet, deren
Abschaffung findige Denker ausgerechnet dem Sozialstaat
zugutehalten; in den T e i l e n d e s A r b e i t s-
l o h n s, die als Steuer und Zwangsbeitrag in die öffentlichen
Kassen fließen, hat die Staatsgewalt einen H e b e l i h r e r
K o n j u n k t u r p o l i t i k entdeckt, durch den sie ihren
Auftrag, die Mehrung des nationalen Reichtums zu bewerkstelligen,
vorbildlich erledigt. Sie beweist durch ihre Taten, daß die Mehr-
heit der Bürger vom Funktionieren "der Wirtschaft", von dem sie
abhängig ist, nichts zu erwarten hat - und versichert zugleich,
daß Politik in ihrer "Ohnmacht" gegenüber den "Sachzwängen" der
Wirtschaft nichts anderes zum Ziel habe, als den Leuten Ar-
beitsplätze, soziale Sicherheit und die V o r a u s-
s e t z u n g für ihre "Lebensqualität" zu verschaffen. Den
K l a s s e n k a m p f, den kein Politiker den Proleten als ein
brauchbares Mittel fürs Zurechtkommen in und außerhalb der
Fabriken des 20. Jahrhunderts empfehlen mag, f ü h r e n sie
alle auf der anderen Seite, für sie. In minutiösen rechtlichen
Bestimmungen haben sie einer Abwehr gegen die zerstörerischen
Wirkungen der Lohnarbeit und die staatlichen Übergriffe auf den
Lohn Schranken gesetzt; mit der Erlaubnis des Arbeitskampfes
haben sie die Verpflichtung festgeschrieben, die Vertretung von
Arbeiterinteressen nicht zu einer Störung der Wirtschaft
auswachsen zu lassen. In großzügiger Manier unterstützen sie die
innerbetriebliche, in den diversen Lohnformen festgeschriebene
Erpressung der Lohnabhängigen zur Steigerung ihrer Leistungen.
Der "Weg aus der Krise", den die Bundesregierung unter dem
Beifall ihrer Freunde daheim und auswärts "gefunden" hat,
verdient in der Tat vorbildlich genannt zu werden - allerdings
nur für Leute, die die Mehrung des nationalen Reichtums in Form
von Kapital, also durch den Ausschluß der Produzenten von ihm,
für d i e Notwendigkeit erachten. An den Steuern, an der Höhe
der Zwangsbeiträge, am Modus der Arbeitslosenvergütung
(Neufassung der Zumutbarkeit), an den Kosten der Krankheit (das
bekannte Dämpfungsgesetz), an den Preisen - überall, wo es ging,
hat der "freiheitlichste Staat" in der nationalen Geschichte ge-
dreht, und stets in dieselbe Richtung. So nimmt es nicht Wunder,
daß die Produktivität des Kapitals "made in Germany" weiterhin
Spitze ist in der Welt - und daß für alles, insbesondere für un-
seren Beitrag zur "Verteidigung der Freiheit", genügend Geld da
ist; für alles außer eben für jene ökonomische Größe, von der die
gewöhnlichen Leute ihren Lebensunterhalt bestreiten. Man sollte
den Lohn gänzlich abschaffen!
3. Die Rolle der BRD in der imperialistischen Arbeitsteilung
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Sowohl die Ideologien, mit denen in der bundesdeutschen Öffent-
lichkeit über das Gelingen der Politik und den dafür erforderli-
chen "Beitrag" der verschiedenen Sorten der Bevölkerung gerechtet
wird, als auch die skizzierten Freiheiten, die sich jede Regie-
rung in diesem, unserem Lande herausnimmt, verweisen darauf, daß
es Betroffene gibt, deren Abstinenz in Sachen Klassenkampf den
Politikern und ihren Sprachrohren das Amt so leicht macht. Was
sie sich gefallen lassen, hat aufgrund der anderen Seite ihres
Wohlverhaltens - sie l e i s t e n einiges für "die Wirt-
schaft", an deren Blühen allen Demokraten so viel liegt jene
Stellung der BRD im Konzert der Nationen bewirkt, die ihren Re-
präsentanten das schöne Gefühl vermittelt, für einen
"ökonomischen Riesen" zu sprechen. Durch die erfolgreiche Bewäl-
tigung des Klassenkampfes, die sie sich natürlich hoch anrechnen,
sind bundesrepublikanische Politiker und Wirtschaftsgrößen in der
glücklichen Lage, auch außerhalb der Grenzen Westdeutschlands
Maßstäbe zu setzen. Weil sich die bundesdeutschen Arbeiter nun
seit dreißig Jahren dafür einspannen lassen, daß die von den Ame-
rikanern weiland in Gang gebrachten Geschäfte florieren, haben
die maßgeblichen Figuren in der internationalen Staatenwelt eini-
ges zu bieten. Die Produkte der westdeutschen Industrie sind
Schlager im internationalen Preis- und Qualitätsvergleich, die
mit ihrem Erlös wachsenden Kapitale machen sich als Anleger auf
dem Weltmarkt des Kapitals bemerkbar, wo immer sie dürfen. Dabei
sind sie nicht nur innerhalb der EG heimisch, die extra für die
Internationalisierung von Handel und Produktion geschaffen wurde
und den beteiligten Ländern neue Perspektiven in der Konkurrenz
gegeneinander und gegenüber Dritten eröffnet hat - inzwischen ist
Europa die gelungenste Überwindung nationaler Schranken, die ei-
nem deutschen Staat je gelungen ist. Unter dem Schutz der USA hat
sich die Bundesrepublik in allen Gegenden des militärisch wohlbe-
hüteten Globus ihrer ökonomischen Mittel der Konkurrenz bedient
und unterhält profitliche Beziehungen mit der arabischen Welt
ebenso wie mit Brasilien und China. Ein- und aufgerichtet als
Vorposten der Freiheit hat die BRD es verstanden, den kalten
Krieg zu einem Geschäft mit dem Gegner fortzuentwickeln, ohne die
Gegnerschaft aufzugeben, für deren erfolgreiche Bewältigung ohne-
hin die USA zuständig bleiben, und mit dem Ergebnis, daß die Ko-
operation dem Ostblock einigermaßen zu schaffen macht. Umgekehrt
wollte sich der mit der "wissenschaftlich-technischen Revolution"
im Kampf liegende reale Sozialismus, ungeachtet der ihm eigenen
Schranken für die Bewegungsfreiheit des Privateigentums, dem bun-
desrepublikanischen Drang nach "Aussöhnung" und "Entspannung"
nicht verschließen. Entwicklungshilfe (jene Sorte Investition in
Regierungen, die das Elend ihrer Untertanen zur Grundlage inter-
nationaler Partnerschaft entwickeln und vor lauter Beflissenheit
gegenüber den Partnern, den "Entwickelten", ihre Bevölkerung kre-
pieren lassen) ist ein ebenso alltäglicher Posten im politischen
Haushalt der BRD wie die dazugehörigen Waffengeschäfte - und bei
der "Auswahl" der Partner ist die Bundesregierung nicht kleinli-
cher als die Nachfolger der alten Kolonialreiche oder die USA.
Sämtliche Praktiken imperialistischer Erpressungskunst sind den
Demokraten der Republik geläufig - samt dem dazugehörigen öffent-
lichen Getue. Ein westdeutscher Wirtschaftsminister spricht zu
seinem Volk von "unserem Öl", von "unseren Freunden" und "von un-
seren sicherheitspolitischen Interessen".
Letztere liegen seit Bestehen der Republik streng an der Seite
der USA, also überall dort, wo die westliche Großmacht die ihren
entdeckt. Weil die Freiheit "unseres Staates" ein Nachkriegsge-
schenk der Amis ist, ist sie auch von Anfang an mit einigen im-
pliziten und expliziten Auflagen verbunden gewesen. Als Staat,
den sich die Großmacht Nr. 1 aus strategischen Erwägungen einge-
richtet hat, ist die BRD zunächst einmal Anlagesphäre amerikani-
schen Kapitals geworden: die Souveränität Westdeutschlands, die
durch die Kapitalisierung des Dollars und für sie vollzogen
wurde, hat in dieser ihrer Grundlage auch ihre bleibende
Schranke. Zwar ist mit ihr die Berechtigung, e i g e n e
G e s c h ä f t e zu machen, erteilt; und die befugten Herr-
schaften haben es auch zum "ökonomischen Riesen" gebracht - doch
wird an Währungsfragen sowie an gewissen Interventionen in Sachen
Handel, Atom und Öl immer wieder deutlich, daß die Bewegungsfrei-
heit in der imperialistischen Konkurrenz dem Freiheitsdrang der
USA nicht zuwiderlaufen darf. Der andere Preis für die amerikani-
sche Konzession, einen eigenen Imperialismus aufbauen zu dürfen,
liegt in der Verpflichtung, einen "Beitrag" zur Sicherheit des
Westens zu leisten. Dieser Pflicht ist die BRD mit ihrer NATO-
Bundeswehr nachgekommen, ohne allerdings damit das Placet dafür
zu erhalten, aus der Rolle des "politischen Zwergs" herauszutre-
ten; ebenso wie auf dem Feld der ökonomischen Konkurrenz die na-
tionalen Anliegen der BRD am Geschäftsinteresse der USA ihre im-
mer wieder spürbare B e d i n g u n g erfahren, nimmt sich der
atlantische Bündnispartner in seiner Strategie, die dem ganzen
Globus gewidmet ist und im militärischen Kalkül gegen die So-
wjetunion gipfelt, das R e c h t heraus, auch Entscheidungen zu
treffen, die den Machern in Bonn gar nicht passen. Da gibt es
durchaus eindeutige Diktate in Rüstungssachen, die dem
"politischen Zwerg" im "Herzen" Europas ein Kriegspotential aufs
Terrain stellen, das ihn auch auf dem Feld der Waffen zu imperia-
listischen Großtaten befähigt. Am Hin und Her über Maß, Kosten
und strategischen Zweck der gewünschten und verordneten Aufrü-
stung läßt sich allerdings auch ablesen, daß es der große Bruder
aus Übersee bei diesem Unternehmen darauf abgesehen hat, daß die
BRD zweite Garnitur im freien Westen und damit dem amerikanischen
Kalkül verfügbar bleibt - als Vorposten im nuklearstrategischen
Poker mit den Russen. Darin wiederum hat die bundesdeutsche Au-
ßenpolitik ihre Stärke.
Die Bundesrepublik ist also in jeder Hinsicht am Imperialismus
b e t e i l i g t, was sich in den "Alternativen" demokratischer
Außenpolitik zeigt: entweder man betont zuerst die Differenzen zu
den USA und beteuert dann die unverbrüchliche Freundschaft, oder
man macht es umgekehrt - beides natürlich mit demselben Ergebnis.
Von der "Fortsetzung der Entspannungspolitik" bis zum Einbau des
Olympiaboykotts in die Aufrüstungsverhandlungen weiß jeder
"verantwortliche" Außenpolitiker, daß sich die "sicherheits-
politischen Notwendigkeiten" des W e s t e n s - die immer
beachtet werden müssen - und die Interessen der e i g e n e n
Nation n i c h t decken, beim gedeihlichen Osthandel, beim
freundschaftlichen Verkehr mit den Franzosen, anläßlich von
Sonderabkommen mit Ölförderländern usw. So ist die unter dem
Motto "wir wollen auch gar nicht (wieder) politische Riesen
werden" veranstaltete Propaganda für den Nationalismus des Volkes
auch einigermaßen verhalten. So sehr die BRD als ein Staat zur
Darstellung gelangt, in dem es sich im Unterschied und gegen an-
dere zu leben und zu arbeiten, zu kaufen und zu sparen, zu lei-
sten und maßzuhalten lohnt, so wenig wird der durchaus volkstüm-
liche Anti a m e r i k a n i s m u s, der ja kein A n t i-
imperialismus ist, geschätzt. Der Nationalismus nach außen bleibt
der Sphäre vorbehalten, in der er für die außenpolitische Taktik
allemal unbedeutend, weil sowieso funktional ist. Er lebt in den
unterhaltsamen Sparten der Massenkultur, insbesondere im
sportlichen Vergleich der Staaten, wo er als friedliches Kräf-
temessen der Staatsvölker darauf wartet, für die Notwendigkeiten
der Politik und der Vermehrung des nationalen Reichtums mobili-
siert zu werden. Großartige Medaillenspiegel und nicht gewonnene
Preise beim Schlagerfestival unterstreichen dezent, worauf es im
Moment den heimischen Staatsmännern ankommt; ob so etwas über die
Begeisterung oder Enttäuschung der Massen hinaus politische Be-
deutung erlangt, hängt ganz davon ab, ob sich die Macher der Re-
publik dazu entschließen, sich der Feindseligkeit oder Ängste ei-
nem fremden Menschenschlag gegenüber zu bedienen. Wenn es darauf
ankommt, verhilft die offizielle Propaganda dieser Sorte Nationa-
lismus aus ihrer Unbedeutendheit heraus, denn mit der
s e l e k t i v e n Handhabung lassen sich die den politischen
Konjunkturen entsprechenden S c h u l d i g e n immer fristge-
mäß finden. Schuld sind sie an den Opfern, die der gewöhnliche
Deutsche zu bringen hat; so ist die Abgefeimtheit der Ölscheichs
direkt proportional zu den Gewinnen der hiesigen Ölgesellschaften
gestiegen, die als M u l t i s auch zu viel absahnen, genau wie
die Japaner mit ihren dumping-verdächtigen Toyotas. Und natürlich
kriegt jeder Arbeitsmann - so es die Konjunktur außenpolitischer
Händel gebietet - per Zeitung und Fernsehen tagtäglich gesagt,
daß er zum "freien Westen" gehört, weil er ein Westdeutscher ist.
Nicht nur die K r i s e unserer Wirtschaft, auch die möglichen
und notwendigen K r i e g e erfordern eben, daß jeder gegenüber
dem Hauptfeind seinen Mann steht. Daß sich die "Massen" so geleh-
rig zeigen in dieser Hinsicht, wie sie ihr Verständnis bekunden
auch für "unsere Sicherheitspolitik" und die daraus folgenden
Auflagen in Sachen Atomkraft und Bundeswehr, Tarifpolitik und
Geldbeutel, ist der Erfolg der Schulung einiger Jahrzehnte: vom
Nationalismus des "eigentlich besseren Deutschland" der Entnazi-
fizierungsepoche über die gesamtdeutsche Heimatliebe zu den Brü-
dern und Schwestern in der Zone, vom Triumph der Nationalmann-
schaft 1954 bis zum Selbstbewußtsein des guten, weil deutschen
Europäers unserer Tage. Gerade als g e b r e m s t e r ist der
bundesdeutsche Nationalismus brauchbar für die Harmonie von Nutz-
nießern und Geschädigten "der Wirtschaft", zwischen Regierenden
und Regierten - und die Linke wird mit Hilfe der Ideologie der
Völkerfreundschaft auch in diesem Nationalismus, weil er
"politisiert", wie weiland in der Krise, zunächst eine "Chance"
sehen, bis ihre Hoffnungen von der "Geschichte " widerlegt wer-
den. Die tatsächliche Widerlegung ihrer Vorstellungen sowie die
offenkundigen Fakten und Folgen der Ausbeutung, d e r
G r u n d l a g e für die Freiheiten der politischen Herrschaft,
haben sie stets ohnehin "übersehen".
II
Die Lage der arbeitenden Klasse und ihre Gewerkschaft
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1. Ausbeutung und Armut im Modell Deutschland
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Mit einigem Vertrauen und viel Wählerstimmen läßt sich kein Staat
machen. Die großspurigen Gesten der Politiker, die geschäftig vom
Parlament zum Interview und von diesem zum nächsten Flugzeug ei-
len, um im Ausland ihren Kollegen von der Größe ihrer Nation zu
künden, Verträge abzuschließen, Waffen zu bestellen oder zu ver-
scheuern, Projekte schmieden und immerzu Verantwortung tragen -
eben das gesamte politische Getöse beruht auf dem
R e i c h t u m, den sie repräsentieren und dessen beständige
Vermehrung sie verwalten. Und aus ihren Verlautbarungen, die je-
dermann zugänglich gemacht werden, damit man weiß, für wen man
sich begeistern soll - die Hälfte des in Zeitungen Gedruckten und
im Fernsehen Erzählten besteht aus gefällig kommentierten Sprü-
chen der Prominenz -, geht hervor, daß diese Herrschaften auch
genau wissen, w o h e r der Reichtum und somit die Größe der
Nation kommt. Daß in allen Phasen der Konjunktur
g e a r b e i t e t werden muß, und das nicht zu knapp, ist al-
len so geläufig, daß sie das Lob der deutschen Wertarbeit, des
Fleißes "der Deutschen", die viel weniger Pausen und Streiks ver-
anstalten als ihre ausländischen Kollegen, zu einem festen Be-
standteil ihrer "politischen Arbeit" haben werden lassen. Und
nicht nur das. Auch die andere Grundlage des ökonomischen Erfolgs
ist ihnen vertraut: die Arbeit muß auf dem Arbeitsmarkt
b i l l i g zu kriegen sein. Keine "Herausforderung", mit der
die Lenker von Staat und Wirtschaft konfrontiert werden, die
nicht durch e i n Mittel zu bewältigen wäre: durch eine
"vernünftige Lohnpolitik", also durch die Bescheidenheit der
Leute, die - statt große Herausforderungen zu meistern - ledig-
lich jahraus jahrein in die Fabrik gehen und ihre Knochen und
Nerven betätigen. Der Import von Öl und Dollars, der Export von
VWs und Maschinen, die Lage an Rhein und Ruhr, die Krise der
Werftindustrie, der Aufschwung und die Inflation - kurz:
a l l e s verlangt die sparsame Kalkulation mit den Lohnkosten.
Im Gegensatz zum Politiker, dessen B e r u f im ausgiebigen Ge-
brauch der politischen Freiheit besteht, das Volk per Gesetz und
Agitation wissen zu lassen, was erlaubt ist und was nicht, ist
die freie politische Betätigung für die Mehrheit der Bürger nur
ein Z u s a t z zu ihrem Tagwerk. Die freie Meinung über die
Weltenläufte, die ihnen täglich frisch und frei ins Haus zur Bil-
dung einer eigenen geliefert wird, das Hin und Her von Geschimpfe
und Respektsbezeugung über die "da oben", die Kundgabe dieser
Meinung in Form eines Stimmzettels, mit dem sie an der Entschei-
dung teilhaben - eben s e i n e politische Aktivität vollzieht
der gewöhnliche Zeitgenosse, w ä h r e n d und n a c h d e m
er arbeitet. Und in diesem Gebrauch seiner politischen Freiheit
bekundet er in aller Form sein Einverständnis mit der Politik,
die sich an der Verwaltung seiner Armut bewährt, die sein Beruf
mit sich bringt. Der gewöhnliche Mensch ist nämlich
L o h n a r b e i t e r von Beruf, vermehrt mit seiner Leistung
das Eigentum anderer und gibt den Repräsentanten der Nation fort-
während Gelegenheit, mit dem Reichtum, den es als Kapital gibt,
Staat zu machen. Für diese Übung erhält er in dieser unserer Bun-
desrepublik wie in anderen kapitalistischen Ländern auch die le-
benslange Freiheit, Lohnarbeiter b l e i b e n zu dürfen und
zuzusehen, wie er mit den Notwendigkeiten dieses Gewerbes fertig
wird. Der Notwendigkeiten gibt es wegen der unerbittlichen Ge-
setze der Wirtschaft, denen sich die Regierenden unmöglich ver-
schließen können - worin sonst sollte die Kunst politischer Herr-
schaft bestehen als in der Durchsetzung von Z w ä n g e n? -,
ziemlich viele, die freilich auch hierzulande allesamt nur einen
Grund haben.
Doch dürfte es ganz unabhängig von den näheren Auskünften über
die Welt von Leistung und Lohn nicht überflüssig sein, über die
in aller Welt sicher stark bezweifelte Behauptung,
L o h n a r b e i t b e d e u t e A r m u t, einiges klarzu-
stellen: schließlich weiß heute jedes Kind, daß wir es bei der
BRD mit einer "Wohlstands-" und "Überflußgesellschaft" zu tun ha-
ben. Weder ist zu leugnen, daß es Wohlstand und Überfluß
g i b t, noch soll die Tatsache bestritten werden, daß Millionen
Lohnabhängige mit dem Auto zur Arbeit fahren. Dennoch bedarf es
stets eins albernen Vergleichs mit "schlechten Zeiten" oder Land-
strichen, in denen das Verhungern "normal" ist, um auf den Spruch
zu kommen: "Heute geht es dem deutschen Arbeiter gut". Wer die
Erscheinungsweisen moderner Lohnarbeit am Pauperismus mißt, not-
gedrungen keine Armut entdecken können, denn aus diesem Grund
stellt er ja seinen Vergleich an. Der Zweck der Übung besteht
eben einzig und allein in der Deduktion der Frechheit, die Ver-
sorgung eines Arbeiters mit dem N ö t i g e n als "Wohltat" der
Industriegesellschaft und ihres demokratischen Staats hinzustel-
len und alle Ansprüche für vermessen zu erklären, die über dieses
Nötige hinausgehen. Der Anteil des Arbeiters am gesellschaftli-
chen Reichtum wird nicht an diesem gemessen und schon gleich gar
nicht an den Bedürfnissen, die sich mit dem jeweils erreichten
Niveau der Produktion als notwendige Ansprüche einstellen; viel-
mehr erscheint dem interessierten Vergleichsstandpunkt bereits
die bloße Reproduktion der Arbeiterschaft als "Wohlstand" und da-
mit als Anlaß für ein heißes Lob des Kapitalismus. Wo diese Be-
trachtungsweise vom Arbeitsmann höchstpersönlich als Urteil über
seine Lage aufgefahren wird - "Mir könnte es schlechter gehen",
"Mir geht's (relativ) gut" -, wird sie auch nicht zum objektiven
Urteil, sondern bedient sich gewöhnlich eines ziemlich
"naheliegenden" Maßstabs als Vergleichspunkt: der schlechter ver-
dienende Kollege, der ungelernte Mann an der schlechten Maschine
etc. führen da zum positiven Resultat, das nichtsdestoweniger als
Ausdruck seiner Unzufriedenheit kenntlich ist; wie anders käme er
darauf, s e i n e n B e d a r f a m M a n g e l
a n d e r e r z u r e l a t i v i e r e n? Und gerade in den
lichten Momenten proletarischer Intelligenz, in denen sich deut-
sche Arbeiter so sehr mit ihren Staatsmännern einig wissen, daß
sie demonstrierenden Studenten die Versorgung mit Arbeit empfeh-
len, um von ihrer Kritiksucht geheilt zu werden, sprechen sie
aus, daß ihnen ihr Beruf als Z w a n g vertraut ist, den sie
anderen durchaus gönnen - vorausgesetzt, sie benehmen sich nicht
wie anständige Studierte und gehen "in die Politik"! Im übrigen
zeigt das Vorhandensein auch von Paupers, die sich zum Vergleich
heranziehen lassen, wie wenig es im Sinne des Erfinders der Lohn-
arbeit lag, den Leuten auch nur ein A u s k o m m e n mit ihrem
Einkommen zu bescheren: daß in Gesellschaften wie der Bundesrepu-
blik Arbeiter von ihrem Lohn l e b e n können, heißt eben noch
nicht einmal, daß die S i c h e r u n g d e r E x i s t e n z
im Zweck kapitalistischen Wirtschaftens unbedingt eingeschlossen
wäre. Diese Produktionsweise stellt der allgemeinen Form der mo-
dernen Armut, vom Arbeitslohn leben zu können, durchaus andere
Formen zur Seite - und der S o z i a l s t a a t mit all seinen
Regelungen für den Fall, daß einer mit Arbeit nichts verdienen
kann, ist das Eingeständnis der "Überflußgesellschaft", daß auch
das existierende Elend kein Zufall, sondern eine einberechnete
und deswegen organisierte Notwendigkeit ist.
Wer angesichts der Tatsache, daß in der Bundesrepublik ein paar
Millionen Menschen von ihrer Arbeit mehr schlecht als recht
l e b e n, in ein lautes Lob des Fortschritts unserer
"Industriegesellschaft" ausbricht, der will auch von der
L e i s t u n g nichts wissen, die für diese großzügige Gewäh-
rung der schieren Existenz tagtäglich gebracht werden muß. Er
kann getrost über die Kleinigkeit hinwegsehen, daß in unserem
Land außer Fernsehstudios mit schlauen Moderatoren drin und
Warenhäusern mit den Insignien der "Konsumgesellschaft" auch noch
F a b r i k e n herumstehen, in die jeden Morgen Tausende ein-
marschieren. Das Desinteresse daran, was i n diesen Fabriken
täglich vor sich geht, führt übrigens zur Anwendung jenes beque-
men Maßstabs des Geldbeutels, die es bisweilen bis zu einer mora-
lischen Verdammung gewisser "Extreme" bringt. Bequem ist dieser
Maßstab darin, daß er sich der Einkommensunterschiede in unserer
Gesellschaft annimmt und sich das ganz und gar fiktive Problem
der V e r t e i l u n g zurechtlegt, für das sich dann weit und
breit keine Lösung finden läßt - dazu müßte ja eine Instanz her,
die einen nirgends vorhandenen Einkommensfonds gerecht unter die
Leute bringt; seine moralische Qualität liegt in der Heuchelei,
man sorge sich um die Gerechtigkeit der Einkommensverteilung,
wisse aber nicht, wie dergleichen angesichts wirtschaftlicher
"Sachzwänge" zu erreichen sei - was gar nicht verwundert, weil
die "Sachzwänge" eben für die Verteilung der Einkommen sorgen.
Die konservative Kritik an solchem sozialen Engagement nimmt da-
gegen gleich offensiv für die "Sachzwänge" und für die
"wirtschaftliche Vernunft" Partei. Sooft reformerisch gesinnte
Kräfte einen Gesetzesentwurf unter der Flagge der
"Verteilungsgerechtigkeit" verkaufen, wird der ungebührlichen
"Gleichmacherei" entgegengetreten mit der Behauptung, die betref-
fende Maßnahme wirke sich verheerend auf die Leistungsbereit-
schaft der Menschheit aus. Obgleich so ein Christdemokrat mit
Vorliebe in diesem Zusammenhang auch noch von Initiative, Risiko
und Fleiß des Geschäftsmannes zu faseln pflegt, weil er meint,
das alles gehöre b e l o h n t, trifft er die Wahrheit bzw. Un-
glaubwürdigkeit seiner sozialdemokratischen Kollegen sehr genau.
Mit seiner Deutung von Einkommensunterschieden als Motor energi-
schen Schaffens verrät er sogar eine gewisse Ahnung davon, daß
der Maßstab des Geldbeutels keinen Stoff für politische Moralpre-
digten abzugeben hat und auch als Anlaß zum Neid, dem offiziel-
lerweise geduldeten Schein von Materialismus, nur Ansporn zur
L e i s t u n g, nicht aber zu K r i t i k sein darf. Ein Kon-
servativer verläßt sich auf die Wirkung, welche seiner Doktrin
zufolge von den Einkommens u n t e r s c h i e d e n ausgeht und
die es ihm angetan hat - und darin ist er ideologisch. Denn die
Ursache dafür, daß viel geleistet in Deutschlands Fabriken, sind
nicht die Einkommensunterschiede, sondern ganz andere und ziem-
lich bekannte Umstände.
Soviel weiß nämlich ein jeder, daß die Arbeiter nicht zum Spaß in
die Fabrik gehen und auch nicht deswegen, weil ihnen die enormen
Vermögen ihrer "Arbeitgeber" in die Augen stechen, so daß sie
sich zum Zwecke der Nivellierung der Einkommen an den Maschinen
abrackern. Sie brauchen ihren L o h n zum Leben, weil sie außer
ihrer A r b e i t keine Einkommensquelle haben. Die Diskussion,
die sie über die Höhe i h r e s Einkommens zu führen haben, er-
schöpft sich in einem überaus kurzen Gespräch mit einem Menschen
von der Personalabteilung, von dem sie erfahren, wieviel der Be-
trieb aufgrund der Lage am Arbeitsmarkt für ihren regelmäßigen
Einsatz zu zahlen bereit ist, so daß sie in zweierlei Hinsicht
über ihre Verdienstmöglichkeiten aufgeklärt werden: erstens kön-
nen sie sich e i n b i l d e n, zwischen verschieden gut be-
zahlten Arbeitsplätzen zu wählen (wobei die Unterschiede schon in
ihrer Größe einiges sagen über die Summen, die bei ihnen ins Ge-
wicht fallen), können dabei aber auch f e s t s t e l l e n,
daß s i e verglichen werden in bezug auf ihre Brauchbarkeit;
zweitens erfahren sie, daß es nach Abschluß des Arbeitsvertrags
sehr auf ihre Leistung ankommt, wenn sie ihren Lohn um ein paar
Pfennige zu ihren Gunsten korrigieren wollen. Schon um den ver-
einbarten Preis zu erzielen, müssen sie aufs Diskutieren verzich-
ten und an den modernen Maschinen einiges tun. Und da der
"Arbeitsmarkt" die Höhe ihres Entgelts ziemlich niedrig ausfallen
läßt, wiederholen sie ihren Dienst in der schönsten Regelmäßig-
keit ein Leben lang, Woche für Woche. Weil ihr Einkommen so
k n a p p bemessen ist, daß sie ständig mehr davon gebrauchen
können, sind sie auch bereit, die Angebote ihrer "Arbeitgeber"
zur Zahlung von mehr Geld gegen mehr Leistung anzunehmen, die ih-
nen in Form von Ü b e r s t u n d e n und S o n d e r-
s c h i c h t e n unterbreitet werden - wobei ihnen auffällt,
daß es in ihrer Macht nicht steht, zu entscheiden, wann sie ihr
Einkommen aufbessern wollen. Das "Angebot" wird v e r-
o r d n e t, also vom Betrieb nach seinen Kriterien beschlossen,
was "Notwendigkeit" heißt und für den Arbeiter P f l i c h t
ist. Jeder Zeitlöhner ist darin in der Lage, die Gleichung "mehr
Leistung - mehr Lohn" am eigenen Leib zu erfahren: damit e r
m e h r v o m L e b e n h a t, b l e i b t e r l ä n g e r
i n d e r F a b r i k; und wenn betriebliche Notwendigkeiten
es erfordern, wird K u r z a r b e i t eingeführt, so daß er
mit weniger Einkommen mehr vom Leben hat, weil er früher daheim
ist. Doch auch im betrieblichen Alltag wird ihm besagte Gleichung
aufgemacht und bedeutet, daß in seinem Fall jeder Vorteil seinen
Preis hat, daß er also weder in Sachen Lohn noch in bezug auf
seine Leistung umstandslos in den Genuß einer Annehmlichkeit
gelangt, ohne mit handfesten Unannehmlichkeiten dafür zu
bezahlen. Auch hier, in der Abteilung, wird er vom ersten Tag
seiner Tätigkeit an mit seinen Kollegen v e r g l i c h e n;
die Einordnung in bestimmte Lohngruppen setzt jeden an eine
Stelle in der Hierarchie der Arbeitsplätze, mit der die Ideologie
vom L e i s t u n g s l o h n auch für den gesündesten Men-
schenverstand erledigt sein müßte. Denn mit den schlechter be-
zahlten Tätigkeiten ist keineswegs ein Weniger an Verausgabung
verbunden, wie überhaupt in der gesamten Gesellschaft die Hierar-
chie der Berufe ein seltsames Zusammentreffen der Kriterien
A n s t r e n g u n g u n d V e r d i e n s t aufweist. Aber
die Ideologie lebt eben nicht - wie der Name schon sagt - von
Tatsachen, sondern vom Z w a n g zur Leistung, dem jedermann
ausgesetzt ist, der von Lohnarbeit lebt und ein paar Pfennige
mehr ergattern will. Wenn sie im Zusammenhang mit versauten Spie-
len im Profi-Fußball Anwendung findet ("für das viele Geld könn-
ten sie besser spielen!") und dennoch in der Fabrik so gar nicht
zur Begründung von Ansprüchen taugt ("für diese Anstrengung müs-
sen wir aber genau das Doppelte kriegen!"), so liegt das daran,
daß in der Fabrik die Wahrheit zum Zuge kommt; und die besteht
darin, daß den Proleten d i e K o n k u r r e n z
v e r o r d n e t wird, sie also mit dem Vergleich ihrer Lei-
stungen untereinander beglückt werden. Die E r p r e s s u n g
z u r L e i s t u n g beruht auf der Beurteilung des einzelnen
im Verhältnis zum anderen, also in einer äußerst zweckmäßigen An-
wendung jenes "Maßstabs des Geldbeutels" auf die, die allen Grund
haben, auf eine Aufbesserung ihrer Kasse zu sinnen. Ein Fachar-
beiter mag noch so viel Stolz auf seine "Qualifikation" entwic-
keln - um in eine höhere Lohngruppe bzw. an einen "besseren Ar-
beitsplatz" zu gelangen, muß er auch als Zeitlöhner seinem Mei-
ster oder Gruppenführer durch L e i s t u n g imponieren. Denn
der vollzieht an ihm seine Beurteilung, für die ganze Punktesy-
steme erfunden worden sind, um den Vergleich der einzelnen Arbei-
ter möglichst genau und wirksam durchzuführen. Und um hier er-
folgreich zu sein, hat es mit der bloßen "Demonstration" und dem
guten Einvernehmen mit dem Vorgesetzten keineswegs sein Bewenden,
wenngleich die bewußte Absetzung vom Konkurrenten, dem Kollegen,
auf diesem Felde in deutschen Fabriken zu schönen Techniken der
Schleimerei ausgereift ist. Auch wenn die zusätzlichen Pfennige
zunächst nur im Kopf des Proleten existieren und die vorteilhafte
Neueinstufung erst als vages Versprechen des Meisters winkt, ist
die zusätzliche Leistung des Arbeiters schon eine ziemlich reale
Gewinnquelle für die Firma.
Dabei darf ein Zeitlöhner noch nicht einmal den ideologischen Eh-
rentitel eines Leistungslohns für seine Arbeit reklamieren. Die-
ser bleibt denen vorbehalten, die A k k o r d machen und dem
schönen Spruch "Akkord ist Mord!" ihre Zustimmung nicht versagen,
deswegen aber noch lange keine Kommunisten sind. Denn obgleich
Tarifverträge, den Akkordlohn betreffend, die Normalleistung als
eine definieren, die ohne Schaden für die Gesundheit dauerhaft
erbracht werden kann, mag sich aus gutem Grund kein Akkordlöhner
mit 100% zufriedengeben. Auch hier wirft sich das Kapital in die
Pose einer Instanz, die ein Angebot überreicht - und der Geldman-
gel der "Wohlstandsproleten" führt mit tödlicher Sicherheit dazu,
daß sie sich unter Ausnützung der "Möglichkeit", die
n ö t i g e n 100 Mark mehr im Monat zu verdienen, ruinieren.
Diejenigen, die den Akkord als i h r Mittel eines besseren Ver-
dienstes einsetzen, die Jüngeren, können an der Physis ihrer äl-
teren Kollegen studieren, wie sie in ein paar Jährchen aussehen -
und sich sagen lassen, daß sie die Hetze auch nicht ewig aushal-
ten. "Dequalifizierung" gehört eben zum Akkord, von der Seite der
Arbeiterklasse her gesehen als zunehmend sichtbare Unfähigkeit,
dieser "Verdienstmöglichkeit" gerecht zu werden, und aus der
Sicht des Betriebs heraus als objektive Notwendigkeit der Kalku-
lation. An den Grenzen der Leistungssteigerung, deren das Ar-
beitsvolk fähig ist, erfährt das Management sämtlicher Ebenen,
wann sich die Einführung neuer Maschinerie lohnt, die mit der
V e r e i n f a c h u n g der Arbeit die Strapazierfähigkeit,
den V e r s c h l e i ß des Arbeiters zur einzig gefragten Qua-
lifikation werden läßt. Wenn sich in den Fabriken der BRD diesel-
ben und noch bessere Produkte als früher heute durch Angehörige
unterer Lohngruppen an wunderbaren Bändern herstellen lassen, so
zeigt das eben den Witz am "Leistungslohn", der viel Lohnkosten,
weil Facharbeiterlöhne, wie Arbeitsplätze erspart; ganz nebenbei
belebt diese Lohnform die Konkurrenz um die "angenehmeren" Ar-
beitsplätze, die immer rarer werden und gewöhnlich mit
"Verantwortung" verbunden sind, also Aufsicht und Beurteilung der
Leistung anderer einschließen. Und dennoch finden sich Millionen,
die die Ideologie des Leistungslohns an sich selber ausprobieren,
weil ihnen eben nichts anderes übrigbleibt. Das alles gilt einer-
seits als ganz normal, so daß in illustrierten zur Demonstration
von Schwerstarbeit kein Montageband von VW zum Material einer Re-
portage gewählt wird, sondern die Conti-Schichtler einer national
ganz wichtigen Branche. Die ganz besonderen Arbeitsplätze gibt es
nämlich auch noch, die, an denen man sich mit viel Dreck, Hitze,
Lärm und anderem, mit ausgemachten Gefahren für Leib und Leben
fertigmachen kann - für eine P r ä m i e. Hier ist es überhaupt
kein Geheimnis, worauf der Verdienst der Proleten gründet, und
dennoch hört man statt Kritik an diesen Formen der Menschenschin-
derei nur den gewerkschaftlich vorgetragenen Wunsch nach einer
"Humanisierung der Arbeitswelt", so daß die Proleten wohl noch
eine Zeitlang über die ausgezeichneten Verdienstquellen bis hin
zur S c h i c h t a r b e i t verfügen werden und das Kapital
die funktionale Verwandlung der Lebenszeit eines Arbeiters in Ar-
beitszeit, die sachzwanggemäße Ausnutzung des 8-Stunden-Tags und
der 5-Tage-Woche mit ihren kleinen Extras - als da sind überstun-
den, Kurzarbeit, unbezahlter Urlaub und Entlassungen - prakti-
ziert.
In diesen Fragen hat das Kapital durchaus den Nutzen des Sozial-
staats f ü r s i c h entdeckt und beruft sich praktisch auf
die schönen Techniken, in denen bei uns Armut verwaltet und orga-
nisiert wird. Es entläßt umstandslos jede Menge Leute, verab-
schiedet mit einem Lächeln seiner Manager einen Sozialplan, ver-
weist gemeinsam mit den zuständigen Politikern auf die Auffang-
qualität des s o z i a l e n N e t z e s, dessen Zumutungen
die momentan oder überhaupt Unbrauchbaren dann ausgeliefert sind.
Der Staat seinerseits nimmt sich der Opfer in der Weise an, daß
er ihnen erst einmal das Recht bestreitet, ohne Dienst am Kapital
Geld zum Leben zu kriegen, und dringt darauf, daß sich die Be-
troffenen willig und billig zur Verfügung halten - was ihm mit
Hilfe des handfesten Drucks mit dem Einkommen, also aufgrund der
von ihm fortgesetzten ökonomischen Erpressung nicht schwer fällt.
All diese Phänomene der "Wohlstandsgesellschaft" haben die Eigen-
tümlichkeit, tatsächlich "Überfluß" hervorzubringen und doch nur
eines zu bezeugen: daß hier der M a n g e l derer, die sich mit
Arbeit durchs Leben schlagen, die bleibende Grundlage für ihre
Leistung - und nicht ihre Leistung Mittel für die Beseitigung der
Armut - ist. Am Reichtum der Republik bzw. ihrer besitzenden Bür-
ger läßt sich nur in einer Hinsicht das ablesen, was Wissen-
schaftler ihrem staatstreuen Denken gemäß immerzu behaupten: daß
Marx überholt sei! Veraltet sind einzig seine Zahlenbeispiele für
die Mehrwertrate, d a s Maß der Ausbeutung im Kapitalismus.
Denn daß sich notwendige Arbeit und Mehrarbeit auch nur ungefähr
wie 1:1 oder 1:2 verhalten, ist wirklich eine ins vergangene
Jahrhundert gehörige Sage.
Sowenig nämlich die modernen Produktionsmittel die industrielle
Arbeit erleichtert haben, so konsequent haben sie ihren Zweck er-
füllt: sie sorgen dafür, daß sich die Anspannung der Kräfte, über
die ein Arbeiter verfügt, auch tatsächlich lohnt - wenngleich
nicht für ihn. Kapitalisten und ihre fachkundigen Helfer vom
Refa-Verein wissen nicht nur, daß die I n t e n s i v i e-
r u n g der Arbeit dieselbe vorteilhafte Wirkung aufs Geschäft
hat wie die kostspieligen Anlagen, die die P r o d u k-
t i v i t ä t der Arbeit steigern; sie lassen sich auf
R a t i o n a l i s i e r u n g e n ein, wenn sich mit den alten
Anlagen nichts mehr steigern läßt, also mit dem erklärten Zweck,
kostengünstiger zu produzieren, wobei die Vereinfachung der
Arbeit stets die ausgiebigere Benützung des menschlichen
"Materials" einschließt. Die Industriellen Westdeutschlands haben
in den vergangenen Rationalisierungswellen das Werk des
"Wirtschaftswunders" gekonnt fortgesetzt, indem sie die zur Ver-
fügung stehenden Produktionsmittel stets durch die Intensivierung
der Arbeit bis an die physischen Schranken der Proleten und über
sie hinaus ausgenützt haben, um dann mit der Erneuerung ihrer Ma-
schinerie die erforderliche Q u a l i f i k a t i o n ihrer
"Mitarbeiter" immer mehr auf die pure Bereitschaft zu reduzieren,
den Körper zu strapazieren. So ist es ihnen gelungen, die barba-
rischen Produktionsmethoden insbesondere das Fließband, zu einem
Einsatzfeld für die Reservearmeen ungelernter Arbeiter auch ande-
rer Nationen zu entwickeln, in denen das Kapital keine Verwendung
für das Arbeitsvieh hat. An den Gastarbeitern läßt sich sehen,
wie das deutsche Kapital Maßstäbe setzt: es macht aus den Paupers
anderer Länder seine Lohnarbeiter, und deren Benutzung sichert
ihm die Überlegenheit im internationalen Konkurrenzkampf. Daß ein
deutscher Arbeiter ebenso von den Techniken der Ausbeutung ge-
schafft wird, weiß zwar ein jeder; immerhin liefert ihm der Blick
auf die mit noch größerem Dreck beschäftigten und noch schlechter
bezahlten Ausländer den Trost, nicht zu den Ärmsten zu gehören.
Doch mehr als dieser Trost springt nicht heraus aus der besseren
Stellung in der Hierarchie der Lohnarbeit, einer Stellung, die
durch Leistung Tag für Tag gerechtfertigt sein will.
Keiner von diesem modernen Menschenschlag kann es sich leisten,
nach ein paar Jährchen Arbeit in den Ruhestand zu treten und von
den Früchten seines Schaffens zu leben - die treten ihm als
"Arbeitsplatz" gegenüber, an dem er, mit den Jahren zusehends
seiner Lebenskräfte beraubt, für seinen Anteil am gesellschaftli-
chen Reichtum geradezustehen hat. Auch die zeitweise oder dauer-
hafte Aufstockung des Verdienstes, von dem er die Seinen durch-
bringen muß, durch die Berufstätigkeit seiner Frau schafft da
keine Abhilfe, dafür aber eine historisch neue Form des Familien-
lebens. Die Teilnahme der Frau am produktiven Leben des Kapitals
verschafft ihr die Gelegenheit, sich doppelt nützlich zu machen,
was sich in ihrer Physis ebenso niederschlägt wie in der Zerstö-
rung häuslicher Reproduktion. Dies als "Emanzipation" zu feiern,
bleibt das Privileg derer, deren Berufstätigkeit nicht durch die
Notwendigkeiten proletarischer Reproduktion erzwungen ist. Ein
Ende hat die Ausbeutung erst dann, wenn der Lohnarbeiter un-
brauchbar ist, und darüber befinden die, die ihn anwenden, nach
ihren Kriterien. Entsprechend den Konjunkturen des Geschäfts mag
es ihm da durchaus verwehrt sein, solange zu arbeiten, daß der
nach dem Preis der Arbeit errechnete Lohn seinen Unterhalt si-
chert. Wenn K u r z a r b e i t fällig ist, kann er den Schaden
mit einem Taschenrechner von Hertie ausrechnen - soviel Wohlstand
steht ihm zu - und mit dem seiner ganz arbeitslosen Kollegen ver-
gleichen. Wenn ihn das Lebensrisiko, das Schöne an der freien
Marktwirtschaft, in Form von Krankheit, Unfall oder Invalidität
ereilt, so mag er sich einbilden, das Opfer einer unglücklichen
Laune der Natur zu sein - die Versicherung, die er während seines
Arbeitslebens mit Beiträgen für den Ernstfall bezahlen mußte, be-
lehrt ihn eines Besseren. Sie rechnet mit den individuellen
"Schicksalsschlägen" als allgemeinen Notwendigkeiten, für die
vorgesorgt sein will.
So oder so erfahren sie es alle, daß es A u s b e u t u n g
nach wie vor gibt, und heute in der bestorganisierten Weise.
Nicht einmal das ist wahr an den Geschichten vom kleinen Mann,
daß er am Wohlstand zumindest insofern beteiligt wäre, als er
v o n seiner Arbeit l e b e n kann - e r l e b t f ü r
s i e. Schon die Abzüge auf seinem Lohnstreifen, die er in Ge-
stalt von milliardenschweren Rüstungsprogrammen, wohlgekleideten
Politikern, gewaltigen Versicherungsgebäuden und der dazugehöri-
gen Werbung und erst dann vielleicht als Rente genießen kann,
hindern ihn daran, "über seine Verhältnisse" zu leben. Und soweit
es dem Arbeitsmann ernst damit ist, im Berufsleben "etwas zu
bringen", damit er genügend Lohn heimbringt, wird er sich auch
seinen Verhältnissen entsprechend einzurichten haben: "exzessive
Genüsse", oder einfacher: eine "ungesunde Lebensweise" ist da
schnell ein Hindernis für die Tauglichkeit am Arbeitsplatz, denn
je mehr die Arbeit seine Gesundheit angreift, desto gewissenhaf-
ter muß er im Bereich seiner freien Entscheidung auf ihre
"Erhaltung" achten. Und wenn er dabei oder gleich am Arbeitsplatz
"Fehler" macht, steht der Einsicht eigentlich nichts mehr im
Wege, daß einem u n b r a u c h b a r e n Arbeitsmann die
"gewöhnliche" Armut, in der er sich nur e i n z u t e i l e n
braucht, nicht zusteht. Die Umkehrung der kapitalistischen Ideo-
logie, daß man in der bürgerlichen Welt "immerhin" von seiner
Hände Arbeit leben könne, wird für den Lohnarbeiter fast eine
Wahrheit: ohne Arbeit ist e r auf jeden Fall aufgeschmissen;
und weil das gerecht ist, fallen auch die Gründe, die an ihm das
Urteil der Brauchbarkeit zu vollstrecken gebieten, nicht sonder-
lich ins Gewicht. Die einen werden durch ihren Verschleiß, also
durch die Arbeit selbst unbrauchbar; die zweiten, weil sie den
Verschleiß nicht ordentlich organisieren, also "über ihre Ver-
hältnisse l e b e n"; die dritten werden einfach Opfer der Kal-
kulation mit den Lohnkosten und arbeitslos. Deshalb besteht eben
in der modernen Bundesrepublik kein Mangel an Elend - es ist auch
in den Formen üblich, wie es sich die Widerleger der Marxschen
"Verelendungstheorie" vorstellen, wenn sie das Modell Deutschland
gegen den "Manchester-Kapitalismus" hochhalten! Wo die Fähigkeit
und Bereitschaft einer Klasse, durch ihre Arbeit fremdes Eigentum
zu vermehren, zur B e d i n g u n g ihres Lebensunterhalts
wird, da ist die Verelendung von unbrauchbaren und unbrauchbar
gemachten Leuten keineswegs "systemwidrig", sondern die Regel.
Als Folge vollzogener Ausbeutung und als ständige Begleiterschei-
nung des Arbeitsmarktes gehört ein stattliches Lumpenproletariat
genauso zur "Wohlstandsgesellschaft" wie die staatlich lizenzier-
ten Bordelle zur Familie.
Da inzwischen auch Linke dahingehend übereingekommen sind, daß
eine Kritik der A u s b e u t u n g für das moderne Proletariat
nichts mehr sei, und dem Sozialismus wie der Arbeiterklasse mit
einer zutiefst humanistisch gedeuteten "Theorie der Entfremdung"
viel besser gedient wäre, soll einer Wiederholung dessen, worin
Ausbeutung unserer und Marx' unmaßgeblicher Meinung nach besteht,
nicht aus dem Wege gegangen werden: es gibt eine Klasse, die -
w e i l s i e k e i n e M i t t e l h a t - ihr Leben lang
nichts anderes treibt als M i t t e l z u s e i n für die
Hervorbringung von Reichtum in der Form von Kapital, dem sie sich
entschieden zur Verfügung stellen kann, allerdings mit 100%iger
Garantie auf keinen Erfolg für sich. Die bürgerlichen Apologeten
sind - im Unterschied zu denen, die den Materialismus zugunsten
von so Idiotien wie "Selbstbestimmung", "Selbstverwirklichung"
etc. ad acta legen - insofern ehrlicher, als sie die kapitalisti-
sche Realität der Ausbeutung zumindest in ihren Wirkungen nicht
leugnen, sondern ganz offen als "Preis des Fortschritts" ausgeben
und damit alles über den Fortschritt sagen, den das Kapital mit-
samt seiner demokratischen Volkssouveränität hervorbringt. Sie
sind eben f ü r diesen Fortschritt und seine Opfer, weswegen
ihnen auch die Einwände der traditionellen, aber nicht minder
falschen Kritik an der Ausbeutung äußerst gelegen kommen, um ein
Gedankenexperiment anzustellen. Die falsche Kritik ist die der
"ungerechten Verteilung" des Reichtums, und sie wird gekontert
mit der Rechnung von den 8.50 DM, die jeder "Arbeitnehmer" im
Jahr erhalten würde wenn die Millionäre ihren Besitz gleichmäßig
unters Volk streuten. So unbestreitbar diese Tatsache im Irrealis
ist, so schön zeigt sie auch, daß der Anspruch auf "gerechte Ver-
teilung" des Reichtums den Witz an der Ausbeutung glatt übergeht:
Im Kapitalismus ist das "Problem" der Verteilung gelöst, noch ehe
es etwas zum Verteilen gibt. In den Fabriken wird in der F o r m
der Arbeit selbst, unter Ausnützung des Bemühens der Arbeiter
über den Anteil der Klassen am Reichtum e n t s c h i e d e n.
Dabei mit einiger Empörung festzustellen, daß der Anteil der ar-
beitenden Klasse einigermaßen knapp bemessen ist, aber nicht zu
bemerken, daß dies kein Ungeschick irgendeiner verteilenden In-
stanz ist (interessanterweise denken hier alle an ein und das-
selbe: den Klassenstaat!), sondern einzig die Wirkung der Ver-
hältnisse, in denen das gute Volk nur dazu da ist,
R e i c h t u m g e t r e n n t v o n s i c h, a l s
f r e m d e s E i g e n t u m z u p r o d u z i e r e n, muß
schon als ein intellektuelles Kunststück angesehen werden. Zumal
seit über hundert Jahren ein gar nicht widerlegtes Buch auf dem
Markt ist, in dem der Satz steht:
"Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrach-
tet, oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur
Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Ka-
pitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf
der anderen den Lohnarbeiter."
Für diesen Autor war es keine Frage, daß es kein Glück, sondern
ein Pech ist, produktiver Lohnarbeiter des Kapitals zu sein. Er
würde auch in den Fabriken und Kaufhäusern der Bundesrepublik
keinen Grund finden, seine Auffassung zu revidieren - müßte sich
aber von jedem dahergelaufenen Soziologen fragen lassen, ob es
denn den Lohnarbeitern von heute "wirklich" so schlecht ginge.
Stellvertretend für ihn soll in aller Kürze dargelegt werden,
weshalb aus A r m u t k e i n R e i c h t u m wird - auch
wenn sie in Gestalt eines VW-Golf, eines 14-tägigen Urlaubs im
Lande der Zitronen und eines farbigen Fernsehers auftritt. Es
geht also schon wieder um die leidige Frage, wie schlecht es den
"sozial Schwachen" denn nun wirklich geht - oder, um es bundesre-
publikanisch auszudrücken, womit wir wieder bei gewissen Beson-
derheiten der hiesigen Szene angelangt wären - um die
2. "Lebensqualität" '80
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Die Leugnung der Armut steht in der Bundesrepublik immer auf der
Tagesordnung. Dem Urteil, daß mit der Höhe des Lohnes und der Ar-
beit, mit der er verdient sein muß, alles über die großartigen
Genüsse entschieden ist, die sich ein Arbeitsmann antut, will
sich so einfach keiner anbequemen. Gegen die offenkundige Tatsa-
che, daß Notwendigkeiten den Lohn auffressen, kaum daß er ver-
dient ist, gibt es nicht nur den volkswirtschaftlichen Einwand,
daß diese Notwendigkeiten viel zu umfangreich für den Faktor
"Lohnkosten" ausfallen, zumal diese Ideologie der Armut nur das
Wort redet, sie aber nicht bestreitet. Im Gerede von der
"Lebensqualität" hat die bundesdeutsche Öffentlichkeit sich unter
Anleitung der SPD dazu entschlossen, einerseits die berühmten
"Reformen, die nichts kosten" - viel Nachbarschaft, Kommunika-
tion, ein neues Namensrecht für Verheiratete -, andererseits die
durch die Fortschritte des Kapitalismus auch noch bestrittenen
elementaren Lebensbedingungen - sauerstoffhaltige Luft, trinkba-
res Wasser - zu den wichtigsten Bedürfnissen des modernen Men-
schen zu erklären. Der entsprechende Christen-Slogan vom
"sozialen Wohlbefinden" hält daran den Hauptwitz fest, daß diese
höchsten Güter auf keinen Fall mit materiellem Wohlstand zu ver-
wechseln sind. Unterstellt ist dabei allemal, daß der
"Lebensstandard" kein Problem mehr darstellt. Eine Ansicht, die
sich nach wie vor am liebsten im Bild des "Freßkorbs" (des Durch-
schnittsdeutschen) anschaulich macht, der durch die sinnig ge-
wählte Größe des Behältnisses ganz von selbst überquillt. Immer
fällt der kleine VW oder die Salami fast über den Rand.
Es gibt also das dauerhafte Bestreben, darauf hinzuweisen, was
sich ein Deutscher heute l e i s t e n k a n n - und dabei
spielt es überhaupt keine Rolle, ob ein Politiker sich damit brü-
stet, was er den Leuten alles beschert hat, ob ein Gewerkschafter
die Daseinsberechtigung seines Vereins unterstreichen will, oder
ob ein deutscher Arbeiter höchstpersönlich damit angibt, welch
prächtiges Leben er, natürlich aufgrund seines "Verdienstes",
führt. Die Lüge bleibt immer dieselbe, so verschiedene Absichten
mit ihr verfolgt werden: die R e p r o d u k t i o n s n o t-
w e n d i g k e i t e n gelangen als G e n ü s s e zur Dar-
stellung. Die Unverschämtheit des Gedankens ist ebenfalls nicht
zu übersehen: das alles kann sich einer zu Gemüte führen, der und
"obwohl" er A r b e i t e r ist, von dem man doch meinen
sollte, es ginge ihm schlecht...
Dabei spielt die Realität eines Arbeiterbudgets und seiner Hand-
habung, wie es sich für eine reaktionäre Ideologie gehört, keine
allzugroße Rolle. Die Aufzählung der Gegenstände, die heutzutage
in den Konsum eines gewöhnlichen Arbeiters eingehen, reicht völ-
lig aus, um sich und anderen einzureden, daß es mit der Beschrän-
kung der proletarischen Existenz gar nichts mehr auf sich habe.
Nicht einmal der sattsam bekannte Sachverhalt, daß das Geld, mit
dem man sich alles kaufen kann, eingeteilt sein will, was von der
M e n g e herkommt, die man hat, macht sich da störend bemerk-
bar. Jede Lebensnotwendigkeit eines Menschen von heute stellt
sich als Beleg für die F r e i h e i t d e r
E n t s c h e i d u n g, des ungezwungenen Zugangs zu allen Ge-
genständen des Bedürfnisses dar, die wirklichen Reichtum aus-
macht. Das Auto eines Lohnarbeiters ist aber noch lange kein Zei-
chen des Überflusses, weil er es b r a u c h t, wenn sein Ar-
beitsplatz nicht im Parterre des Nachbarhauses liegt. Wenn er
darauf "verzichtet", so geht ein Teil seines ersparten Geldes für
die preiswerten öffentlichen Verkehrsmittel dahin, und den Rest
kann er in den Stunden genießen, die er zusätzlich zum mindestens
8-stündigen Arbeitstag unterwegs ist. Eine
E n t s c h e i d u n g hat er mit der Anschaffung des Gefährts
schon getroffen, aber eine für das kleinere Ü b e l. Dasselbe
gilt für seine Wohnung und was er in sie hineinstellt: der Ent-
schluß zu der einen Bequemlichkeit ist der zum Verzicht auf eine
andere - weswegen Arbeiter auch s p a r e n und
S c h u l d e n m a c h e n, was sie zu den Adressaten der Wer-
bung werden läßt, mit der sich die Geschäftswelt nicht um die
Seele, sondern um die beschränkte Zahlungsfähigkeit des Volkes
streitet. Die Fachleute dieses humorvollen Gewerbes wissen Be-
scheid über den mäßigen Grad der "Kaufkraft", die aus den gewöhn-
lichen Vergnügungen einen "Luxus" macht: diese Vokabel bezeichnet
nämlich sehr exakt die Genüsse, die sich einer nur leisten kann,
wenn er an einer anderen Stelle Abstriche macht; in dieser Ver-
wendung ist sie so populär geworden, daß es sogar die Redensart
vom "unnötigen Luxus" gibt, wenn einer einmal wirklich einen Fall
von Reichtum entdeckt. Daß letzterer mit
N o t w e n d i g k e i t nicht zusammengeht, ist also durchaus
bekannt - weswegen ein Arbeiter außer über eine Lohntüte auch
noch über die F r e i h e i t verfügt; der demokratische Staat
schenkt sie ihm als einen Kanon von Regeln, das Eigentum betref-
fend, den Reichtum also, von dem man ausgeschlossen ist. Ver-
ständlich, daß Millionen von Ladendiebstählen heutzutage lieber
zum Beweis psychologischer Theorien hergenommen werden als für
einen Schluß auf die Armut der Massen, und die Annahmestellen der
staatlichen Lotterie beweisen eindeutig, daß die Leute gar keinen
Gehirn brauchen: sie leben ja auch ohne einen Sechser!
Die Logik, mit der die "Lebensqualität" d e r Deutschen be-
schworen wird, ist durch die Praktiken, die sich ein Arbeiter zu-
legt, wenn er mit 1500,- DM Einkommen seine Familie über Wasser
hält, kaum zu erschüttern. Wer sich des Themas annimmt, tut dies
ja wie gesagt nicht aus Unkenntnis der Reproduktionsgewohnheiten.
Er betrachtet den Anorak der Kinder, die Handtasche der Frau und
die Waschmaschine als I n s i g n i e n d e s g u t e n
L e b e n s, die man sich getrost auch von der proletarischen
Existenz wegdenken kann, wie das 19. Jahrhundert beweist. Wer
sich zum Richter darüber aufwirft, was alles "überflüssig" ist
für die "Existenzerhaltung", wer bei "Armut" sogleich an "Not"
denkt und völlig selbstverständlich den Anteil der lohnarbeiten-
den Klasse am gesellschaftlichen Reichtum problematisiert, der
verrät nur, wie gründlich er sich die kapitalistischen Verhält-
nisse zu Herzen genommen hat. Daß die Produktion nicht die Kon-
sumtion zum Zweck hat, sondern im Gegenteil auf ihrer Beschrän-
kung beruht, ist ihm so geläufig, daß ihm die im Kapitalismus
f u n k t i o n a l gemachte Konsumtion der Arbeiter
a u f f ä l l t - und zwar als großartiges Zugeständnis an die
Menschheit. Selbst noch dann, wenn Politiker in ihren Phrasen da-
für zu sorgen versprechen, daß ihren schaffenden Bürgern ein
"Lebensstandard" zuteil wird, geht aus der gönnerhaften Attitüde,
die das B e d ü r f n i s des Volkes als "berechtigt" aner-
kennt, die Frechheit hervor, die dann auch stets auf dem Fuße
folgt. Einen P r e i s hat es schon, das gute Leben: Leistung
muß sein, und bisweilen gilt es jetzt den Gürtel enger zu schnal-
len, damit man ihn später wieder aufmachen kann, Diese Übertra-
gung des S p a r e n s, des V e r z i c h t s, der dem Genuß
dient (was schlechterdings nicht geht), auf den Lebensweg einer
ganzen Klasse ist bei uns gute Politikersitte, und weil der Preis
für jedes noch so banale Moment Bedürfnisbefriedigung tatsächlich
nicht zu niedrig ist, haben findige Kritiker des Materialismus im
Volke nicht nur eine K o n s u m g e s e l l s c h a f t er-
späht. Es soll auch einen Konsum t e r r o r geben, der sich
überall dort einstellt, wo einer charakteristischerweise ist hier
immer nur ein Prolet gemeint den Reichtum, den es gibt, auch noch
benützen will: dann hat e r nämlich ein "falsches Bedürfnis".
Das Maß, in dem ein Lohnarbeiter an Gegenstände seines Bedürfnis-
ses herankommt, ist sein Lohn. Daß dieser von Ideologen - auch
innerhalb der Gewerkschaften und der Linken - als
K a u f k r a f t gehandelt wird, ist ein Hohn. Die Funktionali-
sierung es Arbeiterdaseins auch außerhalb der Fabrik für die
Zwecke "der Wirtschaft" kann nämlich kürzer nicht ausgesprochen
und für gut befunden werden. Daß die Konsumtion einer ganzen und
recht zahlreichen gesellschaftlichen Klasse auch ideell von kei-
nem Schwein am von ihr geschaffenen und ständig gewaltigeren
Reichtum gemessen wird, garantiert, daß auch keiner die
A r m u t entdeckt - es sei denn in Gestalt des Elends, das es
als Konsequenz der Lohnarbeit "auch noch" gibt. Sooft dies ge-
schieht, dient die Entdeckung jenem tristen Kontrastprogramm, das
den Italienurlaub - von dem man inzwischen sogar schon herausbe-
kommen hat, daß er nicht funktional, weil anstrengend ist - als
Überwindung der Klassengesellschaft ausgibt. Der Arbeitsmann
"kann sich etwas leisten", heißt die Parole - wer wollte da noch
nach dem Preis oder gar nach der Qualität des "Wohlstands" fra-
gen!
Das heißt freilich nicht, daß die Qualität proletarischer Genüsse
nicht bekannt wäre. Sie wird sogar in den beliebten Zusammenset-
zungen mit dem Wort "Massen-" für ziemlich schlecht befunden. Der
Massenkonsum, der Massentourismus und die Massenmedien, also die
M a s s e n k u l t u r insgesamt ist primitiv - ein Urteil, das
wir teilen, aber nicht deswegen, weil uns die Sphäre des elitären
Blödsinns behagen würde. Im Ausschluß von den "höheren Berei-
chen", wie sie Reiche und Intellektuelle in trauter Gemeinsamkeit
pflegen, haben die Proleten wahrlich nichts verpaßt. Die Frei-
zeitgestaltung der arbeitenden Klasse ist nicht nur in ihrem Aus-
maß, sondern auch in ihrer Beschaffenheit I n d e x d e r
A r m u t, zu der sie die Lohnarbeit herrichtet. Die Jahre in
der Fabrik, die einer nach erfolgreichem Ausschluß aus den bür-
gerlichen Bildungsinstituten verbracht hat, schlagen sich im Ver-
stand des Proleten genauso nieder wie in seiner Physis. Die Ge-
nußfähigkeit, die von einem funktionierenden Intellekt eben ab-
hängt, ist erheblich beeinträchtigt bei Leuten, denen die Veraus-
gabung von "Hirn, Muskel und Nerv" abverlangt wird in einer
Weise, die außerhalb der Arbeit keine Betätigung mehr zuläßt, die
Aufmerksamkeit, Konzentration und Intelligenz erfordert. Neben
"vernünftigen" Proleten, die gesund leben, Trimm-dich betreiben,
fernsehen und am Wochenende ins Grüne fahren, gibt es deswegen
auch eine gewaltige Anzahl von Leuten, die es mit der
K o m p e n s a t i o n als Freizeitauftrag nicht so ernst neh-
men und die ihrem ruinierten und verrohten Gemüt entsprechenden
Genüsse suchen. Der Alkohol hat in dem Übermaß, in dem ihn das
deutsche Proletariat genießt, nicht nur die Wirkung, die Ausbeu-
tung erträglich zu machen. Er beschleunigt den körperlichen und
geistigen Ruin und vollendet das Werk des Kapitals am Arbeits-
platz. Die Bundesliga hat in den Fans der Vereine ihre Geschäfts-
grundlage, die unabhängig vom Vergnügen, das ihnen "ihre" Mann-
schaft durch ihr Spiel bietet, zu ihr halten - was so aussieht,
daß jedes Wochenende Tausende ihr Geld und ihre Zeit opfern, um
am Samstag pünktlich und schon leicht betrunken an Ort und Stelle
zu sein, so daß die Polizei insbesondere beim Zusammenstoß gegne-
rischer Parteien einiges an Gewalttaten zu verfolgen hat; Fen-
sterscheiben und dergleichen gehen ohnehin zu Bruch - und das al-
les, weil so das Bedürfnis von Leuten aussieht, die - ganz zum
Material der Ausbeutung erniedrigt - sich einmal g a n z
f r e i einen Zweck setzen, dem sie sich bedingungslos ver-
schreiben. Dito bei der Jugend, über deren Genußfähigkeit und
Perspektive die Unterhaltungsbranche alles herausbekommen hat.
Daß Hunderttausende ihr Bewußtsein (obwohl es ein falsches ist!)
als störend empfinden und zu Drogen aller Art greifen, mag den
Moralaposteln des 20. Jahrhunderts als Verfall des Anstands gel-
ten. Doch merken sie auch, daß sie mit ihrem überreichlichen An-
gebot an "Sinn" nur eine Minderheit zur Nachfrage überreden und
auf die Kirchentage bringen. Durch ihre von heuchlerischer Sorge
um die Jugend getragene Deutung der Realität wird aus dem kapita-
listischen Zirkus auch keine Attraktion. Da entschließt sich man-
cher Jugendlicher doch lieber dazu, mit den psychologischen Re-
zepten des "Sich-Selbst-Änderns" in einer Weise Ernst zu machen,
die ihm nicht seine Brauchbarkeit, sondern seinen Ruin sichert.
An der Rolle, die Sex und Verbrechen in der Unterhaltung der ar-
men Leute spielen, läßt sich ganz nebenbei ermessen, was im Ver-
hältnis der Geschlechter los ist. Die häuslichen Verhältnisse,
allesamt Fragen des streng marktwirtschaftlich ermittelten Ver-
hältnisses von Leistung und Lohn, sind Quellen dauernder Strei-
tigkeiten, die so manchen Arbeiter mehr belasten als ihm das Ar-
beitsleben erträglich machen. Daß sich da der Wunsch breitmacht,
die Kinder sollten es einmal besser haben, ist verständlich. Er
geht bloß nicht in Erfüllung, ebensowenig wie der nach einem ge-
ruhsamen Lebensabend, da die Mittel in jeder Hinsicht zu knapp
sind - außer für den Staat, der sich zur Betreuung der störenden
Formen des Elends Sozialarbeiter leistet. Der deutsche Normal-
mensch allerdings betreut sich selber. Mit dem Handwerkszeug der
bürgerlichen Moral beurteilt er sich und seine Stellung in der
Welt. Dabei entwickelt er das in s e i n e n Zeitungen genüß-
lich ausgebreitete Arsenal von Stellungnahmen zu dem, was mit ihm
alles angestellt wird. Dem N e i d auf die extravaganten
Genüsse der Reichen stellt er lässig den Stolz auf die eigene
Rechtschaffenheit zur Seite; und die Klagen über die eigene Er-
folglosigkeit ergänzt er ohne weiteres durch ein menschliches In-
teresse an den Leiden der Großen dieser Welt. Wenn er sich den
Maßstab seines Geldbeutels einfallen läßt, dann nicht, um Kommu-
nist zu werden, sondern um kleinliche Gehässigkeiten gegen
seinesgleichen anzuzetteln. Keiner gibt ehrliche Auskunft über
seine Lohntüte. Und arm zu sein, will sich schon gleich niemand
nachsagen lassen.
3. Die Rolle der schwarz-rot-goldenen Gewerkschaft - oder:
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die arbeitende Klasse in der Eigenschaft als Basis
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Deutsche Unternehmer kalkulieren nicht anders als Kapitalisten
sonstwo auf der Welt. Sie tätigen ihre Geschäfte, indem sie sich
"marktgerecht" benehmen und alle Probleme mit Ein- und Verkauf,
Preis und Kredit durch die wirtschaftliche Handhabung von Lohn
und Leistung in der Produktion lösen.
Deutsche Politiker verfolgen in ihrem demokratisch organisierten
Konkurrenzkampf um die Macht im Staate keine anderen Ziele als
die Figuren, die sich anderswo zur Führung des Volkes berufen
fühlen. Denen, die "die Wirtschaft" sind, gewähren sie die not-
wendige staatliche Unterstützung - im internationalen Geschäft,
in der Regelung des Geld- und Kapitalmarktes sowie in der kon-
junkturgemäßen Ausgestaltung der Gebote für die arbeitenden Bür-
ger. Was sie f ü r die letzteren tun, geht aus jeder sozial-
staatlichen Tat hervor: sie regeln und kontrollieren das Zurecht-
kommen mit dem Dienst an der Wirtschaft, unterstützen die Lohnab-
hängigen bei dem lebenslangen Versuch, brauchbar zu bleiben und
mit den Konsequenzen ihrer Arbeit fertigzuwerden.
Der ökonomische Erfolg deutscher Unternehmen und der Zuspruch,
den deutsche Politiker - die sich allesamt der Wahrung des sozia-
len Friedens verschrieben haben und sich ihrer rühmen - beim Volk
genießen, ergeben zusammen einen recht eindeutigen Hinweis auf
die Leistung der Gewerkschaft in diesem Staat; zumindest stellt
das "Betriebsklima" in den Fabriken ebenso wie das "politische
Klima" im Lande eines klar, nämlich das, was die Gewerkschaft
u n t e r l ä ß t. Einen Kampf zur Abwehr der Erpressungen, die
das moderne Lohnsystem dem Kapital in den Werkhallen anzuwenden
gestattet, führt der DGB ebensowenig wie einen gegen die Perfek-
tionierung des Sozialstaats, durch die noch jede Regierung Fort-
schritte in der Hinsicht erzielt hat, daß aus den notwendigen
Formen der Kompensation der Armut ein bequem handhabbares Instru-
ment der Wirtschaftspolitik geworden ist. Der G r u n d, der
einst die Bildung von Arbeiterkoalitionen bewirkte, hat offenbar
mit dem Zweck der heutigen Gewerkschaften nichts mehr zu tun.
Hatten sich früher Arbeiter in Koalitionen zusammengeschlossen,
um der Ausnützung ihrer Konkurrenz durch die Kapitalisten, der
ständigen Verschlechterung des Verhältnisses von Lohn und Lei-
stung W i d e r s t a n d entgegenzusetzen und die Ruinierung
der Arbeiterklasse zu verhindern, so v e r g l e i c h t sich
der DGB als "gesellschaftliche Kraft" mit seinen Gegnern in bezug
auf den "gesellschaftlichen Nutzen" und stellt fest, daß in die-
ser Hinsicht die Gewerkschaft allemal mehr geleistet habe:
"Die Betriebspolitik der Unternehmer hat Hunderttausende von Ar-
beitslosen geschaffen. Durch Leistungsdruck und Arbeitshetze wur-
den unzählige Arbeitnehmer zu Frühinvaliden. Dadurch ist großer
Schaden entstanden an Einkommen und Vermögen, an Leib und Seele
der Betroffenen.
Dagegen hat die Tarifpolitik der Gewerkschaft höhere Löhne und
kürzere Arbeitszeit geschaffen. Das bringt den Arbeitnehmern Be-
schäftigung, den Arbeitgebern Absatz, dem Staat Steuern. Dadurch
ist umfangreicher gesellschaftlicher Nutzen gestiftet worden."
Der "Stolz auf das Erreichte" (eine der wichtigsten Phrasen in
den Publikationen des DGB!) führt den Programmgestaltern der Ge-
werkschaftspolitik auch da die Feder, wenn sie als Kontrast zu
den positiven Leistungen der Arbeiterorganisation die Untaten der
Unternehmer aufzählen. Es ist üblich, moralisch empörte Schilde-
rungen der Ausbeutung und ihrer Wirkungen zu verbreiten, ohne im
Traum daran zu denken, daß ungehinderte Ausbeutung Zeugnis ablegt
von V e r s ä u m n i s s e n der Gewerkschaft; vielmehr dient
die Woche für Woche in den Gewerkschaftszeitungen und einschlägi-
gen Interviews gelieferte drastische Schilderung des Umgangs mit
den Proleten stets dem Nachweis, daß mit der Gewerkschaft eine
A l t e r n a t i v e in der Bewältigung der "gesellschaftlichen
Probleme" vorhanden sei, deren Existenzberechtigung gerade in den
brutalen Formen des modernen Produktionsprozesses belegt ist.
Wenn der DGB die Bedeutung der gewerkschaftlichen Organisierung
für den A r b e i t e r herausstreichen will, so fällt seinen
Wortführern sogleich seine positive Leistung für S t a a t
u n d W i r t s c h a f t ein - und daß es sehr auf die Weise
der "Beschäftigung" ankommt, wenn die Frage nach "Fluch oder Se-
gen" beantwortet werden soll, wird für ziemlich unwesentlich er-
achtet. So stehen in den Verlautbarungen der bundesdeutschen Ein-
heitsgewerkschaft das Lob der eigenen Leistung u n d sein De-
menti immer einträchtig beieinander, weil der Schaden der
"Betroffenen" für die N o t w e n d i g k e i t der Gewerk-
schaft herhalten muß, und weil der N u t z e n der gewerk-
schaftlichen Aktivität als einer für Gott und die Welt erstrebt
wird, so daß die Arbeiter eben a u c h, und zwar in ihrer Vor-
zugsstellung als "Beschäftigte" vorkommen. Wenn ihnen die ganz
speziellen Vorteile der Gewerkschaftspolitik für die arbeitende
Klasse dargelegt werden sollen, dann fallen den Repräsentanten
des DGB auch besondere Argumente ein. Sie bemühen 100 Jahre Klas-
senkampf und erzählen jedem, wie schlecht es ihm heute (noch) er-
ginge, hätte es nie eine Gewerkschaftsbewegung gegeben. Mit die-
ser Legitimation des DGB u n a b h ä n g i g davon, was er für
die Arbeiter im Modell Deutschland taugt, ist durchaus ein Urteil
über den aktuellen Zwecke dieses Vereins gefällt. Die
I d e a l i s i e r u n g der heutigen Gewerkschaft mittels der
historischen Leistungen ihrer Vorgänger sagt ja nichts anderes,
als daß die Zeit der großen Kämpfe und Errungenschaften vorbei
ist und jetzt neue und ganz andere Aufgaben anstehen. Das insbe-
sondere auch von linken Intellektuellen geliebte historische
Strickmuster, die Feier vergangener Schlachten, behauptet mit den
Siegen der Bewegung von gestern, daß ihre Erben vom DGB die Un-
terstützung der Proleten verdienen, auch und gerade wenn diese
Erben jedem materiellen Interesse von Arbeitern im Namen höherer
Ziele abschlägigen Bescheid erteilen.
Wenn die westdeutsche Gewerkschaft bei allem, was "in Wirtschaft
und Gesellschaft" so passiert, ihre Z u s t ä n d i g k e i t
daraus ableitet, daß und inwiefern die "Arbeitnehmer" die
B e t r o f f e n e n sind, so ist dies nie eine Begründung da-
für, Abwehrmaßnahmen der "Betroffenen" in die Wege zu leiten.
"Begründet" wird vielmehr ihre O h n m a c h t bzw. die ihrer
Interessenvertretung, die im modernen Sozialstaat über zu wenige
Befugnisse verfüge, eine günstige Alternative für die von ihr
Vertretenen durchsetzen zu können. Dieses Argumentationsmuster,
das in keiner Publikation des DGB - vom theoretischen Organ der
Funktionäre über die Schulungsmaterialien bis zum Flugblatt in
der Tarifrunde - fehlt, gibt erschöpfend Auskunft über das, was
sich dieser Verein vorgenommen hat:
"Jedes Wirtschaften ist seiner Natur nach gesellschaftlich. Es
darf nicht allein vom Gewinnstreben bestimmt sein. Von wirt-
schaftlichen Entscheidungen werden insbesondere die Arbeitnehmer
betroffen, Deshalb (!) müssen die Arbeitnehmer und ihre Gewerk-
schaften gleichberechtigt an der Gestaltung der Wirtschaft betei-
ligt werden. Die wirtschaftliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer
ist eine der Grundlagen einer freiheitlichen und sozialen Gesell-
schaftsordnung. Sie entspricht dem Wesen des demokratischen und
sozialen Rechtsstaates."
Auch Gewerkschaftsstrategen beherrschen jene Albernheit von Lin-
ken, den "gesellschaftlichen" Charakter der Ökonomie für eine un-
geheuer brauchbare Sache zu halten, der dann das "Gewinnstreben"
zumindest teilweise nicht gerecht wird (was Revisionisten gern
für ihren Gegensatz von gesellschaftlicher Produktion und priva-
ter Aneignung halten); zur "dem Gesellschaftlichen" entsprechen-
den Korrektur fühlen sie sich berufen, und dies umso mehr, als
schon die lateinische Übersetzung "sozial" zum festen Attribut
des modernen Klassenstaates geworden ist. Daß der Staat es sich
zum Anliegen macht, ganz "sozial" auf die Brauchbarkeit der
"sozial Schwachen" zu achten, und sogar die Notwendigkeit der Ge-
werkschaften anerkennt, gefällt den Programmgestaltern des DGB so
sehr, daß sie den sozialen Rechtsstaat f e i e r n. Keiner ver-
tritt so fest wie sie den Standpunkt, daß gerade die
"Betroffenen" und Armen vor allem Recht und Freiheit benötigen;
ihnen stehen gerade deswegen, weil es ihnen an handfesten Gütern
fehlt, die höchsten Werte der Demokratie in bevorzugter Weise zu.
Ihr T a d e l des Sozialstaats sieht entsprechend aus. Daß es
den Proleten in dieser "sozialen Gesellschaftsordnung" schlecht
geht, kann unmöglich an dem liegen, was Kapital und Staat mit ih-
nen anstellen; ein n e g a t i v e r G r u n d muß für einen
modernen Gewerkschafter her; einer, der besagt, daß immer noch
v e r h i n d e r t wird, daß das gute soziale Prinzip reali-
siert werden kann. In den "wirtschaftlichen" Entscheidungen haben
die Betreffenden das Sagen - und den Betroffenen fehlt es an Ein-
fluß. Die M a c h t der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften
ist zu gering bemessen im Verhältnis zu derjenigen, über die die
Repräsentanten des ungesellschaftlichen "bloßen Gewinnstrebens"
verfügen - womit die Notwendigkeit der M i t b e s t i m m u n g
abgeleitet wäre!
Die Logik der aus jedem Anlaß neu aufbereiteten Mär, die dem Ar-
beitsmann auferlegten Opfer hätten in der O h n m a c h t der
Gewerkschaft ihren Grund, verrät, was moderne Arbeitervertreter
aus der Geschichte für Lehren gezogen wissen wollen. Sie haben
mit einiger Genugtuung festgestellt, daß aus den. Kämpfen vergan-
gener Tage immerhin eines herausgekommen ist, nämlich die
p o l i t i s c h e E m a n z i p a t i o n der Arbeiter: ihre
Anerkennung als Staatsbürger, so daß sie in den Genuß manchen
Rechts gelangt sind; ein Arbeiter von heute darf eine Meinung ha-
ben, zur Wahlurne gehen, Verträge aller Art abschließen, darunter
auch seinen Arbeitsvertrag, ja er darf sogar ohne polizeiliche
Schwierigkeiten einer grundgesetzlich genehmigten Gewerkschaft
beitreten, um etwas für die "Wahrung und Förderung der Arbeits-
und Wirtschaftsbedingungen" zu tun, auf die es ihm ja so sehr an-
kommt. All diese Erfolge schätzen die mit der Vertretung von Ar-
beiterinteressen Betrauten so hoch, daß sie die mit den schönen
Rechten gebotenen V e r p f l i c h t u n g e n gar nicht mehr
a) solche auf die nützlichen Dienste für das Kapital verstanden
wissen wollen; sie haben ihren Frieden mit dem Gegensatz von Ar-
beit und Kapital gemacht, insofern dieser ein
ö k o n o m i s c h e r ist - sie möchten ein politisches Ge-
schäft aus ihm machen. Ausbeutung und Armut zählen für diese
Leute a) Demonstrationsmaterial für die Notwendigkeit verbesser-
ter politischer Mitwirkung - weshalb ihnen auch die
"Sozialpartnerschaft" ein ernstes Anliegen und der Vorwurf an
ihre Gegner, sie würden sich nicht wie Partner betragen, der här-
teste Angriff ist. Sie stellen sich zu allem, was in der Welt von
Kapital und Arbeit auf Kosten der letzteren vorfällt, als einer
Quelle von K o n f l i k t e n, in denen sie nicht die eine
Partei darstellen, sondern an deren bestmöglicher Lösungsweise
sie als einzige Kraft, die das Allgemeinwohl ernst nimmt, inter-
essiert sind. So besprechen sie den Klassengegensatz wie eben
"reife Politiker" als m e t h o d i s c h e s P r o b l e m,
für dessen Bewältigung sie das demokratische Modell der Mitbe-
stimmung durchsetzen wollen:
"Sicherlich kann man Konflikte auf verschiedene Weise austragen.
In einer freiheitlichen Ordnung kommen aber nur demokratische
Formen in Frage, die den Betroffenen die Chance geben, in den
wichtigsten Fragen, die ihre Lebenslage angehen, gleichrangig und
gleichberechtigt mitzubestimmen. Das Spannungsfeld zwischen Ar-
beitnehmern und Kapitaleignern wird damit nicht beseitigt. Im Ge-
genteil, es wird als Strukturprinzip unserer Ordnung anerkannt.
Allerdings ändern sich die Spielregeln für die Austragung von
Konflikten."
Den Fanatikern der p o l i t i s c h e n Emanzipation des Pro-
letariats ist zu Bewußtsein gekommen, daß die Demokratie den
Zweck verfolgt, den Klassengegensatz in seinen dem Wirtschafts-
wachstum abträglichen Verlaufsformen zu kontrollieren, ihn so zu
beschränken, daß die verheerenden Folgen der Lohnarbeit bei
denen, die sie verrichten müssen, nicht den Willen erzeugen, der
Wirtschaft ihren Dienst aufzukündigen. Diesen Zweck t e i l e n
die Macher der deutschen Einheitsgewerkschaft, die ihnen von den
Staatsgründern offeriert wurde, und zwar so enthusiastisch, daß
sie einerseits wie Revisionisten aller Couleur beklagen, daß die
Ideale der Demokratie an der Realität der Fabrik zuschanden wer-
den, andererseits daraus nicht ein Argument für den Klassenkampf
um mehr Demokratie werden lassen. Ihre Konsequenz lautet
schlicht, daß die Demokratie vor den Werktoren nicht haltmachen
dürfe - und dafür "kämpfen" sie. Denn die Realität hinter den
Werktoren gestattet ihnen die ersehnte Praxis der "Sozialpartner-
schaft" noch lange nicht - zu gering sind die R e c h t e der
Arbeitnehmer dafür bemessen! Dem gewerkschaftlich geschulten Auge
eröffnet sich beim Blick in die Fabrik nämlich nicht die Realität
des Arbeitslohnes und der mit ihm erzwungenen Leistungen; die
Welt der Arbeit zerfällt für ihn in eine N o t w e n d i g-
k e i t -
"Die Kapital- und Arbeitnehmerinteressen stehen im einzelnen ei-
nerseits in einem Ergänzungsverhältnis: Kapital und Arbeit sind
strukturnotwendig für die Erfüllung der Produktionsfunktion." -
und in einen U n g e r e c h t i g k e i t s s k a n d a l,
eine "ungleiche Verteilung der Rechte", der durch die
M i t b e s t i m m u n g abgeholfen werden muß. Diese Abhilfe
ist, wie es sich unter anständigen Demokraten gehört, natürlich
Sache des Staates, dem ja auch daran gelegen sein sollte, die
"sozial Schwachen" mit einer angemessenen Repräsentation zu ver-
sehen, wenn sie schon sonst nichts kriegen:
"Der Gesetzgeber, der die wirtschaftliche Mitbestimmung einführt,
greift daher nicht in Eigentümerrechte ein; er stärkt lediglich
die Stellung der Menschen, die auf unselbständige Arbeit angewie-
sen sind, und erspart es ihnen, sich aus wirtschaftlicher Schwä-
che in ein Unterwerfungsverhältnis begeben zu müssen."
Mit solchen ergötzenden Ideen füllen Haupt-, Zwischen- und Unter-
vorstände des DGB seit den Zeiten des "Wirtschaftwunders" ihre
programmatischen Schriften, die sie in regelmäßigen Abständen
erneuern und durch Belegmaterial über die aktuellen Fortschritte
der Ausbeutung ergänzen. Denn ein solches Gewerkschaftsprogrnmm
bedarf zur Demonstration seiner Dringlichkeit zumindest der
dauernden Empörung über das, was den Proleten angetan wird -
"weil und solange von einer echten Mitbestimmung noch nicht die
Rede sein kann". Wo die materiellen Interessen der Vertretenen
für die Mitwirkung der Vertreter im großen Geschäft - in der
Politik wie in den Aufsichtsräten - herhalten müssen, werden sie
eben das Material der o f f i z i e l l e n H e u c h e l e i:
wenn H.O. Vetter zum Europaparlament jettet, dann deswegen, weil
die Abgestuften der letzten Rationalisierungswelle, die
Entlassenen und die mit der neuen Bandgeschwindigkeit Bedachten
das für unerläßlich befinden: "Arbeitnehmer fordern das soziale
Europa!"
Überhaupt läßt sich der Lebenszweck des DGB für Leute, denen die
bisherigen Ausführungen zu "theoretisch" sind, weil sie das Prin-
zip einer politisierten Gewerkschaft am "Konzept der Mitbestim-
mung" darlegen, auch "einfacher" klarmachen. Der Erfolg der west-
deutschen Arbeiterorganisation gibt nämlich schlagend Auskunft
darüber, daß sich das Streben nach Mitsprache und politischer An-
erkennung, der Streit um tausend "Alternativen" im Staats- und
Wirtschaftsleben nur einem Interesse verdankt: dem festen Willen,
die Gewerkschaftspolitik von allem zu e m a n z i p i e r e n,
was einem Lohnabhängigen so Leben schwermacht. Das linke, auf
viel Tradition zurückgehende Anliegen, nicht "bloß ökonomische"
Kämpfe zu führen - das schon von ziemlicher Ignoranz zeugt: wel-
che ökonomischen Kämpfe in der Geschichte der Arbeiterbewegung
sind schon g e f ü h r t worden ohne den Konflikt mit dem
Staat! -, ist tatsächlich radikal in die Tat umgesetzt worden vom
DGB: statt die wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder zu
verfolgen, benutzt sie dieser Verein ausschließlich für seine po-
litischen Ambitionen, und darüber hat er sich seinen festen Platz
in der westdeutschen Klassengesellschaft erobert.
Noch nie war eine deutsche Gewerkschaft so mitglieder- und fi-
nanzstark wie heute. Waren Gewerkschaftsvertreter früher Leute,
die mit einigem rechnen mußten von seiten des Staates, so haben
sie heute seine Achtung sicher; sie gehören zu den angesehenen
Bürgern, zu den Figuren, die an keinem Feiertag fehlen dürfen.
Sie hocken in jedem kommunalen und nationalen Gremium, in jeder
Kammer und mancher Universität repräsentieren sie den Fortschritt
der Institution; in Recklinghausen machen sie auf Kultur, und in
Aufsichtsräten weisen sie auf die sozialen Härten hin, die die
Rationalisierungsmaßnahmen mit sich bringen, für die sie gerade
gestimmt haben. An einem der Wirtschaft gewidmeten Forschungsin-
stitut zählen Gewerkschaftsintellektuelle die volkswirtschaftli-
chen Daten nach, einschließlich der Arbeitslosen; die hauseigenen
Ökonomen, Soziologen und Politikwissenschaftler verfassen gemein-
sam mit Kollegen von der BDA eine Broschüre "Über die Verbände",
die an den Schulen verteilt wird, so daß die künftigen Proleten
erfahren, daß die Gewerkschaft ein "freier Zusammenschluß von In-
teressenten" ist und Vorsicht walten lassen muß, kein "Staat im
Staat zu werden. Und die besten Exemplare des DGB dürfen mit den
Mächtigen der Nation überall hinfahren, wo ein Geschäft zu machen
ist. Das unveräußerliche Recht der arbeitenden Bevölkerung auf
Mitwirkung am allen sie betreffenden Entscheidungen ist also al-
les andere als ein Traum, wenngleich ein gestandener DGB-ler sich
enorm diskriminiert vorkommen mag, weil die Unternehmerlobby viel
größeren Einfluß auf die fälligen Beschlüsse im Parlament und in
den Chef-Etagen hat. Dem allgemeinen Motto entsprechend: "Je pa-
ritätischer die Kommission, desto Rechts- und Sozialstaat" macht
sich ein in Fragen der Demokratie bewanderter Gewerkschafter, vom
Betriebsrat über den Ortsvorstand bis zum Mitglied des Hauptvor-
standes, eben keine allzugroßen Gedanken über das, was er da mit-
entscheidet - oder vielmehr nur e i n e n Gedanken: wie er für
die von ihm Vertretenen am glaubwürdigsten seine
G e w i s s e n s b i s s e demonstriert und die Lüge in die
Welt setzt, daß die F o l g e n seiner Mit-Entscheidung alle-
samt nur wegen s e i n e r b e s c h r ä n k t e n R e c h t e
so ausfallen, wie sie es tun.
Auf diesem Felde betätigt sich die ganze Phantasie der DGB-Elite,
wobei sogar antikapitalistische Sprüche ihren Platz haben - zu-
mindest wenn fortschrittliche Gewerkschaftsfunktionäre wie Hen-
sche, Steinkühler etc. am Universitäten für ihre Politik bei lin-
ken Studenten um Sympathie werben. Die Mitwirkung von Gewerk-
schaftern an den folgenreichen Beschlüssen in Sachen Wirtschafts-
politik, wo mit Inflation und Arbeitslosenzahlen gekonnt fürs
Wachstum k a l k u l i e r t wird, könnte immerhin auch einen
"Betroffenen" auf den Gedanken bringen, daß man die Wirtschafts-
politik dem Staat ganz überlassen sollte und, statt mitzuwirken,
ihre Durchsetzung v e r h i n d e r n könnte. Diesem Ansinnen,
die Stärke der Gewerkschaft einmal im Interesse der Lohnabhängi-
gen zu nützen und Entlassungen zu unterbinden, beugt der DGB mit
wirtschaftlichem Sachverstand vor, freilich nicht ohne das Bedau-
ern darüber zu äußern, daß die von ihm amgestrebte Verbindung von
Wachstum und "Recht auf Arbeit" erst noch zu schaffen sei. Mit
einer verbesserten Mitbestimmung natürlich, die dann auch das ge-
werkschaftliche Ideal der Rationalisierung, die "Humanisierung
der Arbeit" zur Blüte bringt. Solange es das noch nicht gibt,
gilt es der ständigen Leistungssteigerung in den Fabriken mit
D i s k u s s i o n e n über die Arbeitszeitverkürzung zu begeg-
nen und nicht von der Überzeugung abzurücken, daß die 35-Stunden-
woche m ö g l i c h ist. Somit weiß jeder, woran er ist: alles,
was Kapital und Staat den Proleten reinwürgen, ist "leider"
(noch) nicht zu verhindern gewesen, so daß man als anständiger
Interessenvertretungsveein das Recht hat, wenigstens sozialstaat-
liche Milde zu erwarten, was die Kompensation des in der Welt von
Lohn und Leistung vom Arbeiter verlangten Einsatzes angeht. Zeigt
sich der Staat hier, auf dem Gebiet von "gerechter Einkommensver-
teilung", den "sozial Schwachen" gegenüber nicht erkenntlich, so
muß ein IG Metall-Vorsitzender so reagieren:
"Es wäre richtig gewesen, wenn der Weihnachtsfreibetrag noch in
diesem Jahr spürbar angehoben worden wäre. Daß dies nicht gesche-
hen ist, nehmen wir mit großer Enttäuschung zur Kenntnis."
"Was wir erwarten ist, daß die Bundesregierung ohne Verzug ein
Steuerpaket vorlegt, das den Interessen und Bedürfnissen der Ar-
beitnehmer gerecht wird."
Das Karussell von Erwartung und Enttäuschung, das der DGB das
ganze Jahr über in Bewegung setzt, dient der Propaganda seiner
I d e a l e des Sozialstaats, durch die er sich bei aller Unter-
stützung des r e a l e n Staats und seiner Zwecke den Anschein
geschäftiger Sorge gibt, den Gewerkschafter umgekehrt bei manchen
Staatsmännern vermissen - insbesondere bei denen, die sich auf
die Kooperation mit der deutschen "Arbeitnehmer"vertretung nicht
so gut verstehen. Die gemeinschaftlichen sozialstaatlichen Heu-
cheleien verbinden den DGB nämlich mit den S o z i a l-
d e m o k r a t e n; und der auf beiden Seiten genau kalkulierte
Realismus bezüglich des Nutzens, den man voneinander hat - die
SPD erreichte mit Hilfe des DGB die Macht im Staat und will sie
weiterhin behalten; der DGB erhält von der SPD die Bedeutung, die
er haben will, darf seine Bedenken vortragen und seine
Anerkennung als "gesellschaftliche Kraft" genießen -, führt zu
den schönen Veranstaltungen am 1. Mai, wo Staatsmänner mit viel
Schwung ihre Leistungen als opfervollen Kampf an der Seite der
arbeitenden Menschen zur Darstellung bringen. Auch sonst wird
sich öfter mal getroffen und sich wechselseitig bescheinigt, wie
einig man nach wie vor sei. Der Arbeitsmann nimmt dann in seiner
Gewerkschaftszeitung zur Kenntnis, daß die Million Arbeitslose
von den Verwaltern seiner Ärgernisse so beurteilt wird:
"Im Mittelpunkt dieses Gesprächs standen Fragen der Beschäfti-
gungspolitik. Übereinstimmend wurde die Auffassung vertreten, daß
die Konjunktur zur Zeit keinen Anlaß zur Besorgnis gibt."
Der DGB- Vorsitzende erklärt dann abschließend:
"Es ist nichts Aufregendes, sondern etwas völlig Selbstverständ-
liches und Beruhigendes, wenn Sozialdemokraten und Gewerkschafter
zusammenkommen, uns verbinden viele Ziele."
Und wie es sich für weitblickende, großen Zielen verpflichtete
politische Figuren gehört, erörtern sie immer auch den rechten
Umgang mit ihren Kritikern; die von rechts in den C-Parteien ge-
fährden mit ihren Angriffen auf die Einheitsgewerkschaft den so-
zialen Frieden und überhaupt das Erreichte, die von links sind
Objekte der Observation, denn die festigen nicht, sondern stören
die gedeihliche Zusammenarbeit zwischen SPD und Gewerkschaft;
Herbert Wehner darf dafür eintreten,
"daß wir denen auf die Finger sehen, weil wir nicht wünschen oder
durch Unachtsamkeit dazu beitragen wollen, daß gewerkschaftliche
Kräfte nutzbar gemacht werden für antisozialdemokratische Poli-
tik."
Auch in dieser Hinsicht können sich westdeutsche Gewerkschaftler
dem Anliegen der Republik nicht verschließen. Linke Menschen sind
für sie akzeptabel, wenn sie für die Gewerkschaftsschulung oder
für "Metall" geschichtliche Rückblicke auf die düsteren Zeiten
verfassen, als es noch ein Risiko war, sich zu organisieren; so-
bald sie aber dazu übergehen, im Namen der heute Organisierten
Zweifel an der Nützlichkeit der Gewerkschaft für ihre Mitglieder
anzumelden, trifft sie der Bann des der Geschichte unendlich
dankbaren d e m o k r a t i s c h e n N a t i o n a l i s m u s
dieses Haufens. Nach dem Vorbild der demokratischen Berufsverbote
schützt der DGB s e i n e demokratische Substanz durch Unver-
einbarkeitsbeschlüsse und entsprechende Ausschlußverfahren. Daß
die nationale Wirtschaft und die Regierung funktionieren müssen,
bevor sich einer das Recht herausnehmen kann, etwas zu verlangen,
ist den sachverständigen DGB-Vorständen zum Grundsatz geworden.
Sie entdecken noch in jeder Rentenkürzung, jeder Preiserhöhung
und jeder Entlassung "ein von allen Verantwortlichen in unserem
Gemeinwesen sehr ernstzunehmendes langfristiges Problem". Der po-
litische Jargon zeigt, in welcher Weise diese Gewerkschaft über-
haupt noch ein Interesse entwickelt, mit dem sie sich i n
G e g e n s a t z zu einer staatlichen Entscheidung oder zu ei-
ner betrieblichen Maßnahme begibt: das Kriterium für die Ent-
deckung von Gegnern ist ihr einfach sie selbst - sie mißt alles
und jeden an ihrer Auffassung von gerechtem staatlichen und
unternehmerischen Walten, mit dessen Gelingen sie auch die Sache
der von ihr Vetretenen bestens erledigt sieht. Deshalb kommen die
"Arbeitnehmer" auch immer und nur als Betroffene vor, insbeson-
dere dann, wenn die Gewerkschaft E r f o l g s m e l d u n g e n
in die Welt setzt:
"In über hundert Stunden vorbereitender Gespräche und harten Ver-
handlungen hat die IG Metall durchgesetzt, daß die Krise der
saarländischen Eisen- und Stahlindustrie für die betroffenen Ar-
beitnehmer nicht zur Katastrophe wird."
Die Darstellung gewerkschaftlicher Funktionärstätigkeit als
"Arbeit", als eine entsagungsvolle, alle Kennzeichen des Opfers
aufweisende Leistung ist hierzulande gewerkschaftlicher Usus, und
sie allein wirft schon ein Licht auf den Inhalt dessen, wofür
diese Charaktere "geradestehen":
"Die Neuordnung der Eisen- und Stahlindustrie unter dem neuen
Konzernherrn ARBED wird ohne Entlassungen und mit weitreichenden
Garantien für die Arbeitnehmer durchgeführt. Was nicht verhindert
werden konnte: Tausende Arbeitsplätze werden in wenigen Jahren
vernichtet."
Sosehr ist diesen Leuten das Anliegen des kapitalistischen Mana-
gements in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie die
B e g u t a c h t u n g des ökonomischen Erfolgs in haargenau
derselben Weise vornehmen wie das "Handelsblatt" - und die nega-
tiven Wirkungen auf das Ausbeutungsmaterial als unumgängliche
Notwendigkeit darstellen, welche der gewerkschaftlichen Mitbe-
stimmung für die nächste Zeit wieder Aufgaben stellen und Per-
spektiven eröffnen. Innerhalb einer Woche kann ein Mitglied der
IG Metall in verschiedenen Publikationen, manchmal in derselben
Nummer die folgenden gefühlvoll abgefaßten Lagebeurteilungen zur
Kenntnis nehmen:
"Gegenwärtig werden Absatz und Preise von Stahl weltweit gesteu-
ert. Das hat der Stahlindustrie eine Atempause verschafft. Sin-
kende Kosten und erhöhte Preise erlauben ihr seit einem halben
Jahr im großen und ganzen die Deckung ihrer Kosten... Die bundes-
deutschen Stahlkonzerne stehen vergleichsweise fest auf den Bei-
nen: finanziell solide, technisch modern, durch Mitbestimmung und
eine vernünftige Tarifpolitik der IGM sozial fundiert."
"In den letzten drei Jahren sind in der Stahlindustrie 41.000 Ar-
beitsplätze verlorenegegangen. Allein seit Anfang dieses Jahres
sind im Bereich der Stahlerzeugung 10.000 Arbeitsplätze vernich-
tet worden."
Solche Frechheiten steigern die Ideologen der Gewerkschaft nur
noch in einem Bereich, nämlich dort, wo es um die i n t e r-
n a t i o n a l e D u r c h s e t z u n g des westdeutschen
Kapitals geht. Für ein Atomprogramm, das die Stärke der west-
deutschen Wirtschaft und garantiert d e u t s c h e "Arbeits-
plätze" sichert, läßt der DGB schon einmal seine Massenbasis im
Westfalenstadion antreten! Er rät noch stets zu den schärfsten
Waffen der Konkurrenz, seine Vorstände hetzen ohne Umschweife auf
"die Japaner" und die ärgerlichen Subventionspraktiken anderer
Staaten, die der d e u t s c h e n Stahl-, Werft- und Auto-
industrie die Butter vom Brot nehmen. Meldungen wie "Die
Bundesrepublik profitierte von der EG" und die dazugehörigen Vor-
schläge, wie aus dem "sozialen Europa" noch mehr für die deutsche
Wirtschaft herauszuholen sei, sind auf der Tagesordnung - so daß
einem die bloße Lektüre des "gewerkschaftlichen Internationalis-
mus" bereits die leiseste Neigung zu der Frage austreibt, wo denn
da die Interessen der Arbeiter bleiben. Die Beschwörung des Um-
stands, daß auch in weltpolitischen Fragen die Arbeiter die vor
allem "Betroffenen" seien, dient den heutigen weitgereisten Ge-
werkschaftsoberfritzen selber nur noch als - oft auch schon
gleich weggelassener - Auftakt dafür, mit allen Insignien politi-
scher Wichtigkeit ihren Senf zur Weltlage dazuzugeben: von der
Reform der Apartheid in Südafrika bis zur kollegialen Mahnung an
einen Metallgewerkschaftsfunktionär der SU, er sollte doch für
den Abzug der Roten Armee aus Afghanistan sorgen, damit die Olym-
pischen Spiele keinen Schaden nehmen. Umgekehrt steht für die Ge-
werkschaft die "Aussöhnung" zwischen Arbeiterklasse und Wehrmacht
so hoch im Kurs, daß sie mit ihren Massen öffentliche Rekruten-
vereidigungen ausstaffiert. Auch aus ihrer Gegnerschaft gegen die
Notstandsgesetze hat sie also das Beste gemacht.
Die DGB-Einheitsgewerkschaft ist so schwarz-rot-gold, daß jede
Kritik an ihr, die ihr F e h l e r bei der Verfolgung von
"Arbeitnehmerinteressen" vorwirft, eine einzige Verharmlosung
darstellt. In trauter Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie hat
sie auch den letzten Anschein fallengelassen, sie sei auf die
Durchsetzung eines Klasseninteresses aus. Höchstoffiziell betei-
ligt sie sich am Management der deutschen Wirtschaft und strebt
als das gute Gewissen ihres Erfolgs danach, auch von staatlicher
Seite ganz offiziell mit dieser Aufgabe betraut zu werden, in im-
mer mehr Posten und Angelegenheiten, wofür sie der derzeit staat-
stragenden Partei treue Wählerstimmen in Aussicht stellt. So kann
der Vorwurf derer, die auf solche Gewerkschaftshilfe für die Er-
oberung der Staatsmacht nicht rechnen dürfen, nicht ausbleiben -
es drohe der "Gewerkschaftsstaat" - ein Vorwurf, der keineswegs
mit dem des "Rückfalls" in den "überholten Klassenkampf" zu ver-
wechseln ist. Daß mit der "Filzokratie" von sozialdemokratischer
Staatspartei und DGB die A r b e i t e r an die Macht gekommen
wären, befürchtet nämlich auch ein Kurt Biedenkopf nicht. Gerade
vermittels der demokratischen Leistungen der beiden "Erben der
Arbeiterbewegung" stehen die Arbeiter zur Staatsmacht im rechten
Verhältnis: Mit der Zustimmung zu "ihrer" Partei entscheiden sie
sich für die Herrschaft über sich; und im DGB verfügen sie über
ein staatstreues Institut zur demokratisch konstruktiven Abwägung
und Abwicklung des Schadens, zu dem sie mit der Wahl ja erst ihr
prinzipielles politisches Einverständnis abgeliefert haben.
Schwierigkeiten mit der arbeitenden Klasse
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hat die nationale Gewerkschaftsmacht nicht - andernfalls wäre ihr
d i e s e Politik unter ständiger Berufung auf die Opfer des ka-
pitalistischen Fortschritts kaum möglich. Mit denen, die sie
s t a r k machen, gehen die maßgeblichen Leute sehr souverän um.
Selbst aus der Institution der Tarifrunde haben sie das Instru-
ment ihres politischen Erfolgs gemacht, so daß der ökonomische
Kampf um Lohn und Leistung nur als Mittel zum höheren Zweck und
mit dem entsprechenden Ergebnis stattfindet. Die Gewerkschaft
setzt den Verdacht gegen sich in die Welt, sie sei eine "bloße
Lohnmaschine", nur um ihn zurückzuweisen. Daß sich im Ritual der
Tarifverhandlungen und in den bisweilen vorkommenden Streiks jene
K l a s s e n a u s e i n a n d e r s e t z u n g e n abspielen,
an die sich die Hoffnungen der Linken knüpfen, erweist sich schon
zu Beginn der gewerkschaftlichen Aktivitäten als ein erlesenes
Gerücht. Nicht nur, daß die zum Zwecke des Kompromisses aufge-
stellten Forderungen nach allen Regeln der volkswirtschaftlichen
Kunst e r r e c h n e t werden - womit erstens der Geldmangel
der Proleten ebenso wie ihr Bedürfnis nach Arbeitserleichterungen
nur im Hinblick auf die "Notwendigkeiten" des Kapitals auf den
Tisch und zweitens die von der Gewerkschaft ermittelten
"Möglichkeiten" nie herauskommen -, kann da als Indiz gelten; die
in sämtlichen demokratischen Techniken beschlagenen Versammlungs-
leiter verwandeln jeden Anspruch, der in einer Belegschafts- oder
Ortsgruppenversammlung aufgekommen ist, durch "geschicktes" Aus-
spielen gegen die abweichenden Forderungen sowie die "nicht ent-
wickelte Kampfbereitschaft" anderer Gewerkschaftsabteilungen läs-
sig in die längst beschlossene Größe. So empfindlich die Gewerk-
schaftsfunktionäre auf jeden Journalisten und Politiker reagie-
ren, der den "vernünftigen Abschluß" von vorneherein beziffert -
das ist das Gezeter über den "Eingriff in die Tarifautonomie" -,
so genau nimmt sie es mit der Abwiegelung aller innergewerk-
schaftlichen Vorschläge, die, würden sie von den Beteiligten
ernstgenommen, einen ordentlichen Kampf unter Anwendung der ihm
gemäßen Mittel nach sich zögen. Was sich auf den entsprechenden
Versammlungen abspielt, kann durchaus auch der ermessen, der
nicht teilgenommen hat und den Zirkus kennt. Er braucht nur etwa
die Notiz in "Metall" zu lesen, die unter der Überschrift
"Forderungen liegen auf dem Tisch" zu finden ist:
"Daß viele Kollegen zustimmten, obwohl sie eine höhere Lohnforde-
rung für angemessen gehalten hätten, bezeichnete Bezirksleiter
Franz Steinkühler als 'bestandenen Reifetest' für die Organisa-
tion."
Nicht nur, daß der als besonders radikaler Arbeitervertreter ver-
schriene Steinkühler das so sieht - es wird auch noch allen Mit-
gliedern der IG Metall frisch zur ersten Tarifrunde des neuen
Jahrzehnts serviert, worin ihre "politische Reife" besteht. Daß
der offizielle Auftakt des Lohnkampfs erst einmal darin seinen
Witz hat, daß die Mitglieder von dem, was sie brauchen, Abstand
nehmen, wird höchst eindeutig mitgeteilt - und dennoch ist aus
dem Bezirk Stuttgart nichts von einem Aufstand der Basis bekannt
geworden. Das Geheimnis des innergewerkschaftlichen Rummels, der
da alljährlich abgezogen wird, erschöpft sich eben in einer De-
monstration demokratischer Teilhabe der Basis bei der Aufstellung
der vorgesehenen Forderungen, und das läßt sich am besten immer
noch durch die "Schlichtung" vorhandener "Meinungsverschieden-
heiten" erledigen. Da dürfen auch mal linke Metaller und sehr
kampfbereite Drucker auf den Putz hauen; da dürfen Forderungen
vorgeschlagen werden, "weil sie streikfähig" sind, "vereinheit-
lichend" wirken - andere werden aufgrund ihrer "spalterischen"
Natur abgelehnt; die Frage "Festgeld- oder Prozentforderung?"
gehört immer dazu usw. -, so daß nach ein paar Stunden feststeht,
was vorher schon feststand. Der spärliche Besuch und das
lächerliche Engagement einiger Funktionäre angesichts
offenkundiger Gleichgültigkeit bei den Mitgliedern verraten, daß
solche Veranstaltungen eine ziemlich umständliche Art sind,
demokratisches Pflichtbewußtsein zur Schau zu stellen. Keiner der
Beteiligten täuscht sich über den Charakter dieser Versammlungen
- jeder weiß, daß es nur um den S c h e i n zu tun ist, es
würde gestritten und entschieden. Wo Linke eine Heidenbewegung an
der geliebten Basis entdecken und Funktionäre diese Illusion zum
Beweis des demokratischen Betriebs auch einmal nähren, findet
alles statt, nur eines nicht: die gemeinschaftliche Beratung über
das effektivste Vorgehen, um das zu erreichen, was zu erreichen
geht!
Darüber, was "gebraucht" wird, entscheiden also berufsmäßige Kom-
missare mit dem Taschenrechner; und mit dem marschieren sie dann
zu den V e r h a n d l u n g e n, nachdem die Große Tarifkom-
mission das Ergebnis von der Basis freudig begrüßt und einstimmig
- noch besser: mit ein paar Gegenstimmen - beschlossen hat. Mit
welchem Ergebnis sie wieder zur Basis zurückkehren, wissen sie zu
diesem Zeitpunkt schon - das aber darf niemand behaupten. Denn
das bisher gelaufene Verfahren macht die Schwierigkeiten dieser
"Verantwortlichen" deutlich: daß es auf ihre "Beharrlichkeit" an-
kommt, auf ihr "Verhandlungsgeschick", vor allem aber darauf, die
"Provokation" der Gegenseite zu entlarven, die Unannehmbarkeit
ihres Angebots zu beschwören, das längst ebenso wie das gewerk-
schaftliche zur Bildung der "Mitte" angesetzt ist, will ja noch
bewiesen werden. Die ganze Beschäftigung einer gewerkschaftlichen
Tarifkommission besteht darin, die Verhandlung so zu führen, daß
sie hinterher das Erreichen des den Mitgliedern auch schon vorher
bekannten Ergebnisses als Erfolg der Gewerkschaftspolitik verkau-
fen kann - und die Journaille tut den Unterhändlern der Gewerk-
schaft den Gefallen, sie angesichts der erfundenen Gefahr, sie
könnten "ihr Gesicht verlieren", zu bedauern. In den Verhandlun-
gen selbst wird also nicht über Lohn und Leistung gestritten,
über das Maß, in dem sich nach dem Abschluß die Proleten für wie-
viel Geld plagen müssen; der Kampf um die Zehntel - einen anderen
gibt es sowieso nicht, weil die "Mitte" feststeht - ist einer um
den S c h e i n d e s g e w e r k s c h a f t l i c h e n
K a m p f e s, der mit dem "zähen Ringen", der Dauer des Thea-
ters ebenso herbeigeführt werden kann wie mit einem Zehntel Pro-
zent und der verschiedenen Verrechnungsweise des Resultats. Kos-
metik ist da allemal gefragt, und wenn die Basis in Gestalt einer
Demonstration auf der Bildfläche erscheint, so wissen ihre Funk-
tionäre noch allemal, wie sie auf den Appell "Laßt euch nicht un-
terkriegen!" zu reagieren haben. Sie sagen: "Das stärkt uns unge-
heuer den Rücken!" und beraten untereinander, ob es denn diesmal
tatächlich "Unmut" geben könnte, wenn zu schnell und ohne Tamtam
in der bewußten Weise abgeschlossen wird. Die "aktiven Gewerk-
schaftler", die sich noch Illusionen über das Geschehen machen
und so tun, als ginge es tatsächlich darum, ihren bedrängten Ver-
tretern die nötige Unterstützung zuzusichern, werden entsprechend
dieser frommen Absicht benützt. Die Tarifkommission kann sich auf
die Kampfbereitschaft berufen, ihren "Sozialpartnern" von den
"Arbeitgebern" mit dem Ärgsten drohen, wenn sie nicht den Kompro-
miß so zugestehen, daß er nach etwas aussieht. Es soll aber auch
schon vorgekommen sein, daß die Demonstranten als unmaßgebliche,
keineswegs die Basis repräsentierende Minderheit, als Kommunisten
eben beschimpft worden sind - was entweder mit ihren unkonstruk-
tiven "Verräter"-Parolen oder mit dem fortgeschrittenen Stand der
Einigung oder auch mit beiden zu tun hatte.
Um das erzielte Ergebnis als das wirklich nicht zu überbietende
darzustellen, ist bisweilen auch ein S t r e i k von Nutzen: an
dem, was die Arbeiter nach den großen Kämpfen zum Ende des alten
Jahrzehnts beschert bekamen, hat mancher gemerkt, daß haargenau
dasselbe vor dem Streik angeboten worden war - der ganze Unter-
schied war wieder einmal ein rein sprachlicher: Ein solcher
Streik will natürlich auch geplant sein nach Ort und Zeit: da
gibt es "kampfstarke" Betriebe und Bezirke, die man antreten
läßt, um zu beweisen, daß "trotz allem" am Schluß nicht mehr drin
war. Da gibt es die sparsamen Punktstreiks, die sich zwar auf das
Ergebnis nicht niederschlagen, aber eine m o r a l i s c h e
W i r k u n g entfalten - insbesondere dann, wenn die Unterneh-
mer zur Aussperrung schreiten. Kein einziger Streik der letzten
Jahre hatte nämlich je den Zweck, die Forderung der Drucker, Me-
taller oder Stahlarbeiter durchzusetzen; dafür waren sie in ihrem
gesamten Ablauf aber als mächtige Demonstration geplant - f ü r
d i e G e w e r k s c h a f t und ihr Recht, ganz tarifautonom
zu verfahren, gegen die Willkür der Unternehmer, für ein Verbot
der Aussperrung... Und die Erfolgsmeldungen sahen entsprechend
aus: die Streitgegenstände kamen als die schönste Nebensache der
Welt vor, ob sie nun "Arbeitszeitverkürzung", "Rationalisierungs-
schutz" oder "Lohnprozente" hießen - bisweilen wurden sie auch in
Form von Lügen gewürdigt: als "Einstieg in die 35-Stunden-Woche"
wurde ein Urlaubstag verkauft, den die Unternehmer schon vor den
Verhandlungen abgeschrieben hatten; als "Rationalisierungsschutz"
wurden Vereinbarungen vorgelegt, die den Lohnabbau, den
Leistungsaufbau und die stufenweise Entlassung kleinlichst
regeln; und in der Hochrechnung von Prozenten kannten sich
Gewerkschaftsfunktionäre schon vor der Verbreitung der Ta-
schenrechner aus.
Wenn in den Vorständen der DGB-Gewerkschaften einmal aus dem
e i n e n Grund ein Arbeitskampf angeleiert wird, so gerät er
für die Beteiligten stets zum O p f e r. Da es um die Anerken-
nung des DGB beim "Sozialpartner" geht, bleiben eben die Interes-
sen der "Betroffenen" auf der Strecke - allerdings nicht ohne
weiterhin das Material für die Legitimation der Gewerkschaft zu
liefern. Und das nicht nur in ihrem Auftreten nach außen hin -
die benützte Basis muß über ihren Schaden hinaus auch noch die
gewerkschaftsoffizielle Deutung zur Kenntnis nehmen. Und zwar
theoretisch wie praktisch. Erstens ist im DGB '80 nichts so
selbstverständlich wie die Weisheit, daß ein Arbeitskampf eine
einzige Entsagung ist, die man dem Arbeiter hoch anrechnen muß:
"Der Streik, die gemeinsame Arbeitsniederlegung, ist das wirksam-
ste Mittel unseres Kampfes um bessere Arbeits- und Lebensbedin-
gungen. Wir reißen ihn nicht leichtfertig vom Zaun. Er ist mit
hohen persönlichen Opfern und großen Risiken für die Arbeitnehmer
und ihre Familien verbunden. Sie müssen Einkommenseinbußen und
Maßregelungen befürchten. Aber die Arbeitnehmer nehmen diese Op-
fer freiwillig auf sich, denn sie wissen, daß es keine
Alternative gibt."
Ein DGB-Vorsitzender geht vorsichtig mit der Verbesserung von Ar-
beits- und Lebensbedingungen um, weil das "wirksamste Mittel" da-
für gar nicht preiswert ist für die Herren Arbeitnehmer - zumin-
dest wenn es sich um den Streik neuen Typs handelt, zu dem die
DGB-Gewerkschaften ihre Mitglieder antreten lassen: der weist in
seinen Resultaten tatsächlich die Qualitäten auf, die seinen Ge-
brauch fragwürdig machen. Auch innergewerkschaftlich ist diese
Lehre auf praktische Erfahrungen gestützt. Nach ihrem großen
Kampf konnte schon damals die IG Druck und Papier nicht umhin,
einen 13. Monatsbeitrag einzuziehen, der für viele Mitglieder ei-
ner der letzten gewesen ist. Die einen sind aus Ärger ausgetre-
ten, weil sie keinen Sinn fürs Streikopfer mehr aufbrachten; die
anderen sind dem großartigen "Rationalisierungsschutz" zum Opfer
gefallen. Auch die IG Metall bemüht sich seit ihren letzten
Schlachten um die Zahlungsmoral ihrer Schäfchen; dazu ist ihr als
Motto "Stärke kostet Geld" eingefallen, das sie anläßlich der er-
sten Tarifrunde im neuen Jahrzehnt wieder aufgewärmt hat, ob-
gleich die Kampagne "Aussperrung verstößt gegen Menschenwürde"
vordergründig gar nichts damit zu tun zu haben scheint. Hinter-
gründig aber war gemeint, daß Aussperrung gegen die Gewerk-
schaftskasse verstößt, was durch detaillierte Berechnung der Ko-
sten dargelegt wurde, die der Arbeitskampf im Vorjahr der IG Me-
tall verursacht hat: "Arbeitskämpfe sind teuer. Deshalb: Zahl den
ehrlichen Beitrag". So beseitigt man den Irrtum, daß Arbeits-
kämpfe den Proleten etwas bringen und die Gewerkschaftskasse da-
für da ist, sie erfolgreich zu führen; und für alle Uneinsichti-
gen, die mit der Aussperrungskampagne immer noch nichts Rechtes
anzufangen wußten, wurde der Kampf um die Menschenwürde der Ge-
werkschaft mit dem schönen Bekenntnis begründet, dass schon H.O.
Vetter abgelegt hatte; von wegen leichtfertig um ein angenehmeres
Leben streiken und sich so der "Sozialpartnerschaft" unwürdig er-
weisen! S o argumentiert ein DGB gegen die Aussperrung:
"Schaut euch die Tarifabschlüsse an. Wir haben maßgehalten. Aus
Verantwortung fürs Ganze."
Daraus folgt natürlich ohne weiteres der originelle Aufruf zur
Solidarität, die irgendwen ja stark machen muß:
"Wir können den Milliarden der Unternehmerseite unsere Millionen
Mitglieder gegenüberstellen. Dann sind wir stärker. Darum wird
jeder, der seine Gewerkschaft stärker macht, selbst stärker. Die
Möglichkeit der Aussperrung muß vom Tisch."
Die Tarifrunde, in der dies und manches andere gesagt wurde, en-
dete sang- und klanglos mit 6,8%, nachdem zu Anfang alle Proleten
haargenau 10,4% gebraucht hatten und dazwischen der
"provozierende Vorschlag" der Metall-Kapitalisten dreimal zurück-
gewiesen worden war. Das Problem mit den Politikern, die eventu-
ell hätten annehmen können, daß die Metaller tatsächlich ein Vor-
gehen des Staates gegen die aussperrenden Unternehmer verlangen
und deswegen auf den Putz hauen, löste Eugen Loderer. Er rettete
die Glaubwürdigkeit des DGB, des mitbestimmenden Sozialpartners,
auf geniale Art. Unter der Überschrift "Die Aussperrung muß ver-
boten werden" ließ er die Welt wissen:
"Wir fordern das Verbot der Aussperrung heute nicht vom Gesetzge-
ber, weil wir konservativen Politikern keinen Vorwand liefern
wollen für Spielereien mit einem Verbändegesetz."
So war wieder einmal alles geklärt: die "ehrlichen Beiträge" wa-
ren für die Aussperrungskampagne verpulvert, die Staatsmänner wa-
ren beruhigt, weil informiert, wie's gemeint war, die Gewerk-
schaft hatte ihr Ansehen als Sozialpartner gefestigt und die
Proleten hatten ihre 6,8%. Im nächsten Jahr reicht's zwar auch
wieder hinten und vorne nicht - aber ein Streik mit "hohen
persönlichen Opfern" für das "Recht auf Streik" und gegen das
Unrecht der Aussperrung und für die Tarifautonomie überhaupt
und... und... ist ihnen wenigstens erspart geblieben.
Aus den Gepflogenheiten des alljährlichen ökonomischen Kampfes
geht zweierlei hervor:
1. Auch die Geldsorgen der Arbeiter, ihre Schwierigkeiten mit den
während der Zeit der Friedenspflicht ständig erhöhten Leistungen,
mit den Konsequenzen der offiziellen und ganz nebenbei abgewic-
kelten Rationalisierung, mit den kleinen und großen Schikanen am
Arbeitsplatz - kurz: alle G r ü n d e für den gewerkschaftli-
chen Kampf nützt der DGB schamlos für seine politischen Ambitio-
nen aus. Nicht genug, daß der Gesetzgeber dem Gebrauch d e r
Waffe des Arbeitskampf entscheidende Grenzen gesetzt hat und sich
in seiner freiheitlichen Institution der Tarifautonomie alles an-
dere als "heraushält" aus dem ökonomischen Interessengegensatz;
die Gewerkschaften verzichten auch auf den Gebrauch der ihnen of-
fenstehenden Mittel, um den Arbeitern ihr Zurechtkommen in der
Welt von Lohn und Leistung erträglicher zu gestalten. Der
"Wirtschaft" kann das nur zugute kommen, weil ihr sämtliche Tech-
niken der Erpressung mit den verschiedenen Lohnformen zur freien
Verfügung stehen; die Ausnützung und Beförderung der Konkurrenz
unter den Arbeitern werden durch keine von den Koalitionen
erzwungenen Schranken gehemmt.
2. Dieser politische Umgang mit den ökonomischen Interessen und
Bedürfnissen der Proleten beweist das F e h l e n e i n e s
t r a d e u n i o n i s t i s c h e n B e w u ß t s e i n s in
der westdeutschen Arbeiterklasse. Den Phrasen von der Gemeinsam-
keit, die "stark" macht, den Solidaritätsappellen, die aus den
Redaktionen des DGB mit schöner Regelmäßigkeit ertönen, um die
Mitglieder wieder einmal an ihre Pflichten ihrem Verein gegenüber
zu erinnern, stehen keine Aktionen gegenüber, durch die Mitglie-
der ihre Funktionäre daran erinnern, daß sie für das Funktionie-
ren eines erfolgreichen Kampfes da wären. In den DGB-Vereinen ist
es nicht Sitte, darauf zu dringen, daß die Organisation ein
M i t t e l z u r A b w e h r der Angriffe auf Lohn und Repro-
duktion ist und die freie Handhabe der Konkurrenz durch die Un-
ternehmer zu stören hat. Diese Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt
und am Arbeitsplatz, bei der immer die, d i e s i c h v e r-
g l e i c h e n l a s s e n, die Dummen sind, wird von den
Kapitalisten so bequem betrieben, weil die westdeutschen Arbeiter
a u f i h r e A r b e i t setzen und sich damit zu-
friedengeben, s i c h i n d e r K o n k u r r e n z zu be-
währen, als wäre sie i h r Mittel. Daraus, daß in den meisten
Betrieben der Anteil des Arbeitslohns, der nicht tariflich fest-
gesetzt ist, sondern als "Bonus", als werkspezifische Zulage oder
Prämie gezahlt wird, mehr als ein Drittel des Lohnes ausmacht,
hat in der Gewerkschaft dieser Republik noch niemand den Schluß
gezogen (und entsprechende Schritte unternommen), daß die Unter-
nehmer mehr zahlen können, als sie in Tarifverhandlungen zugeste-
hen. Der umgekehrte Schluß wird p r a k t i z i e r t: die in
den Tarifrunden ausgehandelten Prozente werden ohne große Aufre-
gung zur Kenntnis genommen, da sie ohnehin nicht übermäßig "ins
Gewicht fallen" - einmal wegen ihrer pfennigmäßigen Ausmaße, zum
anderen, weil man ja über Haustarife und Sonderzahlungen das We-
sentliche "herausholt". Die Tatsache, daß damit bedeutende Lohn-
teile dem "Arbeitgeber" zur Disposition stehen, so daß er sie bei
schlechtem Geschäftsgang streicht und bei gutem in gar nicht lu-
stige Sonderleistungen ummünzt, zeigt, was alle wissen, aber
nicht wahrhaben wollen. Für die "Sonderzahlungen" wird schon am
ersten Tag nach der Einstellung Besonderes verlangt, und sobald
man die "Betriebstreue" nicht mehr auszuhalten in der Lage ist,
stellt der Arbeitsmarkt mit seinen Angeboten die "Abqualifizie-
rung" fest.
Schon an dieser elementaren Lohnfrage, und noch deutlicher an den
M a n t e l t a r i f v e r t r ä g e n, die Gewerkschafter völ-
lig unbehelligt von den Mitgliedern aushandeln, wird deutlich,
worauf das Zusammenspiel von Führung und Basis beruht: die
Vereinbahrungen über Lohngruppen, Einstufung im Zuge von
Rationalisierungen, Kündigungsschutz etc. sind allesamt frei von
irgendwelchen Auflagen für die Unternehmerseite und lesen sich
nicht nur wie Ausführungsbestimmungen des DGB - ohne
"betriebliche Notwendigkeit", "triftige Gründe" braucht wirklich
keiner entlassen zu werden, weshalb die Gewerkschaften diese
Bestimmung gleich den Kapitalisten als "Auflage" reinsemmeln -,
so daß die "Betroffenen" tatsächlich so genannt zu werden
verdienen. Der Einsatz der eigenen A r b e i t s k r a f t als
Mittel, in der Welt zu etwas zu kommen, findet bei den
westdeutschen Proleten ohne die trade-unionistische Bemühung
statt, sich um die B e d i n g u n g e n d e r
K o n k u r r e n z zu kümmern, also durch gewerkschaftliche
Kampfmaßnahmen Verbesserungen auf diesem Felde zu erzwingen.
Deshalb tritt ihnen außer dem S o z i a l s t a a t, dem sie
ihre Stimme geben dürfen, damit er die Konkurrenz der Klassen und
die in ihnen samt ihren Ergebnissen verwaltet, auch noch i h r e
G e w e r k s c h a f t als eine Institution gegenüber, die im
berechnenden Blick auf ihre Interessen ständig für den - gar
nicht weiten - Rahmen sorgt, innerhalb dessen sie mit viel
Leistung für ganz wenig ökonomischen Erfolg antreten können.
In den bereits erwähnten agitatorischen Versuchen, die Funktio-
näre und jene "aktiven Gewerkschafter" bei jeder unpassenden Ge-
legenheit mündlich und schriftlich starten, liegt keineswegs die
Widerlegung unseres Urteils vor, sondern seine peinliche Bestäti-
gung. Die erwähnten Argumente der Mitgliederwerbung sowie die an-
gesichts der nahenden Tarifrunde durchaus wirksame Aufforderung,
den Beitrag zu zahlen, sind ja der eindringliche Beleg, wie eine
Klassenorganisation mit lauter Karteileichen funktioniert. Falls
"es" zu einem Arbeitskampf kommt, lautet der Wink mit dem Zaun-
pfahl, ist für den Schaden der ganz allein zuständig, der seine
Gewerkschaft nicht "stark" macht. In den entsprechenden Schriften
und aufmunternden Reden wird mit der größten Selbstverständlich-
keit davon ausgegangen, daß sich die Basis ohnehin nicht klar
darüber ist, daß und wofür sie streiken wird; ebenso selbstver-
ständlich wird ein Arbeitskampf als d r o h e n d e r
S c h a d e n gehandelt, auf den man sich einzustellen hat. Und
die Rechnung geht - ihrer Grundlage sicher - jedesmal auf: denn
anläßlich der harten Konsequenzen für Säumige - mit dem, was beim
Streik an V o r t e i l e n herauskommt, wirbt heute kein
Funktionär - behandeln die zur Kasse gebetenen Karteileichen ihre
Gewerkschaft tatsächlich wie eine V e r s i c h e r u n g, wo-
rauf es ihren Mahnern auch ankommt! Das kann sich die Basis näm-
lich durchaus vorstellen, daß sie von den Maßnahmen ihrer Führung
b e t r o f f e n wird.
Die Führung ihrerseits hat in diesen gelungenen Techniken deut-
scher Gewerkschaftsdemokratie den Weg entdeckt, eine gar nicht
trade-unionistisch gesinnte Arbeiterschaft für ihre Gewerk-
schaftspolitik zu funktionalisieren. Denn seit ihrer konzessio-
nierten Gründung ist ihr an einer E r z e u g u n g gewerk-
schaftlicher Aktivität, die so genannt zu werden verdient, nicht
gelegen. Ihr politisches Programm, der Ehrgeiz, an der Verwaltung
eines erfolgreichen Klassenstaats b e t e i l i g t zu sein,
hat die maßgeblichen Männer der ersten und sämtlicher folgenden
Stunden nie über das Grund- und Hauptargument hinausgehen lassen,
das da lautet: die Arbeiter b r a u c h e n eine Gewerkschaft,
wir sind sie, und deshalb müssen s i e u n s unterstützen! Da-
für, daß die Proleten ein Bewußtsein von der Notwendigkeit der
Gewerkschaft kriegen, wurde gesorgt: erstens dadurch, daß es sie
g a b, und zweitens durch die T a t e n und
U n t e r l a s s u n g e n, die so manchem klarmachten, daß man
am DGB nicht vorbeikommt. Ob dabei der s c h l e c h t e
M a t e r i a l i s m u s der Verringerung des Schadens oder
sein großer Bruder, der g e w e r k s c h a f t l i c h e
I d e a l i s m u s, eine größere Rolle spielte, ist ziemlich
belanglos. Mag sein, daß zum Auftakt der "Erneuerung" die Be-
mühung der Masche "Solidarität" noch nicht so lächerlich war wie
heute, wo sie klar als Appell zur Unterstützung des Vereins auf-
tritt, dem die Frage nach seinem Nutzen gleich als Kritik und
deshalb "Spaltung" vorkommt. Falsch ist die Beschwörung dieses
I d e a l s d e r K o n k u r r e n z immer, da es in seinem
Verzicht auf die Gründe und Zwecke, die Arbeiter haben fürs Zu-
sammenhalten, von vorneherein das individuelle Interesse zurück-
weist. Eine Organisation, in der es sich nicht nur zu sein, son-
dern auch mitzumischen lohnt, bedarf zur Überzeugung von Außen-
stehenden wie Mitgliedern lediglich die Angabe von gemeinschaft-
lichen Zielen, die eben auch die der Beteiligten s i n d - und
schon kann sie sich der Vorschläge, wie diese Ziele durch gemein-
schaftliche Aktion in die Tat umzusetzen sind, ebensowenig erweh-
ren wie des Einsatzes der Leute, die wissen warum. Die albernen
Redensarten wie "Gemeinsam sind wir stark!" sind deshalb einer-
seits kein Argument für die Gewerkschaft, andererseits das Zeug-
nis dafür, daß die Urheber dieser Parolen lieber nicht nach ihrem
N u t z e n gefragt werden wollen (der ja bekanntlich in der Ge-
schichte liegt!). Heute, da die Beschwörung der Solidarität am 1.
Mai für eine staatliche Feierstunde taugt, in Schulungsmappen
fünfhundertmal vorkommt und auch schon für die richtige Stimmab-
gabe bei der Europawahl herhalten muß, sollte eigentlich niemand
Schwierigkeiten haben, den Sinn der Botschaft zu entziffern.
Sooft an einem Ort ein paar Gewerkschafter zusammenkommen, weil
sie zusammengerufen worden sind für das neueste Projekt ihrer
Führung, steht das Bekenntnis nur noch für das Opfer, auf das
sich alle verpflichten sollen. Lächerlich macht sich das Getue
aber bei der Basis trotzdem nicht, weil die ohnehin dem ganzen
Betrieb reserviert gegenübersteht - daß es aber lächerlich ist,
steht außer Zweifel. Wenn ein Gewerkschaftsfunktionär auf einer
Streikversammlung, auf der die Basis bereits an fünfzig Tischen
zum Schafkopf übergegangen ist, weil es weder etwas zum Beraten
noch zum Feiern gab - das Ergebnis des im Gang befindlichen Ar-
beitskampfes kannten alle -, die "Spaltung" der Unternehmer und
die "Solidarität" bei uns mit Freude kundgetan hat, so legt diese
Tat sogar den Verdacht des Z y n i s m u s nahe, der in der ge-
werkschaftlichen Abwicklung von Tarifrunden ja zu seinem Recht
kommt. Oder sollte der gute Mann wirklich noch auf keiner Schu-
lung erfahren haben, daß die G e m e i n s a m k e i t d e s
I n t e r e s s e s die Kapitalisten über alle Konkurrenz hinweg
und ganz ohne die hohe Würde der "Solidarität" e i n t?
Daß die gewerkschaftliche Aktivität an der Basis mit gewissen
Problemen zu kämpfen hat, ficht die Führung nicht weiter an: für
den Posten eines Vertrauensmannes läßt sich einer durchaus auch
mit dem Hinweis werben, daß er kaum etwas zu tun bekomme. Ist so
ein Basismensch ernsthaft interessiert daran, was wieder läuft,
hat er in vielen Betrieben seine liebe Mühe und Not, um wenig-
stens die Gewerkschaftsblättchen zu kriegen. Daß einer aus dem
Vertrauensleutekörper die Geschehnisse im Betrieb beurteilt und
Wert darauf legt, dieses Urteil seinen lieben Kollegen ans Herz
zu legen, zählt zu den Ausnahmen an der bundesdeutschen Basis. Es
soll sogar vorkommen, daß sich so einer schnell den Kommunismus-
verdacht einhandelt und seine Argumente allein deshalb an Über-
zeugungskraft verlieren. Zur Regel sollte die Ausnahme allerdings
nach dem Willen der Führung zumindest in einer Hinsicht werden:
bei der Unterstützung des B e t r i e b s r a t s, jener Ver-
tretung der Arbeiter mitten im Betrieb, ohne die der DGB nicht
leben will und für deren Durch- und Besetzung er manchen Strauß
ausficht. Getreu der allgemeinen Linie in seiner Tarifpolitik,
die er mit viel Verantwortung und Augenmaß abwickelt, damit die
Wirtschaft, von der die Proleten schließlich abhängen, keine all-
zugroßen Erschütterungen hinnehmen muß, hat sich der schwarz-rot-
goldene Gewerkschaftsbund Sorgen gemacht um die
K o n f l i k t e, die sich i m Betrieb störend auf die Arbeit
auswirken könnten. Mit dem Streit um das Betriebsverfassungsge-
setz hat der DGB dem Staat eine Institution abgerungen, die es in
sich hat. Die rücksichtslose Ausnützung der Arbeitskraft zwischen
den Tarifrunden dient in Westdeutschland weder der Basis noch der
Führung als Ausgangspunkt für die Überlegung, wie man sich gegen
diese unter dem Schutz der "Friedenspflicht" stattfindende Schi-
kanierung der Proleten zur Wehr setzt; die Führung hat sich aber
immerhin darum gekümmert, daß die unvermeidlichen Reibereien
nicht zur "Störung des Betriebsfriedens" ausarten, so daß sich
jetzt ein Arbeiter an den Betriebsrat wenden kann mit allerlei
Beschwerden. Der kann dann prüfen, ob er in dem "Fall" ein
R e c h t hat, das übergangen worden ist, und zum Arbeitsgericht
klagen gehen. Auch auf diesem Gebiet tritt dem Mann von der Basis
seine Gewerkschaft als eine I n s t a n z gegenüber, die sich
keineswegs p a r t e i l i c h seiner Probleme annimmt, sondern
alles gemäß den Regeln und Richtlinien des Betriebsverfassungsge-
setzes prüft. Diese Prüfung läuft sehr korrekt ab, wie das nun
einmal in juristischen Fragen - und zu solchen werden alle ökono-
mischen Gegensätze - zu sein pflegt, und garantiert nicht nur,
daß der Produktionsprozeß von jeglichem Krach verschont bleibt.
Die Gewerkschaft hat mit diesem basisnahen Instrument der Mitbe-
stimmung tatsächlich ihren Fuß im Betrieb, in den sie niemals zur
Vermeidung von Schäden bei ihrer Basis hineinwollte. So nimmt der
DGB, den man bei Betriebsratswahlen schon wieder unheimlich stark
machen kann, an der Regelung der Konkurrenz auch in der Fabrik
teil, befindet über Urlaubspläne, Entlassungen, Sonderschichten
usw. fröhlich m i t, wobei ihm die wichtige Rolle zufällt, von
alledem dem Kapital die N o t w e n d i g k e i t und
Z u l ä s s i g k e i t zu attestieren. Die Basis tut gut daran,
sich mit dem Betriebsrat gut zu stellen - denn im Falle eines
Falles, hat man einmal eine Sicherheitsvorschrift nicht beachtet
oder eins zu viel getrunken, ist man auf seine Sympathie ziemlich
angewiesen. Außer der offiziellen Betriebsleitung ist der Arbei-
ter aufgrund der bundesdeutschen Betriebsverfassung auch noch mit
seiner gewerkschaftlichen Co-Leitung konfrontiert, von der er -
von den linken Ausnahmen abgesehen - das ganze Jahr zu hören
kriegt, daß s e i n I n t e r e s s e weitgehend bis ganz mit
dem des Betriebs zusammenfällt. Leider ist auch über die linken
Betriebsräte wenig Rühmliches zu berichten: auch sie werden nicht
gewählt, weil die Basis mit ihrer Hilfe etwas durchsetzen will
bzw. zu können glaubt; im klaren Bewußtsein über die einschlägi-
gen Kompetenzen verhelfen manche Belegschaften ihnen zu ihrem Amt
lediglich mit der Hoffnung, daß sie "etwas Dampf" machen sollen -
getrennt von den Leuten in den Abteilungen und ohne sie weiter zu
belästigen...
Es ist schon so: noch nie war eine Gewerkschaft so vollständig
erfolgreich wie der DGB von heute - eben mit s e i n e m
P r o g r a m m. Sein Ehrgeiz war von Anfang an die
M i t b e s t i m m u n g: als anerkannte Repräsentanz der Ar-
beiter mitwirken zu dürfen bei der Abwicklung "der Wirtschaft"
und bei der demokratischer Regelung der dabei nun einmal unver-
meidlichen Konflikte - nun sitzen seine Funktionäre in Betriebs-
und Aufsichtsräten und als unverzichtbarer Beraterstab in den
Vorzimmern sämtlicher Minister. Sein höchster Zweck war stets die
politische und gesellschaftliche A n e r k e n n u n g seiner
selbstlosen Dienste am Gelingen des demokratischen Klassenstaats
- nun darf er auf seinen Veranstaltungen, vom 1. Mai bis zu sei-
nen großen Kongressen und kleinen Kulturfestspielen, die Auf-
tritte politischer Größen jeder Couleur verbuchen, die nichts als
Lobendes über ihn zu sagen wissen. Seine Liebe galt stets dem
Ideal einer p o l i t i s c h e n E m a n z i p a t i o n der
Arbeiterklasse, wie sie perfekter und demokratischer nicht mehr
zu denken ist - nun ist sein Mit-"Erbe der Arbeiterbewegung" die
erfolgreich den Klassenstaat tragende Partei und er selbst ein
einziges demokratisches Geschenk an die Arbeiterklasse, weil
diese sich in ihm gleich noch ein zweites Mal und bis in die
letzten Widrigkeiten des Arbeitsplatzes hinein v e r w a l t e t
- pardon: demokratisch selbstverwaltet sieht. Und schließlich und
vor allem: Genau für diese edlen Zwecke brauchte der DGB die
westdeutschen Arbeiter - und er hat sie bekommen, genau so, wie
es sich für sein Programm gehört. Westdeutsche Arbeiter finden
nichts dabei, daß ihre Gewerkschaft ihnen als selbstlose Verwal-
terin ihrer materiellen Interessen im Namen des Gemeinwohls ent-
gegentritt: sie konzedieren ihr ohne Zögern ein lückenloses Mono-
pol auf alles, was mit dem Geltendmachen ihrer gemeinsamen Anlie-
gen zu tun hat, und haben es längst gelernt, mit d i e s e m
Monopol zu l e b e n. Auch als langjährige Mitglieder reden
sie, die ohne Umstände von sich als "wir Deutsche" reden, von
"ihrer" Gewerkschaft in der 3. Person, begutachten die Taten
"ihrer" Führung, die sie aus der Zeitung erfahren, mit ebensoviel
Engagement wie alles, was sie aus der Zeitung erfahren - und sind
gerührt, wenn sie nach 50-jähriger Beitragszahlung von ihrem Vor-
sitzenden ein herzliches "Danke schön" zu hören bekommen. So ein-
verstanden mit dieser Gewerkschaft sind nur Arbeiter, die an ih-
rem Klassenstaat keine Kritik haben und sich durch ihre Ausbeu-
tung zu nichts anderem anspornen lassen als zu mehr Einsatz in
der Konkurrenz.
III
Der Geist der Intelligenz
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1. Von der Geistesfreiheit
--------------------------
Wie es sich für einen modernen Staat gehört, der für den Fort-
schritt seiner kapitalistischen Industrie Sorge trägt, unterhält
auch die BRD Universitäten, aus denen das naturwissenschaftliche
und technologische Wissen im richtigen Maß unter genug Leute
kommt. Daß brauchbares Wissen auf diesem Gebiet objektiv sein
muß, weil sich die Natur nicht nach Ideologien und nach der Bibel
richtet, ist zwar keine Entdeckung des Bundeskanzlers und der Un-
ternehmerverbände, aber irgendwie hat sich bis zu ihnen herumge-
sprochen, daß eine Beschränkung des Geistes durch irgendwelche
Vorschriften sich nur ungünstig auf die Brauchbarkeit der Ergeb-
nisse auswirken würde. Also ist die F r e i h e i t d e r
W i s s e n s c h a f t garantiert und die Wissenschaftler tun
für gutes Geld ihr Bestes.
Daß die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler gleich auch
noch mit der Freiheit bedacht worden sind, denken zu dürfen, was
ihnen einfällt - auch sie werden weder vom Parlament noch vom Bi-
schof zensiert -, ist allerhand. Immerhin geht der Staat damit
das Risiko ein, daß ein halber Berufsstand, den er dazu noch
selbst bezahlt, nichts anderes tut, als der wissenslustigen Ju-
gend die bürgerliche Produktionsweise, ihre politische Herrschaft
sowie deren Auswirkungen aufs Gemüt und die schönen Künste zu er-
klären. Doch auch in diesen Abteilungen enttäuschen ihn die Wis-
senschaftler nicht und tun für gutes Geld unser Bestes.
Ihnen ist sofort aufgefallen, daß ihr Auftrag unmöglich darin be-
stehen kann, für den Staat W i s s e n herbeizuschaffen. Was
sollte der mit Wissen über sich anstellen? Schließlich ist er
auch ohne wissenschaftliches Gutachten zustandegekommen und hält
sich ganz gut über Wasser, sogar unter Billigung seiner Unterta-
nen. So ist auch schnell Klarheit darüber vorhanden gewesen, daß
in den Betrachtungen des geistig-gesellschaftlichen Lebens ein
ganz anderes Vorgehen fällig ist, daß es einer eigenen L o g i k
d e r S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n bedarf, die sich
im Vergleich zu der von den naturwissenschaftlichen Kollegen ei-
nigermaßen bescheiden ausnimmt. Sie maßt sich erst gar nicht an,
die besichtigte Gesellschaft oder wenigstens eine Abteilung von
ihr zu erklären. Das verbietet doch - wenn schon nicht der Kanz-
ler - der G e g e n s t a n d. Soviel weiß man nämlich schon
über ihn und von Max Weber, aber auch von Habermas und dem Öster-
reicher, daß ein U r t e i l in Sachen Politik und Wirtschaft
immer ganz leicht in ein W e r t u r t e i l ausartet. Und
ebenso wie sich die Kollegen Naturwirte zurückhalten mit vor-
schneller Kritik an Bäumen und Sträuchern, sollten auch Staats-,
Volks- und Kunstwirte vorsichtig sein. Also lautet der Beschluß,
Werturteile wie das folgende etwa: "Die sozialstaatlichen Maßnah-
men der Regierung gelten der Brauchbarkeit der Klasse, die von
ihrer Arbeit fürs Kapital lebt - und diese Maßnahmen bekommen den
Angehörigen dieser Klasse nicht gut." lieber bleiben zu lassen;
dafür soll nur so Zeug zu Papier gebracht werden wie: "Am Sozial-
staat wird deutlich, daß die von Marx im 19. Jahrhundert nicht
ganz zu Unrecht gegeißelte Ausbeutung heute überwunden ist;
Gefahren allerdings gibt es auch in diesem Zusammenhang, weil das
Versorgungsdenken überhand nimmt und der Staat schier
zusammenbricht unter der Last der Ansprüche; außerdem erstickt
die Allgegenwart des Sozialstaats den Freiheitsspielraum der
Individuen." Und wenn dann doch, wie das mit dem Denken, auch dem
falschen, nun einmal ist; einige Behauptungen zustandekommen,
dann darf das schon wegen der Differenzen zwischen den
verschiedenen Gelehrten nicht mißverstanden werden, so - hätte
man eine "Lösung"! Was sich in diesem Bereich der Wissenschaft so
zusammenläppert an Aussagen, das sind äußerst r e l a t i v e,
eben immer durch ein I n t e r e s s e entstandene Theorien,
die nie mit dem Anspruch schwanger gehen, die Sache zu treffen.
So e i n f a c h wollen es sich die Wissenschaftler nicht
machen, und von daher wissen sie auch ganz genau, daß ihr
Gegenstand k o m p l e x ist und deshalb nicht nur eine Unzahl
von Behauptungen über sich e r m ö g l i c h t - er
v e r l a n g t geradezu aus seiner Natur heraus nach vielen
Urteilen, eben nach so vielen, wie es M e t h o d e n gibt, ihn
zu untersuchen. Wissenschaftlich gesprochen gehört sich ein
P l u r a l i s m u s, ein fruchtbares Vielerlei von Gedanken,
die aus ihrer Gegensätzlichkeit kein Aufhebens machen, sondern in
der Gewißheit ihres Urhebers, nur dies und nicht das andere sehen
und sagen zu wollen, Teil des großen Geschäfts Erkenntnis sind.
Immerhin sind sie nicht von einem Diktator aufgefordert worden,
gültige Erkenntnis abzuliefern. Im Auftrag der Demokratie ist es
nur billig, auch die Wissenschaft d e m o k r a t i s c h zu
betreiben. Denn wie es im Leben draußen ist, so hat es
billigerweise auch im Reich des Geistes zuzugehen - wo käme man
denn hin, wenn plötzlich einer daherkäme und wüßte, was Sache
ist!
So hat sich die Wissenschaft dazu durchgerungen, nichts mehr wis-
sen zu wollen und sich stattdessen lieber demokratischer Sitten
zu befleißigen; das P o l i t i s c h e daran ist, daß sie das
Ideal der Gewalt, die T o l e r a n z, zur Richtschnur des
theoetischen Fortschritts erklärt hat und gegenüber allen, die
diesem Kriterium akademischen Wohlverhaltens gegenüber nachlässig
werden, ein Ausschlußverfahren durchführt, das ganz ohne Widerle-
gung von Argumenten, die Schuldfrage löst. Das S c h ö n e für
die Wissenschaftler liegt allerdings darin, daß sie die ihnen ge-
währte F r e i h e i t d e r W i s s e n s c h a f t als die
F r e i h e i t d e s G e i s t e s praktizieren: wer
B e s c h e i d e n h e i t an den Tag legt und mit dem Bekennt-
nis zum dogmatischen Skeptizismus zeigt, daß er der Teilhabe an
der Abteilung "Geist" würdig ist, der darf sich dann dem
trostreichen Motto gemäß: "Es irrt der Mensch, solang' er strebt"
ans freie Konstruieren höheren Blödsinns machen. Die kundige Deu-
tung des staatlichen Gewährenlassens eröffnet einem Heer von Ge-
genaufklärern mit ihrer devoten Haltung gegenüber der M a c h t
das Reich der selbstzufriedenen Freiheit; ihren G e i s t kul-
tivieren Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler ohne jede Be-
schränkung, vor allem ohne jede Beschränkung durch die Gesetze
der Logik, weil sie ihn nur mit der Prämisse betätigen, daß er
der Sicherheit des Erkennens nie und nimmer fähig sei. Statt Wis-
sen zu erarbeiten, von dem sich noch allemal herausstellt, wozu
es taugt, verschreiben sie sich dem I d e a l der Nützlichkeit
ihres Denkens - denn für überflüssig mögen sie sich trotz aller
intellektueller Selbstbescheidung auch nicht halten. So gibt es
außer völlig versponnenen "Hypothesen" und "Modellen" auch noch
eine Diskussion über deren "Realismus", die natürlich die Frage,
worüber zu Recht hinweg- und wovon nur vorläufig abgesehen wurde,
auch nur aufwirft. Sogar über die mögliche A n w e n d-
b a r k e i t von Konstrukten wird verhandelt, deren die Wirk-
lichkeit noch lange nicht erreichender "Abstraktionsgrad" längst
offiziell von den Urhebern zu Protokoll gegeben worden ist - aber
im Irrealis kann ein Wissenschaftler schon einmal seinen
D i e n s t für "die" Gesellschaft oder auch ihre Opfer ins
Spiel bringen. Denn gerade der Gestus der "geistigen Ohnmacht"
läßt sich offenbar besser ertragen, wenn die Unbrauchbarkeit des
eigenen Zeugs um die A t t i t ü d e d e s D i e n e n s er-
gänzt wird. Daß es nur affirmativer I d e a l i s m u s ist;
was da zustandekommt, wenn Geistesriesen ihre Vermutungen über
die Interaktion und Kommunikation, über Kompetenz und Performs,
aber auch über die M ö g l i c h k e i t des Staates, des
Wachstums usw. zu ganzen Irrsinnssystemen aufblasen, die von sich
behaupten, vielleicht noch nicht einmal einen Gegenstand zu ha-
ben, weil sie nur Methode sind, verlangt ihnen immer wieder das
Bekenntnis ab, daß es sich immerhin um a f f i r m a t i v e n
Idealismus handelt. Ein Nutzen für die Welt, so wie sie ist, und
für die Interessen derer, die sich in ihr herumschlagen, ist zu-
mindest beabsichtigt - und diese Absicht trägt sich auch gut als
die Heuchelei vor, daß bisher noch nicht, aber künftig manch er-
sprießliche praktische Konsequenz fällig sei. Völlig absurd ist
angesichts solcher Leistungen auf dem Felde des Denkens die Un-
terscheidung in rechte und linke Denker - der Unterschied besteht
gar nicht in ihren Theorien, sondern in der P r ä t e n t i o n,
welche die Wissenschaftler dem verehrten Publikum vorstellig ma-
chen. Diese wird natürlich gepflegt, und zwar durch das Aufgrei-
fen von A n l ä s s e n, an denen sich die Theorien den An-
schein geben, ganz Aktuelles zu berühren und immer am Ball zu
sein. K o n j u n k t u r b e w u ß t s e i n h a b e n s i e
s c h o n, die Idealisten des eilfertigen Dienens - weshalb es
auch einen Zeitgeist gibt!
Der objektiven Funktion ihres Treibens tut die ganze Spinnerei im
übrigen überhaupt keinen Abbruch. Denn die liegt ja nicht darin,
auch nur irgendetwas aus der Welt von Staat und Kapital auf den
Begriff zu bringen - schon der L u x u s, die Freiheit der Kri-
terienlosigkeit, mit der an den deutschen Universitäten Gegen-
stände, ach nein, P r o b l e m e für untersuchenswert erachtet
werden, zeigt, daß solches nicht im Sinne des Erfinders und eben-
sowenig im Sinne der studierten Elite liegt. Der unbedingte
W i l l e z u r V e r s ö h n u n g mit der Gesellschaft, die
einen freundlicherweise zum Denken über sich abkommandiert hat,
exekutiert einen ganz anderen Zweck: der Demokratie samt ihren
Grundlagen wird der Schein verschafft, an ihr sei irgendwie doch
alles b e g r ü n d e t. Diesen Schein herzustellen, ist die
große Aufgabe der Intelligenz, und sie nimmt sie auch ernst, in-
dem sie ihre eingestandene Devotion, ihre Unsicherheit als über
die gewöhnliche Sicht der Dinge weit hinausgehenden Durchblick
durchaus zu verkaufen weiß. Den aus dieser Sphäre des freien Gei-
stes Ausgeschlossenen bleibt der Trost, daß es Leute mit
"Kompetenz" gibt in der deutschen Demokratie - und daß denen auch
nichts Besseres einfällt, wenngleich vieles, was man kaum ver-
steht. Dieser Wissenschaftsbetrieb ist einer Demokratie würdig,
die sich viel auf die Zustimmung des freien Willens auch derer
zugutehält, die nichts von ihr haben. Insofern der Schein, alles
hätte seine guten Gründe, für einen demokratischen Betrieb
Deutschlands n o t w e n d i g ist und in der Verteilung der
Individuen auf die verschiedenen Klassen über die Ausbildung, wo
es ebenfalls um "Wissen" geht, seinen festen Platz hat, wäre es
auch ungerecht, die Intelligenz p a r a s i t ä r zu schimpfen.
Daß es in Deutschland das Phänomen der "Wissenschaftsgläubigkeit"
gibt und im Werbefernsehen noch jeder Scheiß mit einem Dr. ange-
priesen wird, beweist doch, daß sie brauchbar sind, die Dichter
und Denker...
2. Ein Blick in die akademische Werkstatt
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verrät, daß die Auskünfte, die der bundesdeutsche Geist über die
Welt im allgemeinen und sein Heimatland im besonderen gibt, ganz
auf der Linie seiner freien Liebe zu seinem Gegenstand liegen und
entsprechend schwachsinnig ausfallen. So mag mitten im Modell
Deutschland keine Einführung in die
W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t auf alberne Ge-
schichten über Schiffbrüchige, die sich auf einer einsamen Insel
über die Verteilung der letzten Kekse und Zigaretten einigen müs-
sen, verzichten, um den gebildeten Verstand auf die Vorstellung
festzulegen, die Welt der Ökonomie sei im Grunde eine einzige ge-
waltige Anstrengung, durch so sinnreiche Erfindungen wie Tausch,
Geld und Produktion mit dem unauflöslichen Menschheitsproblem ei-
ner immerwährenden Knappheit an nützlichen Gütern, verglichen mit
den je unersättlicheren menschlichen Bedürfnissen, in möglichst
angenehmer und menschenfreundlicher Weise fertigzuwerden. Zwar
fördert noch jeder aus der eignen Anschauung geschöpfte Einfall,
der diese Vorstellung plausibel machen soll, deren genaues
Gegenteil zutage, die triviale Wahrheit nämlich, daß von
"Knappheit" im heutigen Kapitalismus überhaupt nur die Rede sein
kann als der Beschränkung individueller Bedürfnisse, die durch
den Preis der Waren, verglichen mit dem verfügbaren Einkommen,
g e s e t z t wird. Die Idiotie, alle ökonomischen Errungen-
schaften des Kapitalismus aus ihrem Nutzen für ein rein erfun-
denes Verteilungsproblem abzuleiten, taugt eben nicht einmal mehr
zu dem Zweck, den ihre Erfinder einst damit verfolgten, nämlich
zur ideologischen Propagierung einer Wirtschaftsweise, die sich
nichts als die Mehrung des Reichtums zum Zweck setzt. Der moderne
wirtschaftswissenschaftliche Geist läßt sich aber durch die
Absurdität der Fiktion, mit der er seine Theorie anheben läßt,
nicht im geringsten beirren. Im Gegenteil, er hat sich eine
methodologische Verabsolutierung seiner Knappheitsfiktion einfal-
len lassen, die den einfachsten Forderungen des Verstandes offen
Hohn spricht: Er läßt sein selbsterfundenes "Grundproblem allen
Wirtschaftens" gar nicht als Wahrheit über wirkliche Verhältnisse
gelten - die als dann mit Spekulationen über subjektive Wertprä-
ferenzen und objektiven Grenznutzen "nachzuweisen" wären -, son-
dern präsentiert sie als theoretische Setzung, die die wunder-
schönen Gleichgewichtsmodelle der Wirtschaft, zu denen er sich
von da aus aufschwingt, nicht etwa von vornherein desavouiert,
sondern ganz umgekehrt dadurch g e r e c h t f e r t i g t und
wissenschaftlich b e s t ä t i g t sein soll, daß sie für einen
so gelungenen F o r t g a n g der Theorie zu g e b r a u-
c h e n ist. Der tatsächliche Fortgang der Theorie sieht natür-
lich entsprechend aus: Immer getreu der zum methodischen Prinzip
verhimmelten ideologischen Fiktion, alles, was es im Kapitalismus
gibt, sei nichts als ein sinnreicher Beitrag zur Lösung von
"Problemen" des Wirtschaftens, erdenkt sie sich zu jedem ihrer
Gegenstände eine mathematisch blitzsaubere und immer sehr
komplexe Ungleichung, die durch den zu erklärenden Gegenstand zu
einer einwandfreien Gleichung wird - und fertig ist dessen
Erklärung. Daß nichts in der Welt des ökonomischen Nutzens, noch
nicht einmal das gelungene Wachstum des bundesdeutschen Kapitals,
seine Bestimmung darin hat, zu einem vielseitigen wirt-
schaftlichen Gleichgewicht beizutragen, jedes wirtschaftswissen-
schaftliche Modell sich also schon am Augenschein der tatsächli-
chen Verhältnisse blamiert, bereitet dem modernen Geist wiederum
keinen Verdruß. In seiner undogmatischen Art will er sein Modell
gar nicht verstanden haben als Begriff dessen, was und wie es
i s t, sondern als bloßes Hilfsmittel, um jener Instanz, die auf
ihre Weise praktische Probleme mit dem Funktionieren der Volks-
wirtschaft hat, mit sachverständigen Ratschlägen zur Seite zu
stehen. Auch hier hat der freie zeitgenössische Geist keinerlei
Skrupel der Art, der zugestandenermaßen fiktive Charakter seiner
ökonomischen Modelle möchte die Richtigkeit der mit ihrer Hilfe
erdachten praktischen Hinweise in Frage stellen, sondern denkt
genau andersherum: Weil seine Modelle sich so trefflich dazu eig-
nen, dem Zweck und den Idealen staatlicher Konjunkturpolitik
einen überaus gelehrten Ausdruck zu geben, gelten sie ihm als be-
währte Instrumente einer realitätsgerechten, praxisnahen, nützli-
chen Wissenschaft. Er entnimmt ihnen die Gewißheit, daß in einer
Volkswirtschaft alles eine Funktion von allem ist, erlaubt sich
vom beobachteten Gang der Konkurrenz aus Mutmaßungen über deren
zukünftige Erfolge - und ist nicht einmal enttäuscht, wenn seine
Prognosen noch weiter daneben liegen als die der Regierung, die
er beraten wollte. Denn dafür hat er noch ein letztes Mal seine
alte Entschuldigung parat: Die Wahrheit über die bundesdeutsche
Ökonomie sollten seine sachverständigen Ratschläge an die Regie-
rung ja gar nicht sein, sondern nicht mehr und nicht weniger als
O r i e n t i e r u n g s h i l f e n für die Praktiker, die
letztendlich selber wissen müssen, welche Ziele sie unter welchen
Bedingungen anstreben möchten - denn letztendlich beruht doch al-
les auf den letztendlich nicht völlig berechenbaren Entscheidun-
gen der vielen Millionen wirtschaftender Subjekte, welche erfolg-
reich zu lenken letztendlich dem ebenso unergründlichen Genius
der Politiker überlassen bleiben muß. Mit Bekenntnissen dieser
Art zur Unmöglichkeit richtiger Erkenntnisse über den wirklichen
Lauf der Welt beweist die moderne Wirtschaftswissenschaft, die
angetreten war, die Wirtschaft der BRD als eine besonders kom-
plexe Robinsonade zu erklären und ihr die Zukunft zu weisen, sich
und der Welt ihren unerschütterlichen Realismus, damit natürlich
vor allem umgekehrt die Unerschütterlichkeit ihrer theoretischen
Leistungen, und deutet so selber die Botschaft, die sie der Welt
hat bringen wollen: Sie wollte doch "nur" - das allerdings sehr
ausgedehnt und nachdrücklich - darauf aufmerksam machen, daß man
die Welt - und die BRD inmitten - sehr gut unter wirtschaftswis-
senschaftlichen Gesichtspunkten, also so betrachten und begutach-
ten kann, a l s o b sie die Lösung eines höchst komplizierten
Knappheits- und Verteilungsproblems wäre; und damit sollte über
die Realität nichts weiter behauptet sein als eben dies: daß sie
sich, wenn man es so will, durchaus so v e r s t e h e n
l ä ß t. Moderner volkswirtschaftlicher Geist fühlt sich deswe-
gen sogar gedrängt, diese Betrachtungsweise - eben weil sie ihm
so gut gefällt - auf alle möglichen Gegenstände anzuwenden, die
normalerweise niemand zur Welt der harten ökonomischen Tatsachen
rechnen würde: wenn man will, läßt das Schul- und Bildungswesen
sich ebensogut als ein Problem des Nutzenoptimumsbetrachten, de-
mokratische Wahlen auch, überhaupt die ganze Politik und warum
eigentlich nicht auch - die Wissenschaft selbst? Über die Erklä-
rung der kapitalistischen Ökonomie ist der moderne Geist in sei-
ner volkswirtschaftlichen Ausprägung jedenfalls weit hinaus: er
ist fortgeschritten zu einer M a n i e r, die W e l t
i n s g e s a m t menschlich v e r s t ä n d l i c h zu machen
- undogmatisch, versteht sich: als freibleibendes A n g e b o t.
Wo schon die materialistischste unter den bürgerlichen Wissen-
schaften sich selbst als Angebot zu einer philosophischen Sinn-
stiftung präsentiert, da steht der moderne Geist in seinen ande-
ren Disziplinen nicht zurück in der Kunst, die wissenschaftliche
Behandlung eines Gegenstandes durch die gefällige Ausarbeitung
einer Betrachtungsweise für alles und jedes zu ersetzen.
P o l i t o l o g i s c h e Analysen der Bundesrepublik etwa be-
ginnen weder mit einer Untersuchung des öffentlichen und politi-
schen Lebens in diesem Staat noch mit der Darstellung des Ergeb-
nisses einer derartigen Untersuchung, sondern mit der Frage nach
der Fragestellung, vermittels derer man sich dieses Gegenstandes
annehmen sollte: normativ oder empirisch-analytisch? idealtypi-
sierend oder systemvergleichend? historisch oder systemtheore-
tisch? unter dem Gesichtspunkt der "Loyalitätsbeschaffung" oder
der "öffentlichen Daseinsvorsorge"? In jedem Falle steht, wie
beim Ökonomen die Robinsonade, so beim Politologen, der in eine
dieser Alternativen gekleidete Entschluß am Anfang, das bundes-
deutsche Staatswesen auf ein vorgestelltes, überaus grundsätzli-
ches Ordnungsproblem zu beziehen, zu dessen Lösung es gemacht
sei. Dicht vor dem Jahr 2000, in einer Zeit, wo schon die
"Kinderkrippen" staatliche Einrichtungen sind, wärmt eine ganze,
sehr bedeutende Schule in der bundesdeutschen Politologie noch
immer in jeder "Einführung ins Fach" die alten Ammenmärchen von
der natürlicherweise höchst ordnungsfeindlichen "Bestie Mensch"
wieder auf - ungerührt davon, daß heute, in einer total durchpo-
litisierten Gesellschaft diesem Märchen noch der letzte Rest po-
lemischer Ernsthaftigkeit abhanden gekommen ist, den es immerhin
noch besaß, als ein Thomas Hobbes sich für die
D u r c h s e t z u n g der Prinzipien des bürgerlichen Rechts-
staates stark machte. Aber auf die Glaubwürdigkeit dieses
"anthropologischen" Märchens kommt es der modernen Politologie
auch gar nicht weiter an: wichtig ist es nur - und deswegen in
aufgeklärten Politologenzirkeln auch entbehrlich - als Einstieg
in den politologischen Grund- und Hauptgedanken, den Staat als
sinnreiches System demokratischer Ordnungsstiftung aufzufassen.
Von da ab stellt der Politologe die politische Welt konsequent
auf den Kopf: Was immer die bundesdeutschen Parteien und Regie-
rungen. sich einfallen lassen und praktizieren, um ihre Bürger
wirksam für die Mehrung staatlicher Macht in Anspruch zu nehmen
und die eigene Souveränität weltweit zu behaupten, wird bespro-
chen als - je nach politischer Einstellung des Interpreten - mehr
oder weniger gelungenes Bemühen um eine menschenwürdige Ordnung
und deren Sicherung - vor allem gegen die verständnislosen Unter-
tanen, die deswegen in manchen politologischen Analysen zu einem
"Gefahrenmoment" - avancieren, von dem die politische Praxis sich
nichts träumen läßt! -; und was immer die Bürger an moralischen
und patriotischen Wahnsinnstaten vollbringen, um mit ihrer Herr-
schaft einig zu bleiben, wird in demokratische Qualitäten und un-
demokratische Mängel des bestehenden "Ordnungssystems" auseinan-
dersortiert. Vom Resultat solcher Analyse - mal mehr eine Helden-
sage vom Kampf verantwortlicher Demokraten gegen ein faschisti-
sches "Erbe" und linke Umtriebe (Sontheimer), mal mehr ein mit
bundesdeutschem Material ausgemaltes Bilderbuch einer wohlgeord-
neten Ordnung und ihrer vorgeblichen Schwierigkeiten mit der Un-
ordnung (Ellwein) - gesteht die Politologie selber ein, daß es
sich um eine idyllische Fiktion handelt, mit dem eindringlichen
Hinweis nämlich, daß schon ein politologisches I n s t u-
m e n t a r i u m dazu gehört, die politische Welt so zu sehen.
An handfesten Ratschlägen für die Praxis läßt die Theorie es
dennoch nicht fehlen: Wenn sie sich einmal entschlossen hat,
Herrschaft idealistisch als Ordnungsstreben zu betrachten, dann
zerfällt ihr eben auch die beherrschte Menschheit ebenso
idealistisch nicht etwa in Nutznießer, Opfer und Gegner der Herr-
schaft, sondern in Freunde und Feinde der Ordnung; dann entschei-
det sich die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kategorie am
nachprüfbaren Maß freudiger Zustimmung zu den Prinzipien der Ord-
nung; und dann steht immerzu ein Kampf gegen die Lauheit und ein
Vernichtungskampf gegen unsolidarische Kritiker des Gemeinwesens
auf dem Programm. Dem fortgeschrittensten politologischen Zeit-
geist macht da schon der Anschein von Intellektualität einen Men-
schen verdächtig, ganz einfach weil Gegnerschaft gegen herr-
schende Verhältnisse, so wenig sie das Geschäft bundesdeutscher
Intellektueller tatsächlich ist, doch um die Benutzung des Intel-
lekts nicht herumkommt - "dann schon lieber gar keine Intellektu-
ellen", genauer: "Kein Futter für Giftnattern" (Sontheimer), lau-
tet da die Devise eines politologisch gebildeten Intellektuellen
in einer Zeit, wo die politische Herrschaft eben weder bei ihren
Massen noch bei ihrer intellektuellen Elite auf Opposition oder
Abneigung stößt. Darum ist aber nicht einmal dieser Ratschlag für
die Praktiker der Politik etwas wert: die Kriterien für Berufs-
verbote entnehmen sie "Erkenntnissen" anderer Art. So bleibt nur
das Wohlwollen einem wissenschaftlichen Geist gegenüber, der mit
solcher Entschiedenheit seine Reinigung von kritischen Elementen
betreibt. Gerade wo er praktisch wirksam werden will erweist der
politologische S a c h v e r s t a n d sich als die blanke Ent-
schlossenheit des Geistes, mit der offenkundig absurden Erfindung
schlimmster Gefahren für den Bestand der Herrschaft und mit eif-
rigem Bemühen um Rezepte gegen diese "Gefahren" der Herrschaft
sein Einverständnis abzustatten: S i c h s e l b s t macht der
Geist als politologischer die Vorschrift, sich immerzu - und sei
es um die Demokratie bestellt, wie es will - um das Gelingen der
Herrschaft die brennendsten S o r g e n zu machen.
Überhaupt nicht anders geht es zu, wenn die bundesdeutsche Wis-
senschaft ihre Aufmerksamkeit den Subjekten des fröhlichen demo-
kratischen und ökonomischen Treibens zuwendet. Die
P s y c h o l o g i e steht nicht an, jeden guten Deutschen zu
einem seelischen Krüppel zu erklären - aber nicht etwa, weil sie
einen Begriff von der Verrücktheit der Anstrengungen hätte, die
heutzutage nötig sind, aber auch lässig gebracht werden, um dem
eigenen Dasein und seinen Verlaufsformen moralisch die Treue zu
halten. Ihre Robinsonade besteht in einem Menschenbild, wonach
ein "Ich" sein Leben lang genaugenommen mit nichts anderem als
damit zu tun hat, die Begierden eines ihm irgendwie zugehörigen
"Es" und die Vorschriften eines irgendwie in ihn hineinregieren-
den "Über-Ichs" so zu vereinbaren, daß keiner von den dreien zu
kurz kommt und das "Unbewußte", das auch irgendwie dazugehört,
nicht vor lauter "Verdrängtem" überfließt; oder wenn es eine an-
dere Schule sein soll, dann hat die psychologische Forschung eine
pechschwarze "black box" zum Gegenstand, die je nach den Voraus-
setzungen, die sie mitbringt, und je nach den Umständen auf
"Reize" mal die gewünschten, mal unerwünschte "Reaktionen" an den
Tag legt. Ob der normale Bundesbürger tatsächlich mehr das eine
oder mehr das andere ist, gilt dem psychologischen Geist, so sehr
er sich einerseits mit sich um seine diversen "Ansätze" streitet,
andererseits insofern ziemlich gleich, als es ihm sowieso haupt-
sächlich darauf ankommt, wann immer einen Menschen etwas stört
oder er die Ordnung stört, i h n s e l b s t als die Quelle
der einen wie der anderen Sorte Störung zu diagnostizieren; und
für solche Diagnosen ist es wirklich egal, ob die wissenschaftli-
che Phantasie sich in die "black box" noch eine Dreifaltigkeit
von Es, Ich und Über-Ich hineinmalt oder nicht. Wann immer dann
z.B. jemand eine Leistung nicht zustandebringt. die er sich vor-
genommen hat, so ist der Psychologe mit dem Urteil bei der Hand,
der Betreffende habe dann ja wohl n i c h t energisch und aus-
schließlich genug g e w o l l t: auf Grund irgendwelcher
Selbstentzweiungen in seinem Innern habe ihm die "Leistungs-
motivation" gefehlt. Bricht ein Mensch unter den Leistungen, die
er sich immerzu abverlangt, zusammen, dann teilt der Psychologe
ihm mit, daß sein "seelischer Haushalt" für derlei Anspannungen
nicht gemacht sei: auch in diesem Falle hat dem Willen seine
innere Einigkeit mit sich gefehlt, so daß er nicht gemerkt hat,
ab wann er sich selbst ü b e r s c h ä t z t hat. Beklagt sich
einer über die Widrigkeiten seines Lebens, so bekommt er von
seinem Psychologen die Auskunft, er sei "frustriert" - was so
viel sagen will wie: er habe zum Gegenstand seines Ärgers noch
nicht die richtige, nämlich eine solche E i n s t e l l u n g
gefunden, die ihn diesen gelassen ertragen läßt. Und äußert wo-
möglich jemand Angst, wozu es in der BRD wahrlich Anlässe genug
gibt - sei es vor Prüfungen, der Schule oder dem Vorgesetzten,
sei es vor Arbeitslosigkeit, Krieg oder deren Machern -, dann hat
er sich damit, psychologisch betrachtet, als ein
a n g s t a n f ä l l i g e r Typ entlarvt, und es hebt ein mun-
terer Streit darüber an, ob seine Ängstlichkeit aus dem Verlust
des Urvertrauens in der pränatalen Phase, aus allzuvielen Ver-
stärkungen des Angstfaktors im Laufe seines Lebens ("Belohnung
von Angstsymptomen") oder gar daraus zu erklären ist,- daß er
sich im Sinne seiner gottlosen Zivilisation für allmächtig hält
und diesen Glauben gefährdet sieht - so der Heuss-Preisträger H.
E. Richter, der sogar F. J. Strauß p o l i t i s c h e Taten
mit p s y c h o l o g i s c h e n Urteilen zu messen versteht.
Das ist die modernste aller Kammerdienerperspektiven! Alle diese
Phantastereien sollen dem Menschen von heute h e l f e n - und
sie können sogar auch darauf rechnen, von den Betroffenen ernst
genommen zu werden: Sich selbst an dem höheren Gesichtspunkt der
Funktionalität fürs (Ganze zu messen; eigene Ansprüche für eine
Störung zu erachten, oder jedenfalls für ein gewagtes Unterfan-
gen, auf das man sich erst dadurch ein Recht erwirbt, daß man den
wichtigsten Teil der eigenen Selbstverwirklichung in den Verzicht
auf "übertriebene" Begierden setzt; also: den eigenen Willen we-
der zu behaupten noch zu kritisieren, sondern zu
r e l a t i v i e r e n, das ist ja für einen politisierten Men-
schen alltägliche Übung, und deswegen leuchtet ihm prinzipiell
jeder psychologische Einfall ein. Das heißt aber eben nichts an-
deres, als daß die Psychologie die Analyse der Psyche - im allge-
meinen wie im Kapitalismus - durch eine gelehrte Besprechung des
Menschendaseins vom Standpunkt des politisierten Alltagsverstan-
des aus erfolgreich ersetzt hat. Als Theorie und Technik der
Selbstbeherrschung sticht sie die überkommene Seelsorge aus, weil
ihr mit dem Anspruch auf die herzustellende F u n k t i o-
n a l i t ä t, die im Individuum selbst ihren Maßstab hat, das
Odium der moralischen Unterweisung nicht anhängt. Dabei will die
moderne Psychologie selbst gar nicht für etwas anderes als eine
sehr produktive fixe Idee genommen werden. Sie setzt ihren Stolz
darein, für alle Gegenstände der Welt zuständig zu sein -
inzwischen gibt es Psychologien der Kunst, der Politik, des
Sports, des Wohnens, wovon eigentlich nicht? -, bescheidet sich
dafür damit, dies alles eben nur unter "psychologischen Aspekten"
zu analysieren, und ringt inzwischen mit der Frage, ob sie, als
Fach genommen, überhaupt einen bestimmten Gegenstand hat und sich
nicht vielmehr i h r e n wissenschaftlichen Gegenstand
überhaupt erst erschafft, indem sie über was auch immer
p s y c h o l o g i s c h nachdenkt - eine Frage, die sie nur
hat, weil sie sich längst voll Stolz zu einem Selbstbewußtsein
durchgerungen hat, dem menschlichen Geist gewisse A s p e k t e
e r s c h l i e ß e n zu wollen.
Und so geht es weiter in der Welt der Wissenschaft. Entschließt
der Geist sich dazu, die Menschheit s o z i a l i s a t i o n s-
t h e o r e t i s c h zu betrachten, so ist alles, was es in der
BRD gibt, für ihn ein Beitrag dazu, daß die Individuen sich
besser oder schlechter in "die Gesellschaft" fügen, sei es nun
der Beruf des Vaters, die Aussprache des Lehrers, die Reklame für
Motorräder oder das Gefängnis; womit natürlich weiter nichts
gesagt sein soll, als daß man alle diese schönen Dinge eben auch
so sehen kann. Mag der Geist es r o l l e n t h e o r e-
t i s c h, so heftet er an alles, was die Leute treiben, das
Urteil, daß es sich dabei um die Vollführung einer Rolle handle,
und damit die "Interpretation" dieses Treibens als die Exekution
eines vom Willen und den Zwecken seiner Agenten ziemlich
unabhängigen Sinnzusammenhangs, wo eins das andere erfordert eine
freibleibende Deutung selbstverständlich, denn vielleicht
verliebt er sich schon im nächsten Moment in den "labeling
approach" und behauptet über alles, was ihm eben noch als "Rolle"
galt, alles Bestimmte daran sei doch bloß das zusammengefaßte
Urteil anderer über einen Menschen.
Er kann sich aber auch gleich ohne Umschweife zum Prinzip aller
soziologischen Ansätze bekennen und die Abstraktion eines gesell-
schaftlichen "Zusammenhangs schlechthin " entdecken. Dann gerät
ihm die wirkliche Welt des bundesrepublikanischen Kapitalismus zu
einer Sammlung von Beispielen für den Systemcharakter d e r Ge-
sellschaft, und diesen Katalog benützt er zum Appell an die Vor-
stellungskraft seiner Leser und Hörer, so daß der
S y s t e m t h e o r i e der Anschein der Plausibilität nicht
fehlt. Sehr konsequent entwickelt sich dieses Denken fort zur
Frage nach der S t r u k t u r des Systems und entwickelt eine
ganze Welt von Elementen, die ziemlich strukturbildende Eigen-
schaften aufweisen und so für die Stabilität des Systems durch
ihre F u n k t i o n geradestehen. Der Vorzug dieses Karussells
von Kategorien besteht darin, daß es nicht nur als Theorie der
Gesellschaft, als S o z i o l o g i e betrieben werden kann,
sondern auf jeden Gegenstand, weil auf keinen, paßt. Der
S t r u k t u r a l i s m u s ist aus einem linguistischen Ein-
fall zu einer Mode und zu einem bleibenden wissenschaftlichen
"Ansatz" gediehen, mit dem sich noch manche schöne Habilitations-
schrift auseinandersetzen kann. Verschlägt es den wissenschaftli-
chen Geist heute in die L i n g u i s t i k, so entschließt er
sich, unbekümmert um jegliche Alltagserfahrung und sogar um den
Tatbestand, daß Dozent und Student sich ausgezeichnet zu verste-
hen pflegen, zu der gelehrten Auffassung, im Grunde sei die
"Kommunikation", die "sprachliche" zumal, ein noch völlig ungelö-
stes Problem und die so schön funktionierende BRD ein einziger
Turmbau zu Babel, dessen Fortbestand trotz totaler Sprachver-
wirrtheit eigentlich ein völliges Rätsel ist. Eine Abteilung wei-
ter ist nicht die Uneindeutigkeit der Sprache das Hauptproblem
der Menschheit, sondern die BRD und überhaupt die ganze Welt la-
boriert daran herum, daß die Prinzipien der Arterhaltung beim
Menschen noch zu tierisch funktionieren, deswegen nicht so recht
zur Entdeckung der Kernspaltung passen und gemäß den Ratschlägen
der E t h o l o g i e gewaltsam durch neue Formen der Unterord-
nung des einzelnen unter das Ganze zu ersetzen sind. Unter dem
Stichwort 'Kindererziehung' sind in der Pädagogik Stories über
den Säugling als lebensuntüchigen Nestflüchter fällig, der deswe-
gen um seiner selbst willen nach all den Ein- und Zurichtungen
verlangt, mit denen die bürgerliche Gesellschaft ihren Nachwuchs
auf ihre Zwecke festlegt - ein Gesichtspunkt, der sich in man-
cherlei Abwandlungen nicht nur auf Lernen und Gehorchen von Kin-
dern anwenden läßt, sondern ebensogut auf Ausgeflippte (= Sozial-
pädagogik), Rentner (= Altenpädagogik), die Freizeit (= Freizeit-
pädagogik), die Arbeitszeit (= Betriebspädagogik)... Nur zu ver-
ständlich, daß da am Ende auch die B e t r i e b s w i r t-
s c h a f t s l e h r e nicht bei dem trockenen Geschäft bleiben
mag, die Weisheiten und Schlauheiten erfolgreichen Konkurrierens
zu sammeln und durchzuexerzieren: als "e n t s c h e i-
d u n g s o r i e n t i e r t e BWL" gestaltet sie ihre idyl-
lischen Vorstellungen über die Konkurrenz der Kapitalisten, die
sie für ein unablässiges Bemühen um eine gelingende betriebliche
wie überbetriebliche Ordnung hält; ihre entsprechenden Vorschläge
leitet sie konsequent aus sehr prinzipiellen Erwägungen über die
Schwierigkeiten und Komplikationen menschlicher "Entschei-
dungsprozesse schlechthin" ab und gefällt sich darin, den
Betriebswirten ihr Metier als eine "ganze Menschenwelt in der
Nußschale" - und der Menschheit, soweit sie es hören will, die
Welt als eine einzige große Betriebswirtschaft aus lauter kleinen
"Entscheidungsprozessen" - auszudeuten.
Für den modernen wissenschaftlichen Zeitgeist ist es unerheblich,
mit welchen Gegenständen er sich gerade beschäftigt. Den Bestim-
mungen der diversen Gegenstände entnimmt er allemal nur Anhalts-
punkte, um sich in seiner wohlgenützten Freiheit diverse Betrach-
tungsweisen für die Welt im Ganzen zuzulegen; die Verschiedenheit
der zu erklärenden Gegenstände hat er erfolgreich aufgelöst in
eine Konkurrenz alternativer Weltanschauungen, die nur noch in
ihrem Namen mit dem Gegenstand verknüpft sind, von dessen ideolo-
gischer Betrachtung sie ausgegangen sind - früher einmal -, und
an dem sie sich noch heute v o r z u g s w e i s e betätigen.
Auf welche dieser Betrachtungsweisen der forschende Geist sich
verlegt, ist für den Zweck der ganzen Veranstaltung ebenfalls un-
erheblich: Jede Disziplin gibt dem modernen Verstand die nötigen
Instrumente an die Hand, um sich ein B i l d von der W e l t
zu machen, sich dabei als wissenschaftlich überlegener Durch-
schauer der wirklichen Welt vorzukommen, zu schlauen Ratschlägen
an die Adresse von jedermann, vor allem aber der obersten Macher
überzugehen, die die praktische Wichtigkeit des jeweiligen Meters
beweisen sollen. Im selben Atemzug werden Durchblick und
Ratschlag als bloße Deutungsvorschläge deklariert, mit denen man
sich der Welt gegenüber natürlich keinerlei praktische Autorität
anmaßen wollte, - und bei alledem pflegt man von sich die gute
Meinung zu behalten und zu verbreiten, exakt so gehe wissen-
schaftliches Denken. Die Konkurrenz der Einzeldisziplinen ist so
zwar von tiefster wechselseitiger V e r a c h t u n g getragen,
da nämlich jede ihren Durchblick für den entweder tiefsten oder
exaktesten oder umfassendsten oder realistischsten oder... sonst-
wie hervorragendsten und auf jeden Fall allernützlichsten hält;
sie ist dabei - und ebendeswegen - aber auch eine sehr friedliche
Angelegenheit, weil von vornherein kein Wissenschaftler auf die
Idee kommt, den Spleen des anderen womöglich als fehlerhaften Un-
sinn anzugreifen: solche Polemik ist ausgestorben. Es beseelt ja
doch alle der eine Geist bescheidener Aussöhnung des Geistes mit
Verhältnissen, deren Geistlosigkeit sich gerade darin behauptet,
ihm alle Freiheit zu lassen - vorausgesetzt, er weiß sie zu nut-
zen!
Wo so der wissenschaftliche Verstand in allen seinen Disziplinen
seine Ehre darein setzt, der Wirklichkeit mit philosophischer
Sinndeutung lauter freundliche, Einverständnis erheischende
Aspekte abzugewinnen; wo sogar die trockensten Abteilungen der
Wirtschaftswissenschaft nicht nur nach amerikanischem Vorbild von
den Machenschaften eines Managements als einer "Unternehmens-
philosophie" sprechen, sondern die geistige Sinngebung in einer
und für eine Welt der harten ökonomischen Fakten zu ihrem
Anliegen machen und sich sogar dazu bekennen; da bleibt natürlich
auch die P h i l o s o p h i e selbst nicht unberührt abseits,
sondern kommt ganz neu zu Ehren. In ihr faßt sich nämlich der
moderne wissenschaftliche Geist in der Weise zu seinem Inbegriff
zusammen, daß er für die Propagierung versöhnlicher Weltsichten
den S c h e i n d e r S a c h k e n n t n i s, der ihm in
seinen Unterdisziplinen immer noch anhaftet, fahren läßt und
seinen Z w e c k zu seinem T h e m a macht: als Sittenlehre
fürs Denken und Methodologie fürs Mensch-Sein. Zugearbeitet haben
ihr in letzterer Abteilung die Einzelwissenschaften, die ihre
erfundenen Gesetzmäßigkeiten als "Grundkonstanten" m e n s c h-
l i c h e r N a t u r überhaupt zu deduzieren pflegen: zum
Vollzieher der Knappheit, dem "homo oeconomicus" gesellt sich als
der natürliche Vollstrecker soziologischer Fehler der "homo
sociologicus", dem ein Wesen namens "zoon politikon" auf dem Fuße
folgt...
Die bundesdeutsche Philosophie sieht hier ihre vornehmste Aufgabe
darin, den Menschen die Schwierigkeiten, die ihnen zu schaffen
machen, nicht etwa zu erklären, sondern ihnen weiszumachen, in
Wahrheit stünden darin "Grundproblematiken" auf dem Spiel, von
denen sie sich nie etwas hätten träumen lassen, - die nämlich
nichts Geringeres zum Inhalt hätten als den S i n n d e s
D a s e i n s - und nicht einmal bloß den des eigenen. Überlegt
ein normaler Mensch sich vor dem Weihnachtsfest die Alternativen
seiner Armut - Truthahn oder Skischuhe, oder beides auf Pump? -,
so finden sich haufenweise deutsche Philosophen, die die tief-
gründige Frage "Können wir (nämlich: als 'moderne Menschen')
überhaupt noch Feste feiern?" nicht bloß überhaupt, sondern
gleich noch in den großen Bogen von den sagenhaften Götterfesten
der alten Griechen bis zur verlorengegangenen Innigkeit so man-
cher Kriegsweihnacht hinein - stellen und Hinweise aufs Transzen-
dente durchblicken lassen. Entdeckt ein ganzer fortschrittlicher
Industriezweig die Computertechnik als Mittel, wenige Arbeits-
kräfte die Arbeit vieler ehemaliger Kollegen miterledigen zu las-
sen, und wendet sie entsprechend an, so entdeckt der philoso-
phisch geschulte Kopf nicht bloß ein neues Beispiel für die Ent-
menschlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen - über soviel
Philosophie verfügt heute schon jeder Gewerkschaftsfunktionär -,
sondern sieht mindestens das angebliche Herrschaftsstreben des
menschlichen Verstandes in einer Sackgasse angekommen, die ari-
stotelische Unterscheidung von "praxis" und "techne" neu aktuali-
siert, wenn nicht Schlimmeres. Und wo philosophisch fixe Partei-
ideologen angesichts des "Modell Deutschland" und der Kanzler-
schaft eines Schmidt die Alternative "Freiheit oder Sozialismus"
aufwerfen - und jeder weiß, wie es gemeint ist! -, da behauptet
ein moderner Philosoph überhaupt bei jeder Gelegenheit, gerade da
stünde die Menschheit vor einem bedeutenden Scheideweg zwischen
Plotin, Gnosis und dem Göttlichkeitsstreben der hybriden men-
schlichen Vernunft hie, dem heiligen Thomas, dem Glauben an die
"materia prima" und den Tugenden der "kritischen Vernunft" da.
Keine praktische Schwierigkeit, kein theoretisches Problem, noch
nicht einmal ein ideologischer Streitpunkt in oder zwischen den
einzelwissenschaftlichen Disziplinen des Geistes bleibt, was er
ist, sondern wird von professionellen Philosophen in eine "letzte
Frage" übersetzt; und bei allem Erfindungsreichtum ist das
P r i n z i p a l l e r derartigen Übersetzungen stets dasselbe
und erschütternd simpel: Als die "eigentliche" W a h r h e i t
noch seiner schlichtesten Entscheidung bürdet die Philosophie je-
dermann theoretisch eine unbedingte V e r a n t w o r t u n g
für "Menschheitsfragen" auf, deren ganzer Reiz darin besteht, daß
"jedermann" von ihnen ganz bestimmt k e i n e A h n u n g hat.
Nichts wäre für einen philosophisch ausgebildeten Kopf fataler,
als wenn die tiefsinnige Kontroverse, die er sich als den wahren
Inhalt des Weltenlaufs ausgedacht hat - "Die offene Gesellschaft
und ihre Feinde" von Platon über Marx bis Habermas; Seinsgeschick
contra Zeughaftigkeit; das (!) Sein des Seienden oder "Ich und
Du" (oder vielmehr 'Du und Ich'?) -, im Publikum nicht ehr-
fürchtigem Staunen, sondern der Antwort begegnen würde: "Genau so
habe ich es mir auch schon immer gedacht!" Denn genau das ist ja
die Bedingung, unter der allein ein Gedanke als philosophischer
akzeptabel ist: daß er an P r o b l e m b e w u ß t s e i n die
Einfälle des normalen Verstandes weit überragt - auch wenn er
sich mit diesen im Ergebnis gerne trifft (das beweist nämlich die
R e a l i t ä t s t ü c h t i g k e i t des philosophischen Ge-
dankens!). Als philosophischer ist der wissenschaftliche Geist
der Inbegriff einzelwissenschaftlicher Weltbetrachtung eben
darin, daß er die A t t i t ü d e d e s D u r c h b l i c k s
und des 'Dahinter-Schauens' rein für sich und über jeden bestimm-
ten Sachverhalt hinaus kultiviert. Die "Robinsonade" der Philoso-
phie ist die abstrakte und deswegen auch so vielfältig ausmalbare
- Lüge, d a s Dasein, d i e Menschheitsgeschichte oder gar
die Welt als ganze hätten letztendlich e i n e n S i n n; eine
Lüge, die sich gar nicht anders vortragen kann als so, daß blan-
ker Unsinn mit der Miene des Tiefsinns vorgetragen wird.
Dabei hält der moderne bundesdeutsche Geist sich auch hier be-
wußt, daß es auf den I n h a l t seiner philosophischen Sagen
über "ein Letztes" gar nicht weiter ankommt. Heutigen Philosophen
genügt es vollauf, in der Art ihrer Problemstellung miteinander
so einig zu sein, daß sie mit der Erfindung je problembewußterer
Problemstellungen ihre Konkurrenz untereinander austragen können.
Insbesondere reicht diese Einstellung allemal aus, die Welt mit
philosophischen "Sachverständigengutachten" zur Lage der Zeit und
dem, was gerade nottut, zu beglücken, sobald der philosophische
Geist sich zu einer "praxisrelevanten" Nutzanwendung seines Trei-
bens gedrängt fühlt. Seine Diagnose heißt stets, abstrakt und
schlicht: Es f e h l t den Menschen an dem, wodurch der philo-
sophische Geist sich auszeichnet, nämlich an Selbstreflexion und
Problembewußtsein. Denn immer hat heutige Philosophie die norma-
len Leute ja - ausdrücklich oder implizit - als welche vorge-
stellt, die i h r e n tieferen Sinn und höheren Zweck unverant-
wortlicherweise nicht wissen und nicht respektieren; und aus ei-
ner solchen Diagnose folgt nicht, daß sie ihn schleunigst zu er-
fahren hätten - dann wäre er ja nicht mehr das, worum es
"eigentlich" geht, weil das weiß ja bloß der Philosoph! -, son-
dern daß sie sich zur abstrakten Vorstellung irgendeines Lebens-
sinnes j e n s e i t s ihrer tatsächlichen intellektuellen Fas-
sungskraft zu b e k e n n e n haben. Ob dieses Ding gleich
"Gott" heißt, oder ob "jenes höhere Wesen, welches wir verehren",
nur in seiner nackten methodischen Gestalt als die Verpflichtung
auftaucht, auf gar keinen Fall den eigenen Willen für etwas ir-
gendwie Gültiges zu erachten und überhaupt alles zweifelhaft zu
finden, ist für diesen "praxisrelevanten" Ratschlag des philoso-
phischen Geistes gleichgültig. Auf alle Fälle tut
E r z i e h u n g not, die den Leuten von Jugend auf klar macht,
daß sie sich nur in einer Hinsicht wichtig zu nehmen haben, näm-
lich als ein gewaltiges P r o b l e m für dass, worum es ihnen
"eigentlich" zu gehen hätte; und deswegen bedarf es bei den wirk-
lichen Adressaten derartiger philosophischer Ratschläge vor allem
einer mit gutem Gewissen praktizierten
R ü c k s i c h t s l o s i g k e i t gegen den Verstand und den
Willen ihrer Zöglinge: "Mut zur Erziehung" heißt in der Konse-
quenz die praktische Devise der modernen Philosophie.
Von den Phantastereien und Mahnungen der T h e o l o g i e - die
gibt es mitten im Modell Deutschland ja auch noch als intellektu-
ell respektablen methodischen Überbau zu einer Volksreligion, de-
ren Dogmen zwar niemand mehr ernsthaft für wahr hält, aus Gründen
eines (entsprechend trostlosen) Trostes aber auch niemand wirk-
lich missen möchte! - unterscheidet sich der philosophische Geist
mit seinen Lebenssinn-stiftenden "Problemstellungen" insoweit gar
nicht weiter; zumal die moderne Theologie selber schon längst gar
nicht mehr die Wahrheit ihrer Religion verteidigt, sondern vom
modernen philosophischen Standpunkt aus deren praktische Nütz-
lichkeit in Sachen weltanschaulicher Zufriedenheit beschwört -
sehr gelehrt nach dem verräterischen Motto: "Ohne Gott ist alles
sinnlos!". Wenn eine solche Theologie um ihres intellektuellen
Erfolgs willen die Inhalte der Religion in offene Fragen verwan-
delt und darüber mit ihrer kirchlichen Obrigkeit in Streit gerät
- weil die über andere Kriterien für geistige Linientreue verfügt
als die Angeberei mit einem enorm tiefsinnigen Habitus, der, ganz
modern philosophisch, "Probleme" nicht beantworten, sondern auf-
geworfen wissen will -, dann darf sie sich der Solidarität des
philosophischen Geistes sicher sein. Der fühlt sich dann aufgeru-
fen, noch für die letzte Tübinger Spezialvariante im verrückten
Bemühen um eine möglichst eingängige, plausible theologische Dog-
matik Menschenrecht, Demokratie und Meinungsfreiheit zu reklamie-
ren. Denn sein Metier ist es eben, die Freiheit des Geistes nicht
bloß in ihrer reinsten Form, nämlich jenseits aller Verpflichtung
auf den einzelwissenschaftlichen Anschein von Sachkenntnis, aus-
zukosten, sondern in allen seinen Werken programmatisch als Kri-
terium zulässigen Denkens hochzuhalten. In der heutigen Philoso-
phie wacht der bundesdeutsche Intellekt darüber, daß kein Gedanke
als wissenschaftlicher Anerkennung findet, der sich nicht damit
rechtfertigt - und damit zugleich als seinen höchsten Maßstab an-
erkennt -, Resultat und somit die Manifestation eines besonders
raffinierten P r o b l e m b e w u ß t s e i n s zu sein.
Die ganze Abteilung der f o r m a l e n L o g i k ist längst
hinausgewachsen über das wenig aufwendige vernünftige Geschäft,
die Schlüssigkeit von Gedankengängen formell zu überprüfen; dabei
hat sie aber auch den Anspruch aus ihrer ersten Modernisierungs-
phase, alle möglichen Inhalte wissenschaftlichen Denkens aus des-
sen - angeblichen - "mathematischen" Formbestimmungen abzuleiten
und einen "logischen Aufbau der Welt" (Carnap) zu konstruieren,
längst hinter sich gelassen - oder nimmt ihn doch nur noch metho-
disch, gewissermaßen als ihre "Robinsonade" ernst. Heute tritt
diese ganze Abteilung der Philosophie von Anfang an ausdrücklich
als eine Veranstaltung auf, die jeglichem Denken seine prinzi-
pielle und unüberwindliche Unsicherheit nachweisen will. Klassi-
sche Fehler wie die, wissenschaftliche Erkenntnisse als Allsätze,
ihre Allgemeinheit also als Prognose über alle in Frage kommenden
Einzelgegenstände - und damit entweder als Tautologie oder als
Vermutung! - zu fassen, sind fortentwickelt zu dem absurden
Dogma, Beweise und Bedeutungen könnten nichts miteinander zu tun
haben: ein Freibrief für die argumentlose Bestreitung jeder wis-
senschaftlichen Aussage - deren Inhalt soll sich ja nie und nim-
mer beweisen lassen, w e i l er ein I n h a l t ist! - und
gleichzeitig für argumentfreies Herumspekulieren - denn bei In-
halten darf es auf Beweise ja ohnehin nicht ankommen. Dieses
Dogma, seinerseits auf seine formelle Quintessenz gebracht, be-
herrscht die andere - "klassische" - Abteilung heutigen Philoso-
phierens: hier wird jedem Gedanken das Bekenntnis abverlangt,
überhaupt kein Gedanke über einen Gegenstand, sondern eine sehr
bedingte, vor allem vom eigenen Standpunkt abhängige Konjektur zu
sein, die eigentlich nur eine neue Stufe in der Reflexion auf die
eigene Bedingtheit, also einen neuen Problemansatz in Vorschlag
gebracht haben möchte - n u r d a n n ist er respektabel, dann
ist aber auch a l l e s respektabel. "Ist der Tod eine Bedin-
gung der Möglichkeit von Bedeutung?" ist für "Vernünftiges Den-
ken" heute ein Problem, das auf alle Fälle ernsthafte Abwägung
verdient: einerseits ja; andererseits sind die theoretischen Kon-
sequenzen dieses Satzes theoretisch doch nicht wünschbar, also
trotz aller Plausibilität doch eher nein... Bei alledem kommt es
wirklich nicht so sehr darauf an, daß irgendein Wissenschaftler
einmal ernsthaft auch nur den Versuch unternähme, die formal- und
transzendentallogischen Vorschriften der Philosophie wirklich auf
sein Gedankenhandwerk anzuwenden. Es genügt, daß alles wissen-
schaftliche Denken heute in der BRD i m G e i s t e philosphi-
scher Problematisierung der Möglichkeit - also der Bestreitung! -
von Erkenntnis vor sich geht: Eben so fungiert die Philosophie,
und zwar sehr effektiv, als Sittenrichter in Fragen der Zulässig-
keit wissenschaftlicher Einfalle. Der bundesdeutsche Geist lei-
stet sich nämlich keine genialischen Extravaganzen oder
"Radikalität" des Denkens in dem Sinne, daß ein Denker sich mit
seiner besonderen Weltinterpretation den herrschenden Verhältnis-
sen entgegensetzt und mit einer Verrücktheit Sensation macht, die
die intellektuelle Versöhnung mit der Realität aufkündigt. Umge-
kehrt begegnet er den jeweils neuesten Einfällen auch nicht mit
jener amerikanischen Gelassenheit, die noch den größten Schwach-
sinn unter dem Obertitel "I suppose" zur Kenntnis nimmt und prag-
matisch zusieht, ob sich nicht irgendwo und irgendwie etwas
Brauchbares daraus machen läßt. Schon im Kopf des Erfinders zen-
siert ein jeder intellektuelle Einfall deutschen Geistes s i c h
s e l b s t, vergleicht sich selbstkritisch mit dem anerkannten
methodologischen Comment, hält sich dann einerseits noch bei sei-
nen banalsten "Hypothesen" wer weiß wie viel auf seinen "Mut" zum
wissenschaftlichen "Risiko" zugute und sieht dabei doch nur zu,
daß er die Maßstäbe innerwissenschaftlicher Sittenwidrigkeit und
vor allem das Grundgesetz der Freiheit, nämlich das Gebot zu um-
sichtiger Selbstproblematisierung, ja nicht verletzt. Es handelt
sich beim deutschen Geistesleben eben nicht bloß organisatorisch,
sondern seinem ganzen Begriff nach um B e a m t e n w i s s e n-
s c h a f t in höchster Vollendung, die ihren Willen, positiv,
konstruktiv und für die "geistige Bewältigung" der Realität
bedingungslos "nützlich" zu sein, in lauter Verfahrensregeln für
den Umgang des Verstandes m i t s i c h faßt und über
wirkliche Gegenstände am liebsten nur als Beispiele für ihren
Regelkanon verhandelt - die dann nicht einmal als Beispiele ernst
genommen werden dürfen: i h r B e g r i f f sollte ja gar
nicht herauskommen.
Nichts ist kennzeichnender für dieses bundesdeutsche Geistesle-
ben, als daß es sich allenfalls und ausschließlich in diesem Be-
reich, bei der Erörterung der Vorschriften für anständiges Den-
ken, auf das verbotene Feld des theoretischen Dagegen-Seins vor-
wagt - also im kritischsten Fall methodologisch die philosophi-
sche E r l a u b n i s nachsucht, auf dem Wege einer über das
übliche hinausgetriebenen S e l b s t k r i t i k des Denkens
gewisse Zweifel an der Welt anmelden zu dürfen. Wissenschaftliche
Kritik besteht in der BRD in ausführlichen Plädoyers des Inhalts,
daß unter Umständen und angesichts des "Scheiterns" der vorlie-
genden "Ansätze", deren Anliegen ihr Kritiker sich stets zutiefst
verbunden weiß, doch vielleicht auch die umsichtige Erprobung
"a l t e r n a t i v e r Denkstrategien" ratsam sein möchte, die
den Bereich des allgemein als "undenkbar" Deklarierten streifen
könnten; dies stets einerseits im Brustton der
V e r a c h t u n g gegenüber jedem Denken, das - angeblich! -
"einfach so", "naiv" auf die Welt losgeht - ausgerechnet
"mangelnde methodische Reflexion" ist hier der härteste Vorwurf
an die etablierte Wissenschaft! -, eben deswegen aber anderer-
seits mit tausend devoten Beteuerungen, daß damit über die Welt
zunächst einmal noch überhaupt nichts, geschweige denn etwas Ge-
wisses gesagt sein soll. In den Werken der linken Professoralwis-
senschaft schwellen solche Plädoyers von "Einleitungen" und
"Vorüberlegungen" zu lächerlich voluminös en Hauptwerken an,
denen dann oftmals nur noch als Appendix ein Hinweis folgt, was
wissenschaftlich noch zu "leisten" w ä r e, w o l l t e man
den vorgeschlagenen kritisch-methodischen Kapriolen folgen. Ihre
unüberbietbare Spitze hat diese Schule des kritischen Geistes in
ihrem Vorkämpfer aus dem Nachlaß der "Frankfurter Schule" er-
reicht. Habermas' Denken besteht allein und erfüllt sich darin,
schlechterdings jeden "theoretischen Ansatz", von modernsten
Sprachphilosophien bis zur Ricardoschen Arbeitswertlehre und von
der klassischen Transzendentalphilosophie bis zum letzten Schrei
der Systemtheorie, in einen Diskussionsprozeß hineinzuziehen, der
nur ein Beweisziel hat: zu demonstrieren, daß das Reflexionsni-
veau aller dieser "Ansätze" "unzureichend" ist, weil sie das ih-
rer weltanschaulichen Alternativen nicht in sich aufgenommen ha-
ben, was schon daraus hervorgeht, daß es erst Habermas gebraucht
hat, um sie untereinander richtig "ins Gespräch" zu bringen. So
d e m o n s t r i e r t und b e s t ä t i g t Habermas, ohne
jemals einen Gedanken auf die Realität verschwenden zu müssen,
allein an den vielfältigen Interpretationen der Welt durch den
freien bürgerlichen Geist seine fixe Idee: die Reflexion auf die
Bedingungen der Möglichkeit einer heilen Gesellschaft als Sprach-
gemeinschaft
- als Bedingung der Möglichkeit philosophischen Denkens als Kri-
tik - als Bedingung der Möglichkeit emanzipatorischer Praxis als
kommunikativen Handelns
- als Bedingung... usw. oder auch umgekehrt.
Habermas hat das Selbstbewußtsein der heutigen Wissenschaft, den
bedingungslosen Subjektivismus - eben die Freiheit des Geistes -
zu seinem Lebensinhalt erklärt und weiß deshalb um das Wörtchen
"als" a l s das wichtigste Werkzeug affirmativen Denkens. An
Kritik an der Welt schaut dabei - und auch darin ist Habermas der
Inbegriff jener Trostlosigkeiten, auf die der deutsche Geist ver-
fällt, wenn er einmal mit der Attitüde des Dagegenseins koket-
tiert - nur dies heraus, daß der Philosoph seine eigene Diskussi-
onszirkelei auch noch zum normativen Maßstab der wirklichen Ge-
sellschaft erhebt, und deswegen von vornherein über sie das Ur-
teil fertig hat, sie lege einer diskutierenden "Verflüssigung"
aller in ihr vorkommenden "festen Positionen" lauter Hindernisse
in den Weg. Mit entsprechend absurden Mahnungen zu einer angebli-
chen "Krise demokratischer Legitimation" tritt er an die Öffent-
lichkeit und das alles findet er auch noch erstens sehr praxisre-
levant und zweitens sehr kühn und kritisch.
Was d a s F u ß v o l k d e r a k a d e m i s c h e n E l i-
t e, also die unmittelbaren Adressaten dieses gesamten höheren
Blödsinns, betrifft *), so findet dessen Werdegang seine
Erfüllung logischerweise nicht im Begreifen einiger Gegenstände
der kapitalistischen Welt, sondern im Übergang in ein A m t in-
nerhalb jener Sphäre, in der die Staatsgewalt sich zwar auch
nicht irgendeines Wissens, wohl aber seines A n s c h e i n s
p r a k t i s c h b e d i e n t. Denn die eine lohnende Verwen-
dung für den Intellekt ihrer Mitglieder hat die bürgerliche Ge-
sellschaft ja immerhin erfunden: Über seine u n t e r-
s c h i e d l i c h e A u s b i l d u n g, unterschieden nach
dem Kriterium des Abschneidens im Leistungsvergleich, also über
seine Herrichtung zum und Betätigung als Mittel der Konkurrenz
organisiert sie die Verteilung der Individuen auf die Klassen und
die Hierarchie der Berufe und der Positionen im
Herrschaftsapparat g a n z g e r e c h t. Der Schein der Be-
gründetheit aller Einrichtungen des Klassenstaates, um den die
Intellektuellen sich in ihren Theorien verdient machen, ist das
objektive Prinzip der Behandlung, die der Klassenstaat seinem
Nachwuchs angedeihen läßt, so daß die Intellektuellen die schöne
Aufgabe übertragen bekommen, in ihrem Berufsalltag praktisch an
seiner Erzeugung mitzuwirken. An ihnen ist es, Unterschiede zwi-
schen den Kindern in Sachen "intellektuelle Kompetenz" herzustel-
len, so daß die einen zu ihrem "verdienten" 'sozialen Aufstieg'
das Bewußtsein eigenen Verdienstes dazubekommen und die anderen
zu ihrem lebenslangen Arbeitsdienst die Vorstellung von sich, un-
tauglich zu sein für die Rolle eines Menschen, auf dessen Urteil
es besonders ankommt in der Welt. Das Risiko, daß statt solcher
Effekte unangenehme E i n s i c h t e n sich breitmachen im
nachwachsenden Volkskörper, braucht die bundesdeutsche Staatsge-
walt dabei nicht zu fürchten - obwohl sie mit ihren Aufsichtsor-
ganen auch gegen die Eventualität einer Unterrichtsgestaltung,
die dem Schulzweck ausgerechnet durch seine P r o b l e m a-
t i s i e r u n g zur Durchsetzung verhelfen will, genaueste
Vorsorge getroffen hat. Schon mit der friedlichen Absolvierung
ihres Studiums und dem dabei entwickelten Fanatismus, sich für
die Gesellschaft, die sie frei studieren ließ, nützlich zu
machen, bieten Westdeutschlands Intellektuelle die jederzeitige
Gewähr für einen korrekten Schulbetrieb, in dem irgendwelche
Ahnungen davon, was eine Erklärung von irgendetwas ist,
geschweige denn von der Erklärung irgendeiner der schönen
Einrichtungen, unter denen die nachwachsenden Bürger ihr Leben zu
verbringen haben werden, todsicher nicht aufkommen - stattdessen
lauter moralische Vorstellungen über den Lauf der Welt, die in
ihrer Albernheit wie hinsichtlich der nötigen Plausibilität dem
jeweils angestrebten Bildungsniveau gemäß ausgestaltet und mit
Spurenelementen von Wissen angereichert sind. Deutsche Lehrerstu-
denten bringen ihre akademische Laufbahn ins Ziel, indem sie sich
ohne den leisesten intellektuellen Skrupel bezüglich der ihnen
vorgesetzten professoralen Einfälle, dafür voller Ängste vor der
Nötigung, diese in Prüfungen wiederzugeben, an den vorgeschriebe-
nen Bruchstücken akademischer Gelehrsamkeit abarbeiten und im
kritischsten Fall ein wenig Selbstmitleid über "Streß" und
"Frust" entwickeln, dem ausgerechnet sie so gräßlich ausgeliefert
seien. Nach der letzten Prüfung stehen dieselben Intellektuellen,
die soeben in ihrem Hauptseminar nicht in der Lage waren, zwei
falsche Gedanken ihres Dozenten auch nur auseinanderzuhalten,
ohne weiteres in der Schule ihren Mann. Jeder Zweifel an der ei-
genen Kompetenz zum Lehrersein ist mit der Berechtigung dazu von
ihnen abgefallen - und tatsächlich taugt ihre akademische Unbil-
dung allemal dazu, die ihnen anvertrauten Kinder nach Noten aus-
einanderzusortieren: sie brauchen deren Geistesleistungen ja nur
in entsprechender Verkleinerung an ihren eigenen zu messen. Die
Kritik an seinem Metier, zu der es ein im Ausbildungswesen prak-
tisch engagierter und beheimateter bundesdeutscher Intellektuel-
ler im äußersten Fall bringt, geht demgemäß auch nie gegen die
Zerstörung des Verstandes, die er mit dessen Benutzung für eine
gerechte Klassenscheidung unter den Kindern hervorbringt, ge-
schweige denn gegen die Hierarchie der Berufe, der er so mitsamt
dem nötigen Nachwuchs das Siegel der Angemessenheit an die Indi-
vidualität des darauf verteilten Menschenmaterials aufdrückt. Im
zur Schau gestellten Altruismus, in der heuchlerischen Sorge ums
Kind ist seine Kritik vom Selbstmitleid des professionellen Aka-
demikers getragen: I h m machen Notengebung, Schulordnung,
große Klassen, falsch "sozialisierte" Schüler, uneinsichtige El-
tern, reaktionäre Kollegen, autoritäre Direktoren, bornierte Be-
hörden etc. das Leben schwer - und das läßt sich unschwer über-
setzen in das hohe Ideal einer freizügigen Schule, die mit den
Zensuren gleich auch noch die letzten seriösen Bildungsgüter als
menschenfeindliche "Kopflastigkeit" des Unterrichts verabschiedet
hat, mit kleinen Klassen und großer Kameradschaft zwischen dem
Lehrstand und seinem Material. Die wissenschaftliche Pädagogik
kommt an dieser Stelle dann auch zu ihrem Praxisbezug: Je nach
Bedarf segnet sie entweder die Realität oder deren Ideal als
ziemlich "kindgemäße" Angelegenheit ab. Und ihre Sternstunden hat
die kritische Pädagogik, wenn es ihr gelingt, dem Staat ein prak-
tisches Experiment aufzuschwatzen, das dann gerechterweise
"Laborschule" o.ä. heißt und alle Gegner im Streit um die Bil-
dungspolitik mit ideologischen Argumenten ausstattet.
Keine Frage: Bei solchen Intellektuellen geht der BRD-Staat kein
Risiko ein, wenn er ihnen sein Ausbildungswesen als Domäne für
ihre Ambitionen, praktisch zu werden, großzügig überläßt. Er kann
es sich sogar leisten, bei der kritischen Begutachtung der poli-
tischen Gesinnung seiner künftigen Amtsträger sehr kleinlich zu
verfahren, ohne auf andere Bedenken zu stoßen als das entschieden
demokratisch-konstruktive: ob sich sein Überwachungsaufwand denn
lohnt und sein Mißtrauen gegen solchen geistigen Nachwuchs über-
haupt gehört?
*) Ausgerechnet unter den Intellektuellen haben noch alle marxi-
stischen, kommunistischen oder sonstigen oppositionellen Gruppen
in der BRD ihre relativ größten Chancen entdeckt und wahrgenom-
men: die einen, indem sie die akademische Spinnerei für zu kom-
pliziert befanden und auf die unabgesättigten sozialen Empfindun-
gen der Studenten setzten, die anderen in der Weise, daß sie sich
mit dem Verzicht auf soziale Heuchelei durch die Kritik etlicher
falscher und die Verbreitung einiger richtiger Gedanken über die
Welt den Vorwurf der intellektuellen Arroganz einhandelten. Daß
Marxismus und Kommunismus in der BRD derzeit tatsächlich kaum an-
ders als in der letzteren Form vorkommen, ist einer unserer ent-
schiedensten Einwände gegen die Lage der Nation.
3. Die praktischen Bedürfnisse des Intellektuellenstandes
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Westdeutschlands Intellektuelle tragen den Gegensatz zwischen
Macht und Geist, den sie selber gerne beschwören, nicht aus. Sie
reden über ihn, sogar mit Vorliebe; und sie reden über ihn, ohne
einseitig Partei zu ergreifen. Vom Geist, den doch niemand anders
als sie selber macht, reden sie voll Nachsicht, also mit Verach-
tung als von einer Einstellung, zu der es nun einmal hinzugehöre,
sich an der Realität ein wenig zu reiben; über die Macht und ihre
Inhaber reden sie despektierlich, also in der Haltung des Besser-
wissers mit kaum verhohlener Bewunderung gegenüber der Sphäre der
Tüchtigkeit, die sich um den Geist nicht groß zu kümmern braucht.
Die Verbindung von "Theorie" mit der Umstandsbestimmung "bloß"
ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen; und d a r i n sind
sie alle ohne Unterschied, von den rechten Kammerjägern distan-
zierten Denkens bis zu den kritischsten Häuptern des Schrift-
stellerverbandes, Anbeter der praktischen Gewalt. Dem, was ist,
treten sie nie zu nahe - eher werden sie selber, als der
"praktischen Verantwortung" ledige Nur-Denker, sich zum Problem.
So hat der bundesdeutsche Geist sich mit der "Geistlosigkeit der
Verhältnisse" glänzend arrangiert. Daher ist es auch nur gerecht,
wenn Aberhunderte öffentlicher Kulturpreise - von denen sogar
schon mal einer ganz vorurteilsfrei an einen im Knast einsitzen-
den linken Poeten geht - dokumentieren, wie sehr die demokrati-
sche Gewalt es schätzt, daß die Intelligenz der Nation sogar noch
in ihren kritischsten Vorurteilen die BRD als Chance und
H e i m a t betrachtet.
Westdeutschlands Intellektuelle l e i d e n ernstlich nur unter
einem: unter ihrem eigenen Urteil, daß sie selbst b l o ß In-
tellektuelle sind. Sie erdenken Interpretationen der Welt, die
allesamt nur den einen Befund variieren, daß die demokratische
Herrschaft mit allen ihren Einrichtungen als die - mehr oder we-
niger glückliche - Lösung sehr tiefer, wenn nicht ewiger Mensch-
heits p r o b l e m e zu verstehen sei; sie subsumieren sich
selber selbstkritisch unter diese Anerkennung der Macht; und doch
haben sie an der so innig bewunderten Praxis der Macht keinen An-
teil. Als Intellektuelle sind sie eben nicht die Macher; und daß
für das Gelingen des Geschäfts der Macht die Resultate ihrer Ge-
dankenwerkstatt brauchbar, wichtig oder womöglich unverzichtbar
wären, ist eine Ideologie, für die allein ihre eigene Beteuerung
einsteht und die sie selbst immer problematisieren: nicht für den
L a u f der Dinge wollen sie bedeutend sein, sondern bloß für
deren rechtes V e r s t ä n d n i s.
Unter Westdeutschlands Intellektuellen gibt es daher ein Ideal,
und das heißt Ü b e r g a n g i n d i e P o l i t i k. Bun-
desdeutsche Wissenschaftler fühlen sich noch allemal geehrt, wenn
die Regierung sie zu Gutachtern bestellt; Professoren, die von
den deutschen Schulbehörden die schlechteste Meinung haben, las-
sen sich in eine von diesen installierte Reformkommission nicht
zweimal hineinbitten; die Sternstunde seiner Laufbahn erlebt ein
Sozialwissenschaftler, wenn er seinem staatlichen Auftraggeber
1000 Seiten Schwachsinn über den "Wandel in Deutschland" ablie-
fert und dabei mit Helmut Schmidt aufs Fernsehbild kommt; und
deutsche Dichter bilden sich die größten Schwachheiten ein, wenn
der Kanzler sie einmal in seinem Diplomatengepäck mit ins Ausland
geschleppt und damit angegeben hat, wie gut in der BRD sich Macht
und Geist vertragen. Das Allergrößte für die geistige Elite aber
ist, überhaupt vom Katheder weg auf einen Ministersessel zu ge-
langen. Nichts ist ihnen selbstverständlicher, als daß ein sol-
cher Abschied aus der Welt der Wissenschaft ein unbedingter
A u f s t i e g ist; und wenn die Wechselfälle des politischen
Lebens die Rückkehr auf den Lehrstuhl herbeiführen, dann findet
sich keiner mit einem solchen Rückfall in die bloße Theorie
leichten Herzens ab - dann schon lieber Chefökonom und V-Mann in
einem Ölscheichtum! Für Intellektuelle, die einen derartigen Auf-
stieg nicht schaffen, bleibt die populäre Ideologie von einer
"besonderen politischen Verantwortung des Wissenschaftlers", mit
der sie sich attestieren, daß sie immerhin zu dem Stand gehören,
aus dem die politischen Macher sich rekrutieren; mit der Illu-
sion, auf ihre politische Meinung komme es deswegen ganz beson-
ders an, eben fast so wie auf die der wirklichen "Entschei-
dungsträger", kosten sie in ihrer beschränkten Phantasie die
Eigenart des entwickelten demokratischen Klassenstaates aus, daß
hier die Verteilung der Individuen auf die Klassen und die
Hierarchie des Herrschaftsapparates tatsächlich über den
A u s s c h l u ß v o n B i l d u n g passiert. Für die Prak-
tizierung dieser Illusion halten die Ortsgruppen der Parteien
Möglichkeiten bereit - einschließlich der Chance eines Aufstiegs
in die entscheidenden-Positionen, auf die in allen Parteien,
nicht nur in der SPD, die Intellektuellen abonniert sind.
Aber auch dann, wenn sich die intellektuelle Karriere mit einer
politischen verknüpft, sieht ein Studierter seinen Beruf nie als
einen Job zum Geldverdienen an. Z y n i s c h sind sie alle
nicht, höchstens über den Umweg eines I d e a l s, das sie von
ihrer "gesellschaftlichen Aufgabe" haben - vom Sozialpädagogen
über den Lehrer bis zum Ausgestalter des Kulturlebens hängen sie
alle einer gewissen Hochachtung vor ihrer höchstpersönlichen Ver-
antwortung an. Ein Sozialarbeiter, der, wenn es seinen Beruf
nicht höchst staatsoffiziell gäbe, nie und nimmer mit Ausgeflipp-
ten und Kriminellen seine Zeit totschlagen würde, hält große
Stücke auf sein soziales Engagement, weil er eine ziemlich ge-
sellschaftliche Aufgabe auf sich genommen haben will; bisweilen
versteigt er sich bei seiner Betreuung des Elends zu der
Selbsteinschätzung eines Gesellschafts v e r ä n d e r e r s,
worin es ihm mancher Lehrer mindestens gleichtun will. Auch der
bemüht sich nämlich um das "Aufbrechen" überkommener Strukturen
im Bildungswesen und opfert sein Herzblut für die Bewahrung der
heranwachsenden Generation vor sämtlichen undemokratischen Irrwe-
gen. Ein Lektor, Theater- und Filmmensch oder ein Bibliothekar
glauben, ohne lachen zu müssen, an ihre schwergewichtige Veran-
wortung für das Geistes- und Kulturleben, das ohne ihren Einsatz
nur allzuleicht ins Stocken geriete, und daß die nationale Kul-
turlandschaft ganz schnell in eine unfruchtbare Wüste verwandelt
wäre, in der sich niemand mehr ein geistiges Wagnis zumutete...
Westdeutschlands Intellektuelle verfolgen eben in ihrem gesamten
Dasein ein zweites, nämlich ein B i l d u n g s ideal. Mit der
idealistischen Überhöhung ihres Amtes distanzieren sie sich von
dessen profaner Funktion und gelangen zu einer Wertschätzung der
e i g e n e n P e r s o n jenseits des Amtes, aus dem sie ihr
gesamtes Selbstbewußtsein beziehen. An s i c h s e l b s t
führen sie den Beweis, daß nichts so wichtig ist wie ein intel-
lektuelles Verhältnis zur Welt. Wiederum nahtlos einig mit staat-
licher Macht und gesellschaftlichem Reichtum, die darin zurecht
sich, nämlich als Grundlage gelungenen Mensch-Seins,
r e p r ä s e n t i e r t finden, setzen sie ein umfangreiches
K u l t u r l e b e n in Szene. Bemerkenswert am bundesdeutschen
Kulturleben ist die Konsequenz, mit der es sich dem mit ihm ver-
folgten Beweisziel unterordnet. Zwar hat die bürgerliche Kultur
sich schon immer dadurch ausgezeichnet, daß sie es beim ver-
feinerten Genuß nicht bewenden läßt, sondern sich ein Gewissen
daraus macht, bloß Genuß, also nutzlos zu sein, und sich dagegen
auf eine höhere Nützlichkeit beruft: eine t i e f e r e
B e d e u t u n g ihrer luxuriösen Scherze. In der westdeutschen
Kultur ist diese Verrücktheit jedoch bis zu dem Punkt weiterent-
wickelt worden, daß ein Kulturgenuß überhaupt erst dann und nur
in dem Maße als Bestandteil des Kulturlebens Anerkennung findet,
wenn bzw. wie er alle Merkmale des bloßen Genusses von sich abge-
tan hat und zur geistigen "Mühsal" ausartet, an deren Bewältigung
der Mensch sich eben als gelungener Kulturmensch zu bewähren und
zu beweisen hat. In der BRD konnte ein Frankfurter Musikphilosoph
beim "sachverständigen" Publikum Anklang finden mit der verrück-
ten Vorschrift, nur der dürfe sich eines angemessenen Musikgenus-
ses rühmen, der dazu allein der Partitur bedürfe, sich also frei-
gemacht habe vom Akustischen in seiner irdischen Mangelhaftig-
keit. Zwar wurden deswegen die Konzertsäle nicht leerer, die dort
und in den Feuilletons zur Schau getragene heuchlerische Attitüde
angestrengter Sachverständigkeit, die jedes "naive" Geschmacksur-
teil beschämt, dafür aber womöglich noch penetranter. In der BRD
ist die von Brecht erfundene Manier, nicht einfach zur Lust und
Erbauung des Publikums Theater zu spielen, sondern zugleich im-
merzu an der - trivialen - Nicht-Identität von Theater und Wirk-
lichkeit herumzuproblematisieren, auf daß die B o t s c h a f t
des Theaters nicht mehr als "bloßes" Theater mißverstanden werden
möge, zum Grundgesetz jeder Inszenierung geworden, die etwas auf
sich hält; das Publikum findet sich geradezu betrogen, wenn ihm
keine originelle Verfremdung geboten wird, bewundert dafür jede
Peinlichkeit als tief und originell und zeigt sich beeindruckt,
wenn der Regisseur ihm seine "Betroffenheit" durch das Stück da-
durch klarmacht, daß er es nach der Pause auf die Bühne setzt
oder drei Stunden lang stehen läßt. Und nirgendwo sonst können
die Spinnereien des modernen bildenden Künstlertums auf so viel
intellektuelle Ehrfurcht rechnen wie in der BRD: Kunstwerke sind
eben nicht einfach für den Genuß da, denn das wäre nur "U" wie
Unterhaltung, die Intellektuelle natürlich auch mitnehmen, aller-
dings unter Wahrung ihres wählerischen Geschmacks - in den Werken
der Massenkultur sind sie nur zu Hause, wenn sie "gut" und
"schlecht", "kommerziell" und "progressiv" kundig unterschieden
haben. Daß der Zweck wirklicher Kunstwerke darin besteht, dem Pu-
blikum zu neuen Sichtweisen der Realität zu verhelfen, ohne die
ihm ein Stück zum Selbstsein fehlen würde - deshalb heißen sie
auch gerne "Objekte" -, und daß dieser Anspruch durch seine Ver-
wirklichung ein tiefes Loch im Kasseler Boden oder ein Kranken-
hausgerät, von dem man halt wissen muß, daß kein geringerer als
Herr Beuys es arrangiert hat - nie und nimmer als idiotische Ab-
straktion und lächerliches Getue bloßgestellt wird, sondern dem
denkenden Kopf höchst respektabel ist - so etwas ist hierzulande
so selbstverständlich, daß nicht einmal ein reaktionärer Dummkopf
in politisch verantwortlicher Stellung seinen Ruf als Kultur-
mensch aufs Spiel setzt, indem er auf seiner Verständnislosigkeit
beharrt.
Denn das ist andererseits klar: In dieser Sphäre, wo sie ihre ei-
gene Unentbehrlichkeit für den Sinn in der Welt praktisch be-
weist, versteht die Intelligenz keinen Spaß - und legt sich,
wenn's sein muß, auch mit der politischen Macht an, der sie an-
sonsten die herzlichste Treue hält. Da kann es sogar in der BRD
einmal zu einem öffentlichen Skandälchen kommen, wenn einem aner-
kannten Vertreter des Kulturlebens von der Staatsgewalt ein Tort
angetan wird. Für die Staatsgewalt kostet diese Empfindlichkeit
ihrer Intellektuellen zwar ab und zu eine Million für ein neues
"Objekt" in der Staatsgalerie oder so was Ähnliches. Andererseits
legt aber auch und gerade diese Empfindlichkeit nur Zeugnis ab
von der Intellektuellen tiefster Sehnsucht: der Staat möge ihrem
Treiben Anerkennung zollen. Nichts sonst steht ihrer Harmonie mit
der Macht im Wege. Ein Schwätzchen mit dem Staatssekretär im
Foyer, ein Verdienstkreuz für Walter Jens oder ein anderer Preis
für Böll und ein lobendes Kanzlerwort über Engelmann, und für
West deutschlands Intelligenz ist die Welt in Ordnung.
IV
Die Linke
---------
1. Die BRD als Projekt revisionistischer Politik
------------------------------------------------
Daß die (noch) existierende organisierte Linke aus der Studenten-
bewegung entstanden ist, welche der Demokratie in allen Belangen
ihre Ideale vorhielt und dafür auf die Straße ging, ist kein Ge-
heimnis. Ebensowenig die Tatsache, daß die neuen linken Gruppen
nichts hatten außer sich und ein paar kritischen Intellektuellen,
die auch für den Marxismus ein Ohr hatten. Mit der linken Opposi-
tion hatte Adenauer erfolgreich unter Billigung des westdeutschen
Volkes aufgeräumt. Aus dem Antikommunismus, dem Bekenntnis zum
Dafürsein, war unter Zuhilfenahme des eifrig geförderten Blicks
nach drüben eine zweite Staatsreligion geworden, da andere Formen
des Nationalismus nach dem verlorenen Krieg nicht gleich wieder
salonfähig waren. Und dieser Umstand wäre auch nicht weiter er-
wähnenswert, wenn nicht die sich in Parteien aufbauende und sich
in sie differenzierende Linke, die bei allem und jedem energisch
den Blick auf die "historischen Bedingungen" gerichtet wissen
will, von ihrem Aufbruch Ende der sechziger Jahre bis heute sou-
verän die Realität geleugnet hätte, die zu verändern sie angetre-
ten ist. Unablässig haben diese Kämpfer vorgeführt, daß die Be-
trachtung der Welt a l s "historische Bedingung" für das, was
sich einer vornimmt, nie etwas zutagefördert als den Standpunkt,
von dem er ohnehin beseelt ist. Und in dieser Imitation des bür-
gerlichen Umgangs mit der Geschichte, der ja auch an jedem Ereig-
nis vergangener Tage die ideologische Legitimation sehr aktueller
Zielsetzungen bewerkstelligt, haben die Linken glatt übersehen,
daß es außer ihnen niemand gibt, der die Verhältnisse in der BRD
prinzipiell kritisiert und diese seine Opposition auch prakti-
ziert; in konsequenter Fehleinschätzung aller damals üblichen
Formen des Bürgerunmuts, der demokratischen Unzufriedenheit
wollten sie nicht wahrhaben, daß ihnen ein Publikum abgeht, das
für kommunistische Politik, egal welcher Färbung, etwas übrig
hat. Ihre Untersuchung der historischen Bedingungen hat ergeben,
daß mit der kommunistischen Partei die einzige fehlende Bedingung
geschaffen werden muß für den Klassenkampf - und hierin haben sie
auch ihre große historische Aufgabe gesehen. Das Ideal, das ihnen
dabei Zuversicht einflößte, hatte wie gesagt mit der Realität
nichts zu schaffen, und als r e v i s i o n i s t i s c h e r
S t a n d p u n k t lebt es über alle Wechselfälle der Ge-
schichte hinweg, seitdem es die bürgerliche Gesellschaft gibt:
s i e w ä h n e n s i c h i n i h r e m A n l i e g e n
e i n s m i t d e n g e l i e b t e n M a s s e n!
So stellte sich den Linken Westdeutschlands mit dem Entschluß,
politisch entscheidend tätig zu werden, sogleich die Organisati-
onsfrage; und ungeachtet der Tatsache, daß sie im Unterschied zu
ihren Vorläufern noch nicht einmal an vorfindliche Klassenkämpfe
"anknüpfen" konnten, haben sie das Problem "Kader- oder Massenor-
ganisation?" auf die Tagesordnung gesetzt und gelöst. Seitdem
sind einige Parteien mit dem "Heer der unterdrückten Volksmas-
sen", von deren Kampfeswillen sie überzeugt sind, in
M a s s e n o r g a n i s a t i o n e n verbunden, und als be-
sonderer Teil der Bewegung, als ihre Vorhut, bildet man selbst
eine K a d e r o r g a n i s a t i o n. So ist die westdeutsche
Arbeiterklasse ganz ohne übermäßig ausgeprägten Kampfeswillen zu
ein paar kommunistischen Parteien gekommen, die sich auch gleich
in großen Wahlschlachten anerboten haben, das Parlament, die
"Tribüne des Klassenkampfes" mit ihrer Gegenwart zu beehren. Die
Illusion, es existiere eigentlich gar keine Trennung zwischen
denen, die linke Politik machen wollen, und der Arbeiterklasse,
erleidet in der so entstandenen Welt unter 1% keineswegs eine Er-
schütterung. Denn so wenig der besagte Idealismus sich gedrängt
fühlt, über die Klassengesellschaft, der er den Kampf ansagt,
auch noch Bescheid wissen zu wollen, so gewaltige theoretische
Anstrengungen unternehmen seine Verfechter, wenn es darum geht,
die Widersprüche zwischen den eigenen Vorstellungen und dem Ur-
teil, das die Wirklichkeit nahelegt, für nichtig zu erklären. Für
die Abwicklung ihres Publikationswesens liefert ja der Standpunkt
das unumstößliche Kriterium jeder Botschaft: sie hat durch die
nachdrückliche Darbietung sämtlicher Erfahrungen der Massen dar-
zutun, daß es sich durchwegs um schlechte Erfahrungen handelt;
sodann die Nutznießer dieser schlechten Lebenslage bloßzustellen
und entschieden dazu aufzufordern, die Partei doch an die Seite
der Werktätigen treten zu lassen, damit die Millionäre nicht län-
ger auf Kosten der Millionen arbeitender Menschen mit ihrer reak-
tionären Gesinnung den fortschrittlichen Leuten alles Mögliche
reinwürgen. Genauere Kenntnisse über das Wie der kapitalistischen
Ausbeutung und der sie sichernden politischen Herrschaft sind da
völlig überflüssig, wenn nicht störend - immerhin würde ja schon
die F r a g e danach, w a s die Massen den lieben langen Tag
so treiben und warum sie so arbeiten, sparen, wählen, reden und
denken, wie sie es tun, manches Problem aufwerfen; vielleicht so-
gar die Überlegung hervorrufen, ob es nicht besser sei, statt
sich auf die Interessen der Massen zu b e r u f e n, Wider-
spruch gegen sie einzulegen! Aber das ist ja der Vorteil des
Standpunkts, daß man sein Verhältnis zu den Massen als ein durch
und durch positives zu arrangieren beschlossen hat, so daß solche
Fragen eher als "elitär" bekämpft denn gestellt werden. Theore-
tisch geht es erst dann zu, wenn trotz bestens funktionierendem
"demokratischen Zentralismus" - die Massen agieren von unten nach
oben, die Führung von oben nach unten, das ganze Hin und Her ist
eine dialektische Wechselwirkung, von der jede Seite was hat -,
trotz korrekter Einhaltung der "Massenlinie" und konsequenter
Entlarvung des Feindes kein rechter Fortschritt in der kämpferi-
schen Bewegung der Massen zu verzeichnen ist. Dann muß unter Wah-
rung aller Prinzipien, also ohne jede Einsicht geklärt werden,
wieso die Massen n i c h t kämpfen! Dieselben Leute, die von
einer Kritik des falschen Bewußtseins, das zum Ertragen der Aus-
beutung notwendig ist, nichts wissen wollen, gelangen dann zu Be-
funden, die der verehrten Arbeiterklasse zu allem anderen als zur
Ehre gereichen: sie läßt sich von der Springer-Presse, von kor-
rupten Gewerkschaftsführern und anderem lichtscheuen Gesindel
doch glatt einseifen - im Vorwurf der M a n i p u l a t i o n
gestehen Linke genau die Politisierung ein, die sie leugnen; Be-
stechung soll es auch geben, um sie von ihren revolutionären Am-
bitionen abzuhalten, und schließlich fehlt auch der Hinweis auf
den "relativen" W o h l s t a n d nicht als Grund dafür, daß
die Werktätigen keinen Grund für den Klassenkampf mehr sehen. All
diese Erfindungen sind durchaus als Entschuldigung gemeint und
stellen ihrem Gehalt nach dem "revolutionären Subjekt" doch nur
die m o r a l i s c h e A n k l a g e zu, die enttäuschte
Liebe noch stets zustandebringt.
Eines aber leisten die "Analysen" des n i c h t
v o r h a n d e n e n Klassenbewußtseins: sie gestatten einem
Revisionisten, weiterhin "davon auszugehen", daß die Interessen
seiner Adressaten und die seiner Partei i d e n t i s c h sind,
allerdings mit dem kleinen Zusatz "eigentlich". Aus der Ge-
schichte der Arbeiterbewegung, aus der er sich lieber Auskünfte
besorgt als aus der bundesrepublikanischen Realität, dringt die
trostreiche Unterscheidung zwischen "objektiven" und
"subjektiven" Interessen in seine Strategie- und Taktikdebatten,
so daß er über das gedankliche Handwerkszeug verfügt, die Absti-
nenz der Werktätigen in Sachen Klassenkampf mit seinem Anspruch,
in allem und jedem nur die Erwartungen der Massen zu exekutieren,
zu versöhnen. "Subjektiv" sind die t a t s ä c h l i c h
v o r f i n d l i c h e n Interessen der Massen, und sie sind es
"bloß", weil durch allerlei Widrigkeiten und Manöver des Klassen-
feindes so geworden; "objektiv" haben sie selbstverständlich nur
das eine Interesse, das, der Herrschaft der Bourgeoisie ein
furchtbares Ende zu bereiten - eben das der Partei, wobei der Ha-
ken nur darin besteht, daß dieses Interesse im Moment nicht mehr
oder noch nicht wirklich vorhanden ist. Sicherlich liegt das
Quidproquo nicht an den mangelnden Lateinkenntnissen der Partei-
gründer, die ja allesamt Abitur haben - aber vielleicht ist das
auch nicht mehr das, was es einmal war! Jedenfalls ist das Ver-
trauen in die revolutionären Bestrebungen des Proletariats geret-
tet und die Partei kann fortfahren in der Suche nach falschen
Antworten auf die falsche Frage: "Warum kämpfen die Proleten
n i c h t?" - sich also auch weiterhin die Marx'sche Erklärung
des Kapitalismus und die damit irgendwie zusammenhängende Mühsal
ersparen, den Massen die Gründe dafür zu sagen, warum sich Lohn-
arbeit nicht lohnt (die "Erfahrung" davon haben sie schon
selbst!) und warum Klassenkampf das Mittel ist, sich die täglich
von Staat und Kapital erpreßten Opfer vom Hals zu schaffen. Da es
an den Massen nicht liegt, wenn sie sich irre machen lassen in
ihrer "objektiven" Sehnsucht nach dem Sozialismus, verfällt ein
Idealist des Klassenkampfes, der mit aller Inbrunst den Leit-
spruch "Dem Volke dienen!" zum Lebensinhalt erkoren hat, glückli-
cherweise selbstkritisch auf sich selbst, wenn er den Sieg des
"subjektiven" Interesses bremsen will. Wer sich statt der Über-
zeugung zum Klassenkampf der Liebe zum Volk verschrieben hat, das
ihn mit Mitleid erfüllt, der entdeckt auch bei sich schnell
V e r s ä u m n i s s e - und die bügelt er gründlich aus. Dem
revisionistischen Standpunkt ist deshalb die bemerkte Differenz
zwischen den Zielen seiner Partei und denen der Massen von Anfang
an ein Anlaß, diese Differenz als die Folge davon zu handhaben,
daß die Partei (noch) nicht klar genug gesagt hat, was sie ihren
Adressaten alles Gutes tun will. Eine P e r s p e k t i v e ha-
ben sie deswegen alle anzubieten, die bundesrepublikanischen Ver-
eine - und im Vergleich mit der Bewegung, als deren authentische
Erben sie sich alle anpreisen, hat ihnen "die Geschichte" das
Glück zuteil werden lassen, daß ihre Angebote nicht nur in der
matten Gestalt der Vorstellung auszufallen brauchen. Allesamt
huldigen sie in dieser Frage der R e a l i t ä t i h r e r
I d e a l e einem Realismus, der nur einen Mangel hat: er paßt
irgendwie nicht so recht zu den zwar bloß subjektiven, aber doch
recht lebendigen Interessen der Massen. Denn die deuten in kein-
ster Weise auf den Wunsch hin, ihr Verhältnis zu ihrer "Führung"
dahingehend abzuändern, daß eine der Varianten des Zusammenwir-
kens von Staat und Volk herauskommt, die ihnen als nicht nur mög-
liche, sondern schon ziemlich w i r k l i c h e Perspektive an-
empfohlen werden.
Die DKP, die ein Erbe wirklich für sich geltend machen kann, näm-
lich das der verbotenen KPD, und damit sogar moralische Plus-
punkte zu sammeln versucht (nach dem beliebten Schlußverfahren:
da verboten, gut!), will die westdeutsche Arbeiterklasse zuerst
in die antimonopolistische Demokratie und dann in den realen So-
zialismus à la DDR führen. Dort ist der ideale Sozialstaat ganz
ohne Kapitalisten verwirklicht, die Arbeit steht in der Gunst des
Staates ganz oben, und unter der Führung der Sowjetunion ist der
dazugehörige Block nicht nur eine Ansammlung von Vaterländern der
Werktätigen, sondern auch eine Macht. Einwände gegen die Zustände
drüben kennt die DKP eigentlich nicht, höchstens das Zugeständ-
nis, daß es manchmal "Schwierigkeiten" beim Aufbau gibt. Die Vor-
züge des gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens drüben ermittelt
sie durch das selektive Vergleichsverfahren, also: keine Krise,
keine Arbeitslosigkeit, und Atomkraftwerke in der Hand des Vol-
kes, in der Regierung nur Friedensfreunde und Antifaschisten.
Leider u n t e r s t e l l e n diese Eigenschaften immer noch
die Sehnsucht der Massen nach solchen Zuständen, sind also wenig
werbewirksam, weil die Massen diese Ideale der DKP trotz ihrer
bereits erfolgten Realisierung nicht teilen. Dem hat die DKP auch
irgendwie Rechnung getragen, ebenso wie den Schwierigkeiten, Kri-
tiker drüben hier einfach als Verbrecher oder Spione zu entlarven
und den Einmarsch in Afghanistan dem hiesigen Publikum als Frie-
densakt zu verkaufen. Deshalb gibt sich diese festgelegte Partei
in der BRD auch noch als die demokratischere, arbeiterfreundli-
chere und ganz und gar gewerkschaftlich orientierte Reformpartei
- spekuliert also ohne viel Federlesens darauf, daß auch sie
einen guten Nutznießer der "bloß subjektiven" Interessen abgeben
könnte. Warum auch dieser "Realismus" so wenig Früchte trägt,
ebenso wie die Anstrengungen von DKPlern, unter den Gewerkschaf-
tern die 150%igen zu stellen, soll hier ebensowenig wiederholt
werden wie die Frage, was denn die Arbeiter eigentlich davon ha-
ben, wenn....
Denn soviel ist klar: Zum Idealismus der Perspektive gehört immer
eine gesunde Portion Opportunismus u n d der Versuch, die Glei-
chung Parteiinteresse = Interesse der Massen umzudrehen, wie das
ja bei einer anständigen Gleichung erlaubt sein muß. Wer sich zum
Anwalt von eingebildeten Anliegen seiner Adressaten macht, dem
gebührt wohl auch das Recht, deren wirkliche Interessen zu be-
schlagnahmen und ihnen eine viel bessere Verwaltung ihres Gemein-
wesens zu offerieren, als sie die derzeitigen Favoriten in der
Gunst des Volkes ins Werk setzen.
Die "Maoisten" wissen zwar auch nicht so recht, welche Gründe die
Massen in ihrer beschissenen Lage haben könnten, ihren Dienst am
Kapital und ihren Konsens mit dem Modell Deutschland aufzukündi-
gen, doch ist ihnen aufgefallen, daß das westdeutsche Volk für
Ostberlin und Moskau als Perspektive rein gar nichts übrig hat.
So als wäre der Antikommunismus d i e Kritik am realen Sozia-
lismus, geben sie dem Volk, dem ihre Liebe gilt, ziemlich prinzi-
piell recht und verweisen - wieder einmal im Bewußtsein völliger
Übereinkunft mit den Massen - auf i h r e Perspektive, die
ziemlich weit hinten liegt. Ihr Mao ist nämlich gegen Moskau, und
in China herrscht echte Volksdemokratie. So durften - deutsche
Arbeiter ein Flugblatt zum 80. Geburtstag Mao Tse-tungs mit in
die Frühschicht nehmen und sich an der Botschaft erwärmen, daß
die KPD ganz im Geiste des Oberchinesen auf ihrer Seite sei. Da-
mit ist ihr der eindrucksvolle Beweis gelungen, daß ein Revisio-
nist, je realistischer er sich anwanzt, um so exotischer wird.
Inzwischen ist die Arbeiterklasse in der Früh- und Spätschicht
völlig orientierungslos, weil nach den letzten großen Sprüngen in
der KP des Hua, der neulich auch in der BRD war und allerlei be-
stellt hat, China als Vaterland der Werktätigen ziemlich zweifel-
haft geworden ist. Ein anderer K-Verein schätzt jetzt Albanien
als einzig konsequent revolutionäre Kraft im Weltgeschehen ein;
der KBW hält nach wie vor viel von der "Generallinie" der "Drei
Welten" und betört damit Hausfrauen am Samstagmorgen in der Fuß-
gängerzone. Der KB lag schon immer irgendwo dazwischen...
Daß ein linker Verein darauf verfällt, den verehrten Massen die
Weltlage ausgerechnet durch die Propaganda gelungenen Zusammen-
spiels von Volk und Staat auswärts zur Kenntnis zu bringen, hat
weder in der SU noch in China oder Albanien seinen Grund. Dazu
ist schon eine Einbildung ganz erlesenen Kalibers vonnöten, näm-
lich die, daß die Proleten hierzulande einerseits längst den tie-
fen Wunsch nach sozialistischen Zuständen hegen, den Kampf um
dieses Ziel jedoch mangels "konkret" ausgepinselten Vorbilds lie-
ber sein lassen. So befangen sind Westdeutschlands Linke in ihrer
Vorstellung, ein einziger geballter A u s d r u c k sämtlicher
Regungen des Volkes zu sein, daß sie ihre gesamte Zeit und Kraft
darauf verplempern, fiktive Hindernisse für einen erfolgreichen
Klassenkampf zu erfinden und durch eine Agitation "aus dem Weg zu
räumen", die ihre gewaltige Distanz zu dem, was ihre Adressaten
tun und im Kopf haben, nicht bloß b e z e u g t, sondern
s c h a f f t - und dem bundesrepublikanischen Kommunismus den
Ruf der weltfremden Spinnerei eingetragen hat. Und das noch nicht
einmal zu Unrecht: eine Linke, die kein einziges objektives Ur-
teil über das hat, was läuft in den Fabriken, in der Gesellschaft
und im Staat, weil sie in allem nur i h r V e r h ä l t n i s
bespricht zu denen, die sie mit ihrer Fürsprache beglücken will -
eine solche Linke versteigt sich eben zu Konstruktionen über die
Realität, die den Schwachsinn der bürgerlichen Intelligenz als
verständige Weltsicht erscheinen lassen. Denn im Unterschied zur
bürgerlichen Wissenschaft beharrt ein Revisionist bei seiner
Sicht der Dinge darauf, daß es auch wirklich so sei, wie seine
K l a s s e n a n a l y s e behauptet. Ja, er verlangt sogar,
daß die Menschheit sich praktisch seiner Weltsicht anbequemt.
Daß Revisionisten nichts über die Welt wissen, die sie aus den
Angeln heben wollen, heißt keineswegs, daß sie nicht viel über
diese Welt zu sagen haben. Klassenanalyse treiben ist seit den
Gründertagen eine Dauerbeschäftigung der linken Parteien: sie be-
steht in der Besichtigung der Republik als Schauplatz i h r e s
Kampfes, so daß alle am Kapitalismus beteiligten Charaktere nicht
so vorkommen, wie es sie gibt, sondern als e i n Moment im
K r ä f t e v e r h ä l t n i s. Gemäß ihrem politischen Ideal
ordnen Revisionisten noch jedem Stand einen p o l i t i-
s c h e n W i l l e n zu, sehen in Arbeitern, Gewerkschaftern,
Studenten und Sozialarbeitern, in SPDlern und Grünen immerzu eine
mehr oder minder gelungene Realisierung i h r e r Erwartungen.
Die ganze Republik wird am Ziel der Partei gemessen, und jede Tat
der feindlichen wie freundlichen Abteilungen auf dieses Ziel
b e z o g e n.
- Die A r b e i t e r sind die für die revolutionäre Bewegung
zuständige Basis der Partei. Mögen sie in all ihren Taten noch so
sehr für die Mehrung des Kapitals und für die Größe der Nation
einstehen, der geschulte Blick entdeckt in jedem Opfer eine
E r f a h r u n g, die dem im Proleten schlummernden Subjekt der
Revolution die Augen öffnet. Oder auch nicht, wofür dann allerlei
widrige Bedingungen und Machenschaften verantwortlich sind. Ga-
rantiert ist mit dieser Sichtweise einerseits, daß die Partei der
Arbeiterklasse die Kritik der Lohnarbeit und der dazugehörigen
Konkurrenz als L o b d e r A r b e i t e r betreibt und alle
Werke dieses g u t e n T e i l s der Menschheit als Fort-
schritte und Rückschläge in Richtung Revolution deutet. Ein Pro-
let mag von der Existenz der Vorhut seines Kampfes noch nicht
einmal Notiz genommen haben, und doch ist er schon unterwegs zum
Klassenbewußtsein, das ihm seine Erfahrungen besorgen. Die ganze
BRD als B e d i n g u n g des Klassenkampfes auffassen, heißt
eben auch, um die G r ü n d e für den Kommunismus kein großes
Aufheben machen: so darf sich im Notfall auch einer, der statt
bisher SPD jetzt CSU wählt, von einer Organisation mit K im Namen
bescheinigen lassen, daß er das Scheitern des Reformismus belege
und dessen Illusionen durchschaut habe. Da die Theorie dieser
Linken in nichts anderem besteht, als der Welt die Deutung anzu-
hängen, sie sei die Realisierung d e r Bewegung, die ein Linker
schätzt, geraten die "Einschätzungen" grundsätzlich zum Witz.
Nicht nur ist es besonders blöd, ausgerechnet in der BRD, wo es
nicht einmal eine Bewegung gegen staatliche Mißwirtschaft, ge-
schweige denn einen gewerkschaftlichen Kampf gibt, Revisionist zu
spielen - das Hin und Her zwischen politischem Ideal und der ihm
anzugleichenden Realität sorgt hierzulande auch dafür, daß Revi-
sionisten den traditionellen Blödsinn enorm überbieten. Was da an
Beweisen zusammengetragen wird, daß die Linie der Partei der
"realen Bewegung" e n t s p r i c h t, daß in der Welt also
nichts passiert, was nicht in den Fort- und Rückschritt der eige-
nen Sache aufgeht, spottet jeder Beschreibung.
- Sogar die K a p i t a l i s t e n, die ziemlich b ö s e
sind, weil sie sich von ihrer Profitgier treiben lassen und nicht
ruhen noch rasten, um die Arbeiterklasse nicht nur auszubeuten,
sondern auch mit allerlei Tricks und Lockmitteln zu spalten, sind
für die Interpretation des Klassenkampfgeschehens nicht n u r
böse; auch sie bilden einen festen Bestandteil der Welt, die sich
ein Linker als C h a n c e der Bewußtwerdung der Massen aus-
malt. Sicher, manchmal gelingt es ihnen noch, dem Volk Sand in
die Augen zu streuen, aber je ekelhafter sie zuschlagen, desto
offenkundiger wird für die Arbeiterklasse, daß sie mit diesen
Burschen Schluß machen muß. Die Logik des Seins, das das Bewußt-
sein macht - die vulgäre Verdrehung eines berühmten Satzes -,
wird von den Revisionisten Westdeutschlands unermüdlich bemüht:
was auch passiert, im Betrieb, auf dem Arbeitsmarkt, in der
Stadtverwaltung - alles erspart den Adressaten und mit ihnen der
Partei, sich einen richtigen Gedanken über das zu machen, was mit
ihnen angestellt wird; weder das falsche Bewußtsein ist das Werk
der Massen, noch können sie sich der Entwicklung ihres Klassenbe-
wußtseins widersetzen. Und hier haben die Techniken der Ausbeu-
tung, die sich Kapitalisten ständig ersinnen, ihren festen Platz
im System des revisionistischen Weltbildes; ihre "riesigen Pro-
fite" zeugen nicht vom Gelingen der Ausbeutung und davon, daß die
Proleten mitmachen - umgekehrt ist es: ihre maßlose Pro-
fit g i e r bewirkt täglich aufs schärfste den Widerstand der um
die gerechten Früchte ihrer Arbeit betrogenen Massen. Leute, die
jeden "Seminarmarxist" schimpfen, der sich mehr als ausgewählte
Kapitel aus "Kapital 1" studieren traut, schaffen es, mit Hilfe
ihrer Interpretationskünste in einem Atemzug zu erzählen, daß die
Krise "auf dem Rücken der Werktätigen ausgetragen wird", u n d
den Werktätigen zu versichern, daß ihnen die Krise mit allen fäl-
ligen Opfern die Chance gibt, nicht mehr länger auf die Listen
ihrer Peiniger hereinzufallen; ganz akademisch dazugesetzt wird
bei manchen Exemplaren des bundesdeutschen Kommunismus auch noch
die Versicherung, daß "die Krise des K a p i t a l i s m u s"
für die Volksmassen nun kein Geheimnis mehr bleiben könne....
- Die Klassenanalyse wird natürlich mit ihrem Universalschlüssel
auch bei der G e w e r k s c h a f t fündig. Ihr P l u s ver-
merkt die Einschätzung wieder unabhängig von der Realität, also
unter Absehung von allem, was sich der DGB gegenüber den Mitglie-
dern und unter ihrer Billigung leistet. Hier hat die Arbeiter-
klasse eine Organisation, hier bildet sie eine Einheit - und das
bedeutet für einen Anbeter des Proletariats schon allerhand. Die
Einheit ist schon die halbe Revolution, so daß die andere Hälfte
das zu lösende Problem darstellt; das M i n u s liegt selbst-
verständlich nicht im geringsten bei den Arbeitern, die ja in ih-
rer gewerkschaftlichen Einheit schon den Beweis angetreten haben,
wie sehr ihnen der Klassenkampf am Herzen liegt. Da also eine
korrupte Führung sich bürokratisch über die Anliegen der Basis
hinwegsetzt, lauter Bonzen die Bürokratie dazu benützen, die
Kampfbereitschaft der Arbeiter zu ersticken, konnte die Linke
nicht umhin, einen imaginären Aufstand der demokratischen Basis
gegen die undemokratischen Arbeiterverräter zu inszenieren - und
mußte wieder einmal eine bittere Erfahrung hinnehmen. Ohne große
Kenntnisnahme und schon gleich ohne Murren bei der Basis wurden
die linken Gewerkschaftskämpfer hinausgesäubert (nicht einmal das
organisatorische Denkmal ganz aufrechten gewerkschaftlichen Kämp-
fertums, Arbeiter-Stimmme bzw. -Politik in Bremen, Hamburg und
Nürnberg, ist bei aller Treue zur gewerkschaftlichen Einheit vor
Kommunismusverdacht sicher!), zuweilen sogar unter tätiger Mit-
hilfe der anderen Front linker DGB-Aktivisten. Die DKP hat sich
nämlich in ihrer realistischen Deutung der Bedingung, die eine
Gewerkschaft für die Demokratie und den Weg zu ihrer antimonopo-
listischen Fortentwicklung darstellt, auf das Plus des DGB ver-
steift: er i s t die Organisation der entscheidenden Fort-
schrittsmacht Arbeiterklasse und darf seine demokratische Sub-
stanz nicht den Störmanövern von "Chaoten" ausliefern. So kann
man es natürlich auch machen: diese Sorte Kommunisten läßt grund-
sätzlich keine Kritik am DGB aufkommen und stellt ihre Arbeit
ganz und ohne revisionistische Zusätze in den Dienst des Vereins,
steuert zur Abteilung "antikapitalistische Phraseologie" einiges
bei und hilft mit, den Laden zu schmeißen. Dabei ist nicht einmal
bei solchem Dienst die Dankbarkeit der Offiziellen in der Staats-
gewerkschaft sicher! Korrekterweise fällt einem DKPler noch zu
jedem Arbeitskampf die Weisheit ein, daß enorm viel Solidarität
zu spüren gewesen sei, auf die Veranstaltungen schickt die Partei
wie zum 1. Mai ihre ortsansässigen Song-Gruppen - und an den Uni-
versitäten agitiert ein MSB nicht für den Marxismus oder die Par-
tei, sondern o r i e n t i e r t gewerkschaftlich.
Das Ideal der anderen Revisionisten hatte seine lichten Momente,
in denen es Realität gewesen sein soll, in der Zeit vor der Grün-
dung, nämlich in den legendären September-Streiks, als die linke
Studenten-Bewegung urplötzlich die Kraft des Fortschritts ent-
deckte. Heute gilt es, jeden Anscheins von Verlegenheit Herr zu
werden, die sich mit der schwächlichen Ausbeute aus den Bedingun-
gen des gewerkschaftlichen Kampfes einstellen könnte - und dafür
sind eben wieder negative Bedingungen und ein paar Schuldige zu-
ständig. Der übermächtige Druck der Krise stiftet Unsicherheit
und tut hier genau dieselben Dienste wie die "Zugeständnisse der
Herrschenden" in einer anderen Phase der Konjunktur. Wo die Lage
"Bedingung" ist, kommt bei ihrer Verbesserung dasselbe heraus wie
bei ihrer Verschlechterung, und daß ein anderes Mal die Krise
wieder Chancen eröffnet, macht einem geschulten Revisionisten
überhaupt keine Schwierigkeiten. Insgesamt steht es um die west-
deutsche Bewegung nämlich deshalb immer schlecht, weil der Fa-
schismus die K o n t i n u i t ä t des Klassenbewußtseins un-
terbrochen hat. Dies wiederum verträgt sich bestens mit der Be-
geisterung dafür, daß nach dem Kriege sozialistische Ideale sehr
hoch im Kurs standen bei allen politischen Parteien und die ganze
werdende Republik ein Hort der Perspektive war. So sieht einer
die Geschichte, der seinen eigenen politischen Willen für den
Ausdruck ihrer Tendenz halten möchte. Im Zweifelsfalle kann er
deswegen auch vom "bloßen Syndikalismus" und "Ökonomismus " Ab-
schied nehmen und den "subjektiven Faktor" in Rechnung stellen,
also ganz zum Schluß für alle Fälle und unter diskutierender Mit-
wirkung von vielen Theoretikern der Probleme des Klassenkampfes
(allein zwei dicke Fraktionen in Berlin-West, der Wiege des gan-
zen Blödsinns) p s y c h o l o g i s c h den so sehr vermißten
revolutionären Willen der Proleten deuten: sie k ö n n e n gar
nicht wollen.
- Der B R D - S t a a t eignet sich nicht minder für die kon-
krete Anwendung der Dialektik von Hoffnung und Enttäuschung. Mit
der Behauptung, man habe es mit einem K l a s s e n s t a a t
zu tun, ist nämlich noch gar nichts gesagt; und dies nicht des-
halb, weil es auch darauf ankommt zu wissen, w i e sich der
bürgerliche Staat in allen seinen Taten der Erhaltung und des
Fortschritts seiner Klassengesellschaft annimmt, sondern, weil
auch der Klassenstaat e i n g e s c h ä t z t und für die revi-
sionistische Politik fruchtbar eingesetzt sein will. Sooft dieses
Instrument der herrschenden Klasse etwas vorhat oder durchführt,
werden daher A l t e r n a t i v e n ersonnen, die dem Volke -
unter diesem Ehrentitel taucht neben der Arbeiterklasse noch
manch anderer Zeitgenosse auf, wenn er nicht (Groß-)Kapitalist
ist - nützen. Der souverän gehandhabte Maßstab ist das Ideal der
Demokratie, jene Vorstellung also, daß die Massen ein R e c h t
drauf hätten, Nutznießer der über sie ausgeübten Herrschaft zu
sein, nur weil sie ihr auch noch zustimmen. Dieses Ideal vertritt
außer den Revisionisten niemand, so daß ihnen der Stoff nie aus-
geht, eben dies zu beweisen. Die Langeweile revisionistischer
Staatsbetrachtung ist dadurch gewährleistet, daß das Ideal nütz-
licher Herrschaft zu ganzen Katalogen staatlicher Untaten ausge-
arbeitet wird, die vom Gestus der Anklage beseelt sind. An der
Haltung des A n w a l t s d e r M a s s e n werden sie durch
nichts irre, obgleich sie das Material ihrer wöchentlich erwei-
terten Anklageschrift der demokratischen Presse der BRD entnehmen
können - ihr Standpunkt macht eben von vorneherein die Frage
überflüssig, weshalb das mit den staatlichen Untaten beglückte
Volk in seiner alltäglichen Betätigung ebenso wie im Gebrauch
seines Wahlrechts nicht nur fügsam, sondern p o s i t i v an
der Ausübung der Staatsgewalt interessiert ist. Mit sicherem In-
stinkt dafür, daß eine solche Frage nur jemand zu stellen wagt,
der sich für den eingebildeten Konsens mit den Massen nie erwärmt
hat, verlegen sie sich lieber darauf, ihre auswärtigen Beispiele
für eine gelungene Harmonie zwischen Staat und Volk zu propagie-
ren und das Urteil in die Welt zu setzen, daß hierzulande die po-
litische Gewalt mißbraucht wird. Noch nicht einmal soviel wollen
sie über den Staat wissen, daß er wie alle anderen Formen der
Herrschaft höchst überflüssig wäre, wenn es nichts zu beherrschen
gäbe daß die Demokratie ausschließlich darin ihren Zweck hat, das
lohnende Funktionieren der Ausbeutung zu sichern - und daß in ihr
d e s h a l b nach den Klassenkämpfen der bürgerlichen Revolu-
tion oder nach einem Krieg der politische Wille der Klasse aner-
kannt, gebildet und kontrolliert wird, die im ökonomischen Leben
nichts zu lachen hat, daß also umgekehrt der politische Wille zur
Demokratie i n einer solchen alles andere darstellt als die An-
meldung von Ansprüchen.
Unbeeindruckt davon, daß in der Demokratie die politische
H e r r s c h a f t Zustimmung auf sich zieht, und tief beein-
druckt von der Z u s t i m m u n g des Volkes zu seiner politi-
schen Herrschaft beschimpfen sich Revisionisten wechselseitig mit
haargenau demselben Vorwurf, der ihnen von seiten der bürgerli-
chen Begutachter ihrer Erfolglosigkeit in aller Schadenfreude zu-
teil wird. Sooft irgendeine Fraktion der Linken an einer ihrer
Kampagnen oder Aktionen nicht teilnimmt, begründet sie dies mit
dem S e k t i e r e r vorwurf - oder sie kriegt ihn zu hören.
Die einen ersparen sich dabei regelmäßig eine Kritik des falschen
Kampfes, die anderen beharren mit derselben Regelmäßigkeit auf
der Fiktion ihrer Gemeinsamkeit mit Gott und der Welt, wechsel-
seitig machen sie die S p a l t e r von der Gegenseite für das
Ausbleiben greifbarer Erfolge verantwortlich - und daß das Ange-
bot einer volksnützlichen, selbstlos inszenierten Alternative
nichts mit einem Kampf gegen den bürgerlichen Staat zu tun hat,
merken sie alle nicht. So sehr haben sie sich in die Vorstellung
verrannt, daß eine Aktion von Kommunisten unmöglich eine Diffe-
renz zu den Massen, dagegen immer nur deren ursprünglichste Sehn-
sucht "zum Ausdruck" bringen kann, daß sie Kritik an sich n u r
nach e i n e m Muster zurückweisen: die anderen sind, was die
Massen nie sein können, Parteigänger des Staates!
Dabei offenbaren sie ihren eigenen Staatsidealismus in Kabinett-
stücken politischer Analyse, die mit der Z u s t i m m u n g
z u r H e r r s c h a f t, die sie vorfinden, gleich auch noch
ihren Frieden machen. D a ß Demokratie gemacht gehört, ist das
ein Jahrzehnt heruntergebetete Glaubensbekenntnis dieser Linken
gewesen - und wird es wohl auch nach ihrem Selbstzerstörungspro-
zeß bleiben. Daß sie eine g u t e Demokratie sein muß, war der
zweite Glaubensartikel, an dem die Geister sich überhaupt nicht,
die Parteien dafür nach Kräften schieden. Neben den Offerten ans
Volk, die ihm mit V o l k s demokratien kamen und vom Drang
zeugten, sich als bessere, gerechtere, ehrbarere Politiker darzu-
stellen, die das Vertrauen des Volkes eigentlich verdienen, mach-
ten sie auch noch durch die StaMoKap-Theorie auf die prinzipielle
Übereinstimmung ihres Ideals wirklicher Souveränität mit demokra-
tischen Souveränitätsgepflogenheiten aufmerksam. Da wird nicht
einmal der Wille derer, die unseren Staat schmeißen, ernstgenom-
men, stattdessen ihre H ö r i g k e i t gegenüber den Monopolen
beschworen, wobei natürlich eine gewisse Auseinandersetzung über
den G r a d der "Verschmelzung", "Kooperation" und "Korruption"
nicht ausbleiben konnte. So gelangen Leute, die den
K l a s s e n s t a a t bekämpfen wollen, zu eben der Vorstel-
lung, die sie sonst zu kritisieren vorgeben: in drei freigewähl-
ten linken Händen ließe sich die Staatsgewalt auch ganz anders
und viel besser verwenden. Der existente Staat ist für solche
Leute immer auch ein p o s i t i v e r Anhaltspunkt; und wer
davon nichts hält, muß sich von den Vereinen zur Abschaffung des
kapitalistischen Staates sagen lassen, er würde nur "negativ"
kritisieren, könne keine "Perspektiven" konkreter Veränderbarkeit
angeben und sei damit auf den Schein staatlicher Allmacht herein-
gefallen. In einer Demokratie, deren Verkehrsformen zwischen
Staat und Volk die Emanzipation des Staates von allen Ansprüchen
der arbeitenden Klasse bis zur Perfektion getrieben haben, prä-
sentieren die Linken sich letzte Sachwalter demokratischen An-
stands und emanzipieren s i c h ganz ideal von den Sorgen, die
die verehrten Massen aufgehalst kriegen. Den Beweis, die eigent-
lichen Saubermänner in Sachen Volksvertretung zu sein, haben sie
alle angetreten: mal mit dem Pochen auf freie und geheime Wahl
sämtlicher Staatsfiguren bis hinunter zum Oberfeldwebel, mal mit
dem Wahlversprechen ganz gläserner Kassen für den Fall ihrer
Wahl, und immer wieder mit dem genuin a n t i f a s c h i-
s t i s c h e n Hinweis auf m ö g l i c h e Untaten der
Staatsgewalt, dargelegt an Personen, die sich nicht erst in
unserer schönen Republik im politischen Geschäft bewähren.
Für diese Glanzleistungen, die aus der schieren Tatsache, daß die
BRD kein Faschismus ist, dieser ein K o m p l i m e n t machen,
haben sie ihre ganze Phantasie aufgeboten. Herausgekommen ist au-
ßer dem Kompliment das untrügliche Geständnis, daß die besten De-
mokraten in der BRD die Kommunisten sein wollen, weil sie Angst
um die manierliche Führung der Staatsgeschäfte durch ebenso ma-
nierliche Politiker haben. Sie sind eben die einzigen, die diese
Republik nicht für echt halten, und riskieren dabei sogar den
harten Vorwurf des "Realitätsverlusts", den sie in ihrer Replik
so ungeschehen Machen: sie bemühen sich die G e s c h i c h t e
unseres Staates, der ihnen nicht als Vervollkommnung der demokra-
tischen Herrschaft, sondern als "Abbau der demokratischen Rechte"
vorkommt. Ganz nebenbei verraten sie, daß für sie ein
S o z i a l staat nie ein K l a s s e n staat sein, sondern eine
einzige V e r s c h l e i e r u n g des Klassencharakters dar-
stellt. Reformismus streut dem Volk Sand in die Augen, was nur
dadurch geht - um der Logik auch dieses Arguments gerecht zu wer-
den -, daß er dem Volk manches erspart und bietet.
Die revisionistische Betrachtungsweise entsteht aus der Sehnsucht
nach einem gerechten Staat und erzeugt in ihr ihre
"Fortschritte". Psychologische G r ü n d e sind es nicht, die
den Linken ihr Weltbild eingeben - was sie nicht hindert, sich
dieser Lüge in ihren innerlinken Grabenkämpfen selber anzuschlie-
ßen. Daß sie vollends für verrückt erklärt werden, wenn sie
Staatsmaßnahmen aus der Not der Regierung bei der Verhinderung
i h r e s Erfolgs ableiten und mit ihren persönlichen Opfern für
die Demokratie, die sie meinen, werben, ist allerdings auch wie-
der kein Wunder. Wer soll eigentlich solche V o r b i l d e r
imitieren, um ausgerechnet die Demokratie zu retten vor F.J.
Strauß, den er vielleicht, vielleicht aber auch H. Schmidt
(Antifaschist? Demokrat? Arbeiterverräter? Oder was?) wählt!
- Die I n t e l l i g e n z bietet für die klassenanalytische
Einordnung Probleme und Erleichterung zugleich. Letztere besteht
darin, daß sie keine Arbeiter nicht sind, also kein revolutio-
näres Subjekt in ihnen steckt. So wenig ein Revisionist einem Ar-
beiter etwas Schlechtes nachsagt, auch wenn er sich "noch nicht"
zu seiner Mission berufen fühlt und sich vorerst von Reaktionären
einseifen und falschen sozialdemokratischen Fünfzigem verraten
läßt - auf ihn s e t z t ja die Partei, statt ihn von der Nütz-
lichkeit des Kommunismus zu überzeugen -, so einfach findet er
eine üble Nachrede für einen Studiker: es handelt sich um eine
s c h w a n k e n d e Z w i s c h e n s c h i c h t. Daran
stört einen Linken, der gerade eine Partei aufgemacht hat, weder
die Tatsache, daß er vielleicht selber ein paar Semester herun-
tergerissen hat und jetzt doch einigermaßen entschlußkräftig auf
Revolution sinnt - noch die andere unbestreitbare Tatsache, daß
ganz Bonn, der Beamtenapparat, die Führungsmannschaft jedes an-
ständigen Unternehmens und die Welt der Wissenschaft von resolu-
ten akademischen Unholden nur so wimmelt. Ein Problem wird aus
dem Befund in anderer Hinsicht: müßte nicht gerade aus der Unzu-
verlässigkeit für die falsche Seite mancher Bundesgenosse zu ho-
len sein? Hat die Geschichte der Arbeiterbewegung, in der jenes
Urteil über die Intelligenz von einem Angehörigen der Intelligenz
gefällt wurde, nicht auch vom "Bündnis von Proletariat und Wis-
senschaft" gelehrt? Und schließlich: gab es nicht auch in Rußland
eine Studentenbewegung? Also war hier noch einiges zu klären, und
zwar je nach Partei auf verschiedne Weise - wobei ganz nebenbei
auch der - vorläufigen - Beschränkung auf die Intelligenz Genüge
getan weiden konnte.
Aber auch hier entwickelte der realistische Sinn des Revisionis-
mus recht exotische Blüten. Zunächst wurde mit Marx gestritten um
die Zugehörigkeit zum "produktiven Gesamtarbeiter", woraus die
Lösung der Frage erwachsen sollte, ob man auch hier ein
"objektives Interesse" an der Morgenröte des Sozialismus erhoffen
dürfe. In einfacherer Fassung gibt es diesen Schmarrn, der auch
bei Arbeitern doof genug ist, heute als Tendenz: zum Lohnarbeiter
werden sie alle "degradiert", um das und in ihrem Studium müssen
sie konkurrieren, im Hörsaal ist kein Platz und die Lebensbedin-
gungen sind insgesamt "studentenfeindlich". Also nicht mehr lange
fragen, warum die Studenten das mitmachen, sondern ihnen einfach
sagen, wie schlecht es um sie steht - die Perspektive an der
Seite der gewerkschaftlich-orientierten Arbeiterklasse ist gesi-
chert. Einer Partei war das suspekt, so daß ihr der Klassengegen-
satz zwischen "besitzenden" und anderen Studenten auffiel; die
Parole "Arbeiterkinder an die Uni" konterte sie mit ihrer Deutung
der "Studienverschärfung": hier liegt ein Anschlag der Bour-
geoisie auf die Arbeiterkinder an d e r Uni vor - und das er-
zählt sie seitdem in der Hoffnung, daß sich die studentischen
Massen für den Klassenkampf begeistern, statt durchs Studium in
den Genuß eines angenehmeren Lebens kommen zu wollen.
Alle Varianten ermöglichten auf ihre Weise wieder einmal präch-
tig, alles, was man von bürgerlicher Seite zu hören bekam, auf
die Konkurrenz schöpferisch anzuwenden: die anderen finden keinen
Anklang, sind also nicht nur"sektiererische Chaoten", sondern
auch - I n t e l l e k t u e l l e. Gegen deren I d e o l o-
g i e n mußte man also etwas sagen, so daß ein herzerfrischender
Kampf gegen die bürgerliche Wissenschaft einsetzte, aber nicht
mit den Mitteln der Wissenschaft, sondern mit Hilfe der je
eigenen M o r a l. Es galt, grundsätzlich zwischen "fort-
schrittlichen" und "reaktionären" Gedanken zu unterscheiden, und
für diesen Unterschied wurde erst einmal "Marx an die Uni"
berufen - selbst hatte man sich ja die Wissenschaft von Marx spa-
ren können bis zu diesem Zeitpunkt, an dem der Standpunkt es nun
doch erforderlich machte. So wurden an bundesdeutschen Universi-
täten Marx & Engels gelesen, wo immer das Thema und ein fort-
schrittlicher Hochschullehrer, der über der Studentenrevolte sein
Herz für die Reform der Hochschule und ihren sozialen Auftrag
entdeckt hatte, es zuließen. Das Ergebnis war einigermaßen beru-
higend: die Berufung von/auf Marx sorgte dafür, daß erstens alles
"gesellschaftlich" betrachtet wurde und zweitens der Student sich
betrachten durfte als einer, der sich unter Anleitung oder im Un-
terschied von der Massenorganisation der Partei als Problem be-
handeln muß. P s y c h o l o g i s c h wurden die Fragen "Wo
komm' ich her? Wo geh' ich hin?" also auch breitgetreten, so daß
weniger die revisionistischen Parteien als die bundesdeutschen
Hochschulen Fortschritte machten. Ideologisch durch die Moderni-
sierung der Lehre und Forschung - heute endlich ist jedes Fach
psychosoziologische Philosophie der Demokratie -, personell durch
die Bestückung der Universitäten mit fortschrittlichen Hochschul-
lehrern und ähnlichem Zeug. Heute jedenfalls braucht es nicht
mehr die Initiative einer echten Partei, um sich an T h e m e n
wie Bauernkrieg, Vormärz, Neofaschismus, Arbeiterbewußtsein und
Sprachkritik und der dazugehörigen E i n b i l d u n g zu be-
rauschen, man tue etwas ungeheuer Soziales und habe ein Verständ-
nis zu den Menschen draußen und in der Geschichte. Das Verhält-
nis, das man h a t - das Bewußtsein, im und durchs Studium eine
ungeheuer soziale Tat zu begehen -, geht eben auch mit einem ge-
wöhnlichen und nicht auf Weltrevolution hin orientierten Idealis-
mus, also auch ganz ohne die E m p ö r u n g, aus der damals
die Arbeiterparteien den letzten Punkt ihrer Klassenanalyse ver-
fertigten, die korrekt der Parteilinie entnommene Begutachtung
des
- I m p e r i a l i s m u s. Auch dieser stellte sich recht zwie-
schlächtig dar: an der Empörung der Studenten über Vietnam und
andere Massaker war abzulesen, daß für Demokraten, die wenigstens
das Ideal der Gewaltlosigkeit des Staates nach außen haben, der
Imperialismus eine U n g e r e c h t i g k e i t ist und als
solche die berechtigte Parteinahme für den Sieg anderer Völker
verlangt. An den bereits e r r u n g e n e n Siegen, für die
die Parteien Partei ergriffen, entstand wieder einmal Streit.
Hier ging es um die Staaten, die jedermann als Vorbild taugen
sollten - und auf diesem Felde haben Idealisten gerechter Herr-
schaft samt der dazugehörigen Außenpolitik nun einmal
unterschiedliche Meinungen. Diese lassen sich nicht einmal in den
schönen Solidaritätsveranstaltungen überbrücken, auf denen die
einen für Zimbabwe einen heben, dasselbe Verfahren aber in Sachen
Äthiopien schärfstens mißbilligen und das für zynisch halten,
weil Unterstützung des Sowjetimperialismus. Umgekehrt, umgekehrt
- und so ist nicht nur über den Imperialismus wie über alles
andere auch wenig herausgekommen. Die anti-imperialistischen
Aktivitäten, selbst die in den Betrieben, sind zunehmend
abgeflaut; und da ohne Praxis keine Theorie geht in diesen
Kreisen, wird wohl auch die Debatte China - Cuba - UdSSR -
Albanien nie zu einem guten Ende kommen - wenngleich noch immer
ein Blick auf bevorzugte Befreiungsbewegungen, deren "Basis"
garantiert nicht weiß, wo die Imperialisten wohnen, die ihnen die
Waffen in die Hand drücken lassen, gute Dienste leistet für die
Lüge von einer Welt im Aufbruch, deren Tendenz man selbst ein
Teil ist. Den Abschluß einer gescheiten Klassenanalyse hat eben
von jeher die internationale Lage gebildet, zu der sich eine
ebenso feste Haltung und Perspektive gehört wie zu allen anderen
Unarten der bürgerlichen Welt, die man dieser vorzurechnen
gedenkt.
2. Die agitatorischen Leistungen des BRD-Revisionismus
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Mit den Urteilen über die kapitalistische Welt und ihre Agenten
ist zwar wenig über diese gesagt, dafür umso mehr über das unan-
fechtbare Sendungsbewußtsein von Leuten, die aus ihrer
W e l t a n s c h a u u n g kein Hehl machen und sehr stolz auf
sie sind. Sicherheit besitzen sie in bezug auf ihr
i d e e l l e s V e r h ä l t n i s zu den Ausgebeuteten, Un-
terdrückten, Zukurzgekommenen eben zur Mehrheit des Volkes, den
Massen, als deren Vertreter sie sich wähnen, weshalb sie auch mit
dem r e e l l e n V e r h ä l t n i s zu den Massen keine all-
zugroßen Schwierigkeiten bekommen. Jedenfalls ist ihnen in ihrem
Bedürfnis, sich als d e r Anwalt jeglicher Unzufriedenheit zu
präsentieren, kein Zweifel anzumerken - weder in bezug auf die
faktische Übereinstimmung mit den Interessen ihrer Adressaten
noch hinsichtlich der Konsequenz, die ihre Sichtung der Welt nach
sich zöge, wäre sie wahr. Als Anwälte des Volkes, die seine urei-
gensten Wünsche realisieren, müßten sie keine Silbe an die guten
Massen und über die volksverachtenden und menschenfeindlichen
Bosse und Reaktionäre verlieren. Die Parolen von denen, die sich
alle vereinigen und erheben sollen, wären ebenso überflüssig wie
die vielfältigen Angebote zum Dienen. Da sie aber in ihrer Klas-
senanalyse sämtliche Klassen (und nicht nur die) auf ihr Ideal
einer gerechten Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft beziehen
und sie per definitionem mit den Eigenschaften ausstatten, die
für die Erfüllung der "Mission" vonnöten sind, bleibt den Revi-
sionisten angesichts gewisser Zögerlichkeiten in der Durchführung
des Parteiprogramms doch nicht alles erspart. Zwar haben sie mit
ihrem Staatsidealismus, in dem sie das Volksbedürfnis nach zu-
stimmungswürdigen Dienern anerkennen, der Verlegenheit vorgebaut,
die Massen k r i t i s i e r e n und davon überzeugen zu müs-
sen, daß es für s i e das Beste ist, Klassenkampf zu machen und
als Gegner der politischen Herrschaft aufzutreten - agitieren
aber müssen sie schon, eben für ihre linke Sorte Politik als
"Ausdruck des Volkswillens".
Für dieses Agitationsgeschäft eignet sich nun allerdings die
Klassenanalyse hervorragend. Sie ist unmittelbar eine ganz
p r a k t i s c h e T h e o r i e, weil sie gleich die
M e t h o d e des gesamten Verkehrs mit den Massen darstellt,
denn sie enthält alles, was über die bestehende Einheit von Mas-
sen und Parteilinie gesagt werden muß; die gesammelten Hinweise
auf den Stand der Bewegung, wie ihn die Partei sieht, damit sie
sich als Ausdruck wiedererkennt, liegen da vor - so daß alle
Adressaten nur noch mit dem für sie geeigneten Trumm Weltbild
ausgerüstet werden müssen.
Immer brauchbar sind da die sprachlichen Varianten, deren ein Re-
visionist mächtig ist, wenn er an den von ihm längst erkannten
Kampfeswillen a p p e l l i e r e n will. "Jetzt reicht's!",
"Das Maß ist voll!" sind da noch die leichtesten Übungen, denn da
gibt es noch den chinesischen Imperativ, den längst auch die So-
wjetfront anzuwenden versteht: "Für die eigenen Interessen kämp-
fen!" Falls zufällig Studenten gemeint sind, gehört hinzugesetzt:
"Mit der Arbeiterklasse verbünden!" Falls Zweifel aufkommen ("was
denn nun?"), ist irgendetwas mit "Seite an Seite" oder so ratsam.
Die politische Rhetorik macht da wirklich keinen Unterschied zwi-
schen den Bildungsunterschieden, weil sie ihre eigenen, ganz pri-
mitiven Gesetze befolgt und jenseits allen üblichen Sprachge-
brauchs operiert. Da wird ein "unerhörter Anschlag" gestoppt, so-
bald überhaupt ein Konflikt stattfindet, und wenn für jeden Blöd-
mann ersichtlich nichts Gescheites herauskommt, muß die Nachbe-
reitung der Affäre umso sorgfältiger vollzogen werden. Einerseits
war es ein "konkreter Teilerfolg", der manchmal schon darin be-
steht, daß etwas "gelaufen ist" - "bei den Kolle-
gen/Kommilitonen", die sich aber noch mehr auf die Tugend der
"Solidarität ist unsere Waffe" besinnen müssen. Das nächste Mal,
wenn sich die "Betroffenen wehren müssen", ist dann gleich eine
Warnung zur Stelle: "Laßt euch nicht täuschen... spalten... die
Butter vom Brot nehmen!", was auch ganz hübsch klingt, wenn der
Appell gleich in der 1. Person ertönt: "Wir dürfen nicht resi-
gnieren!", weil die Herrschenden darauf ja nur warten. "Wir müs-
sen uns gut vorbereiten!", "noch umfassender und konsequenter",
"die Erfahrung hat uns gelehrt, daß" vor allem "das Bündnis noch
breiter und fester geschmiedet werden muß", um mit den tausend-
fältigen Manövern der Bosse fertigzuwerden. Zur Weckung allgemei-
ner Aufmerksamkeit eignet sich die Versorgung der Bevölkerung mit
Sinnesorganen: Die Kollegen/Studenten haben erkannt..." "lassen
sich keinen Sand in die Augen streuen", "erinnern sich sehr genau
an...", wobei diese originelle Vorform der Organspende günstigen-
falls mit dem Aufruf endet: "Kommt massenhaft!". Empfehlenswert
auch die lockere Einordnung des eigenen Getöses in eine größere,
kaum noch aufzuhaltende Tendenz: "Immer mehr haben erkannt...",
"die Aktion hat gezeigt, daß die demokratische Bewegung überall
Fortschritte macht" - ein Verfahren, bei dem es überhaupt nicht
darauf ankommt, ob ein paar Studenten lieber nicht so viele
Scheine machen möchten, ob ein paar Studentinnen für mehr Frau an
der Uni eine Wandzeitung gemacht haben - oder ob im Hafen ein
Streik wieder einmal eine einzige Kostenfrage geworden ist. Die
Erfolgsmeldungen können aber auch ganz anders laufen; es muß
nicht immer ein Wink mit der Zukunft oder dem Zusammenhang sein,
den die Partei sieht man kann zum Beispiel vermelden, daß jeden-
falls "nichts Schlechteres" als ohne den Tumult herausgekommen
sei, und auf die gemeinsame Erfahrung pochen, daß "Kampf möglich"
ist. "Werdet aktiv!", und zwar "selbst", denn "ohne eine Unter-
stützung" läuft nichts, mit ihr geht's schon. Auch ein Lob macht
sich nicht schlecht, wenn schon Tadel nicht zulässig ist. Obwohl
nur ganz wenige, ziemlich "eindrucksvoll", das Zeugnis von der
"Entschlossenheit". Nie darf man für irgendeine Maßnahme sein,
ohne sie "entschieden" zu befürworten, und der Schein breiter be-
wegter Wirksamkeit heizt die Massen geradezu auf. Was liegt da
näher, als vom weitest entfernten Ortsverband eine Grußadresse zu
ordern, eine Resolution zu beschließen, sie zurückzuschicken und
draufzuschreiben: "Nicht locker lassen, Kommilitonen/Kollegen!".
Solidaritätserklärungen immer abstimmen lassen, heißt übrigens
die zweitwichtigste Technik der öffentlichen Veranstaltungen, an-
schließend die Anwesenden mal zwei plus zwanzig - das gibt Kraft!
Diese Praktiken beschränken sich keineswegs auf den Bündnispart-
ner, die an die Seite der Arbeiterklasse getriebene Intelligenz.
Auch die "Hauptkraft" Arbeiterklasse selbst kommt in den Genuß
wohlwollender revolutionärer Interpretation ihrer Taten. Eine Ta-
rifrunde, die streng nach dem gewerkschaftlich vorgesehenen
Schema abläuft, wird von der ersten bis zur letzten Minute zur
Veröffentlichung revisionistischer Illusionen benützt. Das Thea-
ter um die Aufstellung der Forderung bewegt die für die Führung
des Kampfes bereitstehenden Parteien zu "taktischen" Überlegun-
gen, die dem längst ausgemachten Kampfeswillen seine adäquate
Verlaufsform geben sollen. Die Forderungen der Linken, die sie
alternativ zu den Gewerkschaften in die Debatte werfen, liegen
manchmal über, bisweilen aber auch unter den Prozenten der Tarif-
kommission - und das kommt daher, weil ein Linker von einer For-
derung verlangt, daß sie nicht spaltet, sondern
v e r e i n h e i t l i c h t. Stets fingiert die Agitation im
Rummel der Tarifrunden das B e d ü r f n i s nach solidarischem
Kampf, und immer wird dieses erfundene Bedürfnis von spalteri-
schen Bonzen hinterlistig umgangen (dies ist das ganze Konzept
der RGO!).
Daß etwas für die Einsicht in die N o t w e n d i g k e i t des
Kampfes getan werden muß, daß sich erst auf Grundlage dieser Ein-
sicht die Überlegung einstellt, effektiv vorzugehen, erscheint
den Revisionisten angesichts der "in Bewegung" geratenen Basis
als ziemlich absurde Vorstellung. Schließlich haben sie sich
längst mit der Arbeiterklasse darüber ins Einvernehmen gesetzt,
daß nach Lenin "der Kapitalismus in seiner monopolistischen Peri-
ode faulender, sterbender Kapitalismus" ist; schließlich haben
sie außer solchen weltgeschichtlichen Statements auch noch Flug-
blätter in den Betrieben verteilt, die das R e c h t und die
Möglichkeit des Kampfes um einen gerechten Lohn aus den hohen
Profiten der Bosse ableiten; jede Partei hat denen, die die Aus-
beutung erfahren, mit handfestem Zahlenmaterial über das Mißver-
hältnis zwischen Konzerngewinnen und Arbeiterlöhnen das Bewußt-
sein vermittelt, daß es so nicht weitergehen könne - also mit Be-
rechnungen über das M a ß d e r A u s b e u t u n g und den
sie begleitenden Karikaturen (schwitzende Proleten ziehen Wagen
mit Zylindermännern drauf!) gezeigt, auf wessen Seite sie steht
und so ihrem Anspruch Genüge getan, im Proletariat "verankert" zu
sein. So als wäre der Reichtum der Bosse und nicht die Armut der
ihn produzierenden Proleten der Grund für den Klassenkampf, sind
die auf Verankerung gegangenen frisch gegründeten Parteien mit
Berechnungen der Mehrwertrate an die Betriebe gegangen und unter-
einander in Streit darüber geraten, wie hoch das Ding nun eigent-
lich sei. Linke Theoretiker des Klassenkampfes haben ihre ökono-
mischen Bedenken zu den vorgelegten "Bilanzanalysen" angemeldet,
und allesamt haben sie Zahlen ermittelt, die ausgesprochen lä-
cherlich ausgefallen sind. Die schöpferische Anwendung der Kapi-
tallektüre, in der sich die frischgebackenen Parteigänger der
Massen i h r e Gründe suchten, für das Proletariat zu sein, en-
dete in der trostlosen Beschwörung der ungerechten Verteilung und
unendlich viel Mitgefühl mit den Zukurzgekommenen. Diesem Men-
schenschlag wurde also ständig bescheinigt, daß er in seiner gan-
zen Güte zum Opfer gieriger Gewinnemacher werde, so daß der
Standpunkt der M e n s c h h e i t aufs Erfreulichste zum Tra-
gen kam, den Marx schon bei den historischen Vorläufern dieser
Sorte Kommunismus feststellen konnte:
"Der Feind der Partei wird ganz konsequent in einen Ketzer ver-
wandelt, indem man ihn aus dem Feinde der wirklichen Partei, mit
dem man k ä m p f t, in einen Sünder gegen die nur in der Ein-
bildung existierende M e n s c h h e i t verwandelt, den man
b e s t r a f e n muß."
Die einschlägigen Phantasien, die vor allem beim KBW zur Blüte
gelangt sind, haben natürlich ihre andere Seite in der Vorstel-
lung gezeitigt, man müsse die Einheit mit der großen besseren
Hälfte der Menschheit durch so Quatsch wie "proletarischen Le-
bensstil" unter Beweis stellen; und die idealistische Einbildung
von einem Volk, das von den eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen
beflügelt ist, hat sich auch durch die Erfahrung mehrerer zehn-
jähriger Parteigeschichten nicht irre machen lassen. Daß die pro-
letarischen Massen am M a t e r i a l i s m u s ihrer Konkur-
renz, von dem sie nicht viel haben, festhalten, gilt einem Revi-
sionisten als Zeugnis dafür, daß er den I d e a l i s m u s der
Massen zu gering eingeschätzt hat: er hält seine falsche Agita-
tion mit der Ausbeutung für glatten Ö k o n o m i s m u s, be-
zichtigt sich also selbst, "nur" auf die materiellen Interessen
seiner Adressaten spekuliert zu haben, und landet beim
p o l i t i s c h e n K a m p f, beim Katalog der Alternativen
fürs demokratische Walten des Klassenstaats. Sogar zu den bürger-
lichen Ideologien von den nicht mehr vorhandenen materiellen Nö-
ten versteigt sich diese Linke, um in einer Bestechungstheorie
neuen Zuschnitts zu behaupten, durch Zugeständnisse aller Art auf
dem Feld der elementaren Lebensbedürfnisse seien dem Proletariat
von heute der Kampfesmut und die Perspektive des Sozialismus aus-
getrieben worden.
Da konnte die Suche nach V o r b i l d e r n in der Geschichte
der Arbeiterbewegung und in anderen Weltgegenden nicht ausblei-
ben. Außer einer stattlichen Bibliothek von Arbeiterromanen der
zwanziger Jahre und lebendigen Schilderungen von heldenhaften
Kämpfen in Italien - wo die "Erfahrung des Kampfes" noch nicht
"abgerissen" ist - haben die linken Verlage die westdeutsche Ar-
beiterklasse mit allerlei Kampagnen beglückt, in denen sie sehen
kann, daß i h r e Sache von a n d e r e n V ö l k e r n bei-
spielhaft verfolgt wird. Mit diesen Anstrengungen freilich ist
man von den p r a k t i s c h e n I n t e r e s s e n des re-
volutionären Subjekts ein schönes Stück entfernt, so daß sich
Propaganda und Aktion hauptsächlich in den Teilen des Volkes ab-
spielen, die einen Sinn für Probleme der imperialistischen Ge-
rechtigkeit und für die kunstfertige Verarbeitung "sozialer Wi-
dersprüche" aufweisen. Das Publikum einer Politik, die sich die
Sache der Arbeiter und Unterdrückten zu Herzen nimmt, will aller-
dings auch gewonnen sein.
Und zwar über die M o r a l und das ihr entsprechende Bedürf-
nis, nicht nur einer g u t e n Sache, sondern auch einer
s c h ö n e n beizuwohnen. Irgendwie muß sich "politisches Enga-
gement" auch l o h n e n, damit es einem idealistischen Her-
zensmenschen einleuchtet, der sich ja auch nicht immer ganz si-
cher ist, ob die gerade besolidarisierten Arbeiter und unter-
drückten Völker überhaupt was wissen von ihrem Glück. Deswegen
auch immer mit Musik und Folklore, besonders wenn es sich um blu-
tige Frontbegradigungen des Imperialismus handelt. In solchen
Veranstaltungen, wo nur demokratische Freunde erscheinen, tun
alle Revisionisten ihr Bestes, den (Noch-)Nichtkommunisten nicht
den Abend zu versauen und sie mit großartigen Einsichten über die
Natur des eigenen Staates und dessen Beteiligung Imperialismus
zu behelligen. Da soll kein Christ, Humanist oder Naturfreund
Angst haben, für etwas Verdächtiges eingespannt zu werden, so daß
sich hier die demokratischen Massenorganisationen bewähren: die
Ligen, Initiativen und Komitees, die den demokratischen Kampf
"als Bedingung" für weitergehende Forderungen und Aktionen in die
Hand nehmen. So gehört sich das, damit - wenn schon niemand über-
zeugt wird von irgendeiner Notwendigkeit des Klassenkampfes -
auch keiner verprellt wird, wenn er schon mal da ist! Politisch
ist es daher auch, wenn linke Organisationen zum Vergnügen bitten
und den Rock'n Roll, der da unter ihrer Anleitung getanzt wird,
mit der eindeutigen Stoßrichtung "gegen Rechts" versehen. An den
Universitäten schenken moderne Kommunisten in der BRD den Studen-
ten, denen ihrer Ansicht nach das Studieren zu schwer gemacht
wird, einen AStA und ganz eigene Fachschaften mit selbstgemachten
Wahlen und Pappurnen, und wenn sie von 3% der Studenten auf ihren
ebenso selbstgemachten 5 Listen eine Stimme haben, verlangen sie
von ihren Wählern höchstens, sie möchten für die gesetzliche Wie-
deranschaffung des abgeschafften AStA kämpfen. Das geschieht dann
abermals an der Seite der Arbeiterklasse oder wenigstens des DGB,
der ab und zu einen Funktionär oder Betriebsrat an die Uni
schickt, um die Wichtigkeit der Gewerkschaft für alle zu unter-
streichen. So ein Arbeitervertreter sagt zwar sicher am andern
Tag vor Ort nichts davon, wie solidarisch 61 gewerkschaftlich-
orientierte Idioten mit seiner Belegschaft sind, aber für die
Studenten war es doch immerhin eine berauschende Standortbestim-
mung.
So geht das in einer Politik, die dem Volke dient - und zwar
durch die ständige Information desselben (oder auch nur eines
Bruchteils) über den Stand seiner Bewegung. Wer etwas anderes
macht, ist "elitär" und "redet unverständliches Zeug"; wenn die
Massen von Staats wegen mit einem Holocaust-Zirkus für die wirk-
liche Demokratie, in der sie leben, agitiert werden und vom
17jährigen Oberschüler bis zum jüdischen Opa dankbare Gefühle und
enormen Bekenntnisfleiß zur BRD an den Tag legen, so ist das sehr
verständlich. Eben deshalb, weil ein anständiger Revisionist sein
antifaschistisches Lieblingsthema noch nie so "breit" verankert
sah und glatt bemerkt haben will, daß nur seine ideale Demokratie
gemeint sein kann. Wenn ein Klose von der SPD behauptet, von ihm
bekomme keiner Berufsverbot, der es nicht verdiene - und da kenne
er sich als SPDler wohl aus! -, so ist das ein Meilenstein im
Kampf g e g e n die Berufsverbote, der ansonsten reichlich be-
sungen wird. Wie überhaupt alles nie bloß Niederlage, sondern im-
mer auch Druck auf die Herrschenden, Auftakt zu neuen Kämpfen und
Siegen ist - eine ohne jede Beteiligung der geliebten Massen zu
bewerkstelligende Propaganda.
Und einen anderen I n h a l t hat diese M e t h o d e nicht
als den, sich unter Aufbietung aller Kräfte
g l e i c h g ü l t i g gegen alle Widerlegungen zu verhalten -
sei es in Form von theoretischer Kritik oder in Gestalt einer
Welt, die partout nichts wissen will von ihrer revisionistischen
Ausdeutung und Bemutterung. Revisionistische Agitation und Auf-
klärung ist nicht nur vom ersten bis zur letzten Satz emanzipiert
von Kritik an ihren Adressaten, die weder Revisionisten sind noch
Kommunisten - sondern eben ganz gewöhnliche arbeitende Bürger,
wenn nicht stinknormale Studenten -; sie hat sich auch
f r e i g e m a c h t v o n j e d e r F ä h i g k e i t z u r
S e l b s t k r i t i k. Blamiert sich das Ideal von der Bürger-
seele auch noch so offenkundig in jedem Wahlkampf, wo die Massen
ihren Sinn für die Staatsmacht beweisen und sogar mancher
"Protestwähler" dann doch seine Stimme nicht verschenkt; blamiert
sich die Verherrlichung der blutigen Benützung ganzer Negervölker
für die Schaffung einer N a t i o n vor denselben Bürgern, weil
sie eine haben und nicht wissen, warum sie für eine andere ver-
antwortlich sein sollten; wird schließlich die Anbiederung an an-
dere Idealisten - Christen, Humanisten - an deren durchaus anders
gemeintem Zweck zuschanden - kurz: was immer auch ablaufen mag im
Kampf um die Perspektive, ein Revisionist mag sich mit seinen
Irrtümern nicht anders auseinandersetzen als er es mit den Feh-
lern seiner Adressaten tut, eben r e v i s i o n i s t i s c h.
Dafür trifft er sogar organisatorische Vorsorge. Von den ersten
Tagen der Parteigründung bis zu den Stunden, in denen die Auf-
bruchstimmung längst verflogen ist, kümmern sich revisionistische
Parteien um die detaillierte Ausgestaltung der S p i e l-
r e g e l n des "demokratischen Zentralismus". Mit ihnen schaf-
fen sie sich die Verkehrsformen, die das Weltbild des Vereins
einer Überprüfung entziehen, dafür das der Mitglieder dem
kritischen Vergleich mit d e r L i n i e unterziehen. Politi-
sche Fehler lassen sich nämlich einzig als Abweichung von der Li-
nie dingfest machen. Daß einem Beteiligten ein neues Argument
einfällt, das er äußert, um die Politik zu korrigieren, muß einer
Vereinigung von Leuten, die ein Ideal eint, abwegig erscheinen.
Als Idealisten organisieren sie ihren Zusammenhalt eben wie in
einer Demokratie, also mit Unterwerfung und Zustimmung. Korrektu-
ren der Parteilinie finden entweder gemeinsam, durch Spaltung
oder überhaupt nicht statt - auf jeden Fall entsprechend der Par-
teilinie.
3. Konsequenter Opportunismus: Der Rechtsrutsch der Linken
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Ein gestandener und organisierter westdeutscher Linker ist das
hat er mit einem gläubigen Christen gemein - fast unangreifbar.
Er glaubt derart fest an seine ideale Weltsicht, seine Perspek-
tive und den eigentlich idealen Zustand "der" Bewegung, daß er
sich von einem Hinweis auf einige Ungereimtheiten in seinem mar-
xistisch-leninistischen Gedankengebäude oder auch nur darauf, daß
die Wirklichkeit der politischen Landschaft in der BRD anders
aussieht, als e r sie sieht, nicht beirren läßt. Auch die nicht
zu übersehenden Mißerfolge, denen sich die Linken jahrelang, seit
es sie gibt, gegenübersahen, wußten sie auf ihre Weise zu ver-
kraften: mit der Lüge, in Wahrheit stünde die bewegte Welt doch
geschlossen hinter ihnen, die stets gemeinsam auftritt mit der
diese Lüge dementierenden, dafür Hoffnung stiftenden Parole, bei
angemessener Vorbereitung und noch größerer Konsequenz seien
"Erfolge möglich". Nach dem schönen alten und fernöstlichen Motto
"Kampf - Kritik - Umgestaltung", demzufolge es "aus den Fehlern
der Vergangenheit" immer nur das Eine "zu lernen" gibt, daß näm-
lich die Massen fast schon zum Aufstand entschlossen sind, nur
das richtige Fanal noch gefehlt hat, demonstrierte noch jeder
Parteitag Ge- und Entschlossenheit, die Tugend der Kraft und
einen neuen Sprung nach vorn.
Trotz allem ist der i d e a l i s t i s c h e O p p o r t u-
n i s m u s der Anbiederung an eine rein eingebildete "Mas-
senlinie", den Westdeutschlands Revisionisten praktizieren, nicht
ganz unberührt geblieben durch den Umstand, daß auf der erwähnten
Linie nie auch nur die geringsten Massen, geschweige denn
proletarische, anzutreffen waren: Er hat sich konsequent und
prinzipientreu fortentwickelt. Gemäß dem Grundsatz: "Kommunisten
müssen in a l l e m die Führung innehaben!", den man für
hiesige Verhältnisse ruhig weniger hochgestochen so übersetzen
darf: 'A l l e s ist eine C h a n c e, denn an a l l e m,
was die Leute irgendwie auf- oder anregt, muß ja etwas dran sein,
weil es doch Ausdruck ihrer Bewegtheit ist, haben die
organisierten Linken neben der eigentlichen "Haupttendenz" noch
weitere neue "Aufgaben" aufgespürt und sich in Agitation und
Aktion auf Verrücktheiten konzentriert, die sie sich vom Volk,
wie es nun einmal ist, besonders vom intellektuellen, eingeben
ließen. - Chance Nr. 1 liegt für die Linke ausgerechnet in dem
beim westdeutschen Volk tief verwurzelten
A n t i k o m m u n i s m u s. Denn weil Revisionisten sich die
Abneigung ihrer Adressaten gegen ihre Politik stets so erklären,
die geliebten Massen - seien in einem Irrtum darüber befangen,
w i e g u t sie es mit ihnen meinen, sind ihnen - gemäß ihrer
eigentümlichen Dialektik sämtliche Topoi des Kommunistenhasses
ganz extra gute Gelegenheiten, durch vorbehaltlose Z u s t i m-
m u n g zu demonstrieren, wie sehr das Volks sich irrt, wenn es
seinen Haß ausgerechnet gegen s i e richtet. DKP und ihr MSB
praktizieren diese überhaupt nicht taktische Behandlung ihrer
Adressaten schon immer mit ihrer saubermännischen Kritik an
allem, was sich sonst noch "links" und "Kommunist" nennt in
diesem unserem Lande, bis hin zum Gerichtsverfahren gegen Kon-
kurrenten, die diesen "Ehrennamen" in den Schmutz ziehen, indem
sie ihn sich zulegen; dies ergänzt durch die Ausmalung der DDR zu
einem Traumbild von Staat: ohne Gammler, nur mit wohlfrisierten
Studenten, die eifrig lernen statt zu randalieren, und mit Poli-
tikern, die nur so strotzen von Biederkeit. An den Gründen, aus
denen das staatsbürgerliche Bewußtsein des Westlers trotz - zu-
mindest für ein faschistisches Gemüt - so "ansehnlicher" Qualitä-
ten der "kommunistischen Sache" sich deren Protagonisten als ter-
roristische Finsterlinge vorstellt, geht diese Sorte Anbiederei
natürlich ebenso vorbei - und bleibt daher ein ebenso hoffnungs-
loses Unterfangen - wie die umgekehrte der übrigen Linken, die
allen Ernstes glauben, s i e hätten es so schwer beim Volk,
weil das von den Errungenschaften des "realen Sozialismus" drüben
so tief enttäuscht sei, und deswegen jeder nationalistischen
Feindschaftserklärung an die Adresse der DDR und der Sowjetunion
i h r e tiefste Sympathie aufdrängen. Als hätte das bundesdeut-
sche Volk je einen abwägenden Vergleich zwischen dem sozialisti-
schen und dem kapitalistischen "Modell" angestellt und sich per
saldo schweren Herzens dazu entschlossen, dann doch lieber nicht
kommunistisch werden zu wollen; ja: als wäre die ideologische Be-
schwörung der "Unfreiheit" im Osten der G r u n d dem ein west-
liches Gemüt der Freiheit seiner Nation die Treue aus hält; also
mit einer auf reichlich idealistischen Prämissen beruhenden List
tut sich der Teil der Linken, der sich deswegen auch noch für
"antirevisionistisch" hält, noch vor den westdeutschen C-Gruppen
und -Parteien hervor im agitatorischen Theater über mangelnde De-
mokratie im Osten. Begierig greift man das Thema auf, an dem die
bürgerliche Öffentlichkeit sich mit Vorliebe ihre Kreuzzugsgesin-
nung b e s t ä t i g t. Im Lamento über die östlichen
"Dissidenten" g l a u b t die gesamte Nicht-DKP-Linke sich end-
lich einmal einig mit den tiefsten politischen Wallungen des
"eigentlich" freiheitssehnsüchtigen Volkes und w i r d sich
darin und insoweit untereinander tatsächlich einig.
So gehorcht die wechselseitige Kritik unter den linken Parteien
wie immer dem einen Gesetz: jeder bürgerliche Vorbehalt gegen was
für einen Kommunismus auch immer, jeder Vorwurf von außen wird
begierig aufgegriffen und gegen die andere Partei gerichtet - so
daß diese Abteilung Sympathiewerbung unter dem Strich dem Volk in
allen Belangen r e c h t gibt, in denen es sich für die kapita-
listischen Zustände erwärmt.
Gerade so als wüßte die Geschichte um das Anliegen der westdeut-
schen Linken, läßt sie im Osten einen kritischen DDR-Staatsapo-
stel aufstehen: der schreibt "als Kommunist" die "Alternative"
zum "realen Sozialismus" auf, landet dafür drüben im Knast - und
fertig ist der Fall, mit dem man sich in der Heimat einmal wieder
sehen lassen können möchte und die Zerrissenheit überwindet. In
unzähligen Aufsätzen, Stellungnahmen und Resolutionen, in Bahro-
Komitees und auf einem ganzen Bahro-Kongreß legt der
"Antirevisionismus" seine letzten Hemmungen ab, mit dem Antikom-
munismus unisono zu reden. Das Linke an den Linken kommt nur noch
darin zum Vorschein, daß sie als einzige in dem ganzen Theater
die H e u c h e l e i der westlichen Menschenrechtskampagne für
bare Münze nehmen und aus den darin propagierten höheren Werten,
ganz als hätte in denen ihr sehr einseitiges Einverständnis mit
der bürgerlichen öffentlichen Meinung eine solide beiderseitige
Basis, eine Zukunftsperspektive ableiten, mit der sie s i c h,
und zwar immer noch in einem gewissen Gegensatz zu den politi-
schen Verhältnissen in den Heimatländern dieser Kampagne, ins
R e c h t setzen wollen. Denn immerhin s o l l ja ihre kriti-
sche Fortentwicklung des alten "Deutschland ist unteilbar!" zu
der Parole "Sozialismus und Demokratie sind unteilbar!" a u c h
(!!) eine kritische Note gegen die BRD enthalten. Durch ihre
"breite Solidarität" mit linken SPDlern, russischen Emigranten,
ehemaligen Prager Frühlingsboten und ganz normalen Studierten -
auch Löwenthals Nico Hübner wird inzwischen vorbehaltlos mit ein-
bezogen - wollen sie sich ja gerade von der bürgerlichen Öffent-
lichkeit die wohlwollende Erlaubnis besorgt haben, auf sehr stim-
mungsvollen "Antirepressionstagen" und vor juristisch sehr kor-
rekten "Russell-Tribunalen" ihre Deutung der BRD als ziemlich
"repressives System" anzumelden und ihren Heimatstaat wegen man-
nigfacher "Verletzungen" seines Rechts zu tadeln. Die genaue Ko-
pie des Rechtsverfahrens hat enorme m o r a l i s c h e Folgen,
und zwar in der genau entgegengesetzten Richtung als der, die be-
absichtigt ist. Spätestens dann merkt nämlich noch der letzte
Depp sofort den gewaltigen Unterschied, ob BILD und SPIEGEL oder
KPD und engagierte Alternativlinke "Menschenrechtsverletzungen"
und fehlende Freiheiten im Ostblock geißeln; und weil im Normal-
fall die Heuchelei der ersteren seine eigene ist, "entlarvt" er
voll vergnüglichem Abscheu taktische Absicht und Heuchelei der
letzteren.
Für die "antirevisionistische" und "undogmatische" Linke der Re-
publik sind solche Erfolge bei der Ausnützung ihrer "Chance Anti-
kommunismus" jedoch nur ein weiterer Ansporn, um so heftiger mit
der bürgerlichen Öffentlichkeit um die A n e r k e n n u n g
d e r G l a u b w ü r d i g k e i t ihrer ehrlichen Absichten
zu rechten und zu ringen. Von jedem dahergelaufenen Christdemo-
kraten, der ertrunkene wie durchgekommene Vietnamflüchtlinge als
Beweis für die Menschlichkeit des Imperialismus der USA und ihres
Indochinakrieges g e n i e ß t, läßt diese Linke sich inzwi-
schen das Problem aufdrängen, ob man nicht mit der einstigen Ver-
urteilung amerikanischer Massaker und der Parteinahme für die Ge-
genseite zu v o r e i l i g und e i n s e i t i g gewesen
ist; mit "Tribunalen" über die, denen man einst wenigstens in der
Phantasie zur Seite gestanden hat, leistet man heute öffentlich
Abbitte für alle häßlichen Töne, die damals gegen die Brutalität
lautgeworden sind, deren westliche Demokratien ganz souverän fä-
hig sind. Wie gut paßt es da, daß der Fall Afghanistan eine so
einzigartige Gelegenheit bietet, die linke Perspektive schöpfe-
risch mit einer entschiedenen Befürwortung sämtlicher
"Ahwehrmaßnahmen" des westlichen Imperialismus zu verknüpfen -
und mit einem unbedingten Einverständnis mit der Rolle der BRD
"zwischen den Blöcken"...
- Den Übergang zur Chance Nr. 2 findet die Linke über einen gran-
diosen negativen Schluß: wenn das revolutionäre Subjekt Arbeiter-
klasse keinen Kampfeswilllen zeigt, muß es ihm relativ gut gehen;
a l s o liegt der Ansatzpunkt sozialistischer Politik heute vor
allem bei den "Erniedrigten und Beleidigten" des alten Kommuni-
sten Dostoevskij, die staatliche "Repression" und "ungerechte
Verteilung" e x t r e m zu spüren bekommen: bei den
R a n d g r u p p e n. Die Rote Hilfe, die denen zuteil wird,
die der Staat nach seinen Kriterien als sehr kleines Problem be-
handelt - also wohl extra für die Linken links liegen läßt -, be-
steht darin, an den typischen Randgruppenerscheinungen in Sachen
"Möglichkeiten der Herausbildung sozialistischen Bewußtseins"
fündig zu werden. Die Bedingungen dafür sind ausgezeichnet. Wer
wollte schon bestreiten, daß im Knast - wo das Recht seinem Be-
griff, Gewalt zu sein, sehr deutlich entspricht - die Individua-
lität der Insassen kaputtgemacht wird; daß Fixer sich kaputtma-
chen; arbeitslose Jugendliche ihre Kraft, die nicht gebraucht
wird, im Rocker-Gewalt-Unwesen autonom austoben und dafür eins
auf die Schnauze bekommen; daß der private Faschismus der Fuß-
ballfans unter ihnen "Formen der Gemeinsamkeit" erzeugt; daß
Schwule es immer noch schwer haben, als solche voll anerkannt zu
sein, und entsprechend vom Gesetz behandelt werden? Zu allen die-
sen wenig schönen Lebensumständen in der bürgerlichen Gesell-
schaft haben die Linken ihre Deutung parat: Erstens handelt es
sich hier - wie für Revisionisten immer, wenn sie Leute in
Schwierigkeiten entdecken - um Probleme der
G e s e l l s c h a f t, die zweitens in der menschenfeindlichen
BRD n i c h t g e l ö s t sind, wodurch drittens den Betroffe-
nen ganz von selbst die Augen darüber aufgehen, daß es ihnen erst
im Sozialismus gut geht. Also: Im Knast erfährt man nicht die
harte Seite der staatlichen Gerechtigkeit, mit der ein anständi-
ger Verbrecher von vornherein kalkuliert hat, sondern man sieht
sich in seinen geheimen Hoffnungen auf die liebevolle Zuneigung
des demokratischen Sozialstaats enttäuscht und macht
"Repressionserfahrungen" (linke Anhänger eines gerechteren Rechts
nennen die Gefängnisse denn auch lieber "Repressionsanstalten",
weil dort den Insassen doch "eigentlich" eine zum Sozialismus
tendierende Neigung zum Aufruhr abgewöhnt werden soll); dem Dro-
genrausch ergibt man sich aus Protest gegen die schlechte Welt,
merkt also vor- oder hinterher, daß "ohne Sozialismus alles sinn-
los" ist; Rocker sehnen sich in der Tiefe ihres Herzens nach ei-
ner nützlichen Aufgabe für die Allgemeinheit und spüren, daß der
K a p i t a l i s m u s sie frustriert; Schwule haben mit der
ihnen eigenen Sensibilität die geschichtliche Bedingtheit und Be-
grenztheit gesellschaftlicher Normen durchschaut, sind deshalb
schwul geworden, weil sie sich diesen Normen nicht beugen wollen,
und stehen deswegen mit einem Bein immer schon in der sozialisti-
schen Zukunft; und auch den Lesben, die der Staat einigermaßen in
Ruhe läßt, hat sich in Wahrheit die Problematik erfüllten Mutter-
tums im Kapitalismus aufgedrängt. Kurz: soviel Leute mit Spezial-
problemen, soviele "Risse im System". Wie diese Leute mit sich
und der Welt umgehen, was für einen Mist sie sich über beides
ausdenken, wie sie vom Staat und ihren moralischen Mitmenschen
behandelt werden und wie sie sich in dieser Behandlung einrichten
- alles das ist für einen Revisionismus auf der Suche nach
"gesellschaftlichen Widersprüchen" und einem "revolutionären Po-
tential" n e b e n der immerzu nur "eigentlich" kampfbereiten
Arbeiterklasse genuin politisch, genau besehen schon ein halber
Aufstand und auf jeden Fall eine Chance, die man nicht auslassen
darf.
Kein Wunder daher, daß die "sozialistische Bewegung" vor allem
die größte "Randgruppe" für sich entdeckt hat: die F r a u e n
(inzwischen sind die A l t e n im Gespräch: erstens mausern die
sich ja schon erfolgreich zu einem öffentlich anerkannten gesell-
schaftlichen Problem, und zweitens werden die Kader ja auch nicht
jünger...), zumal hier im Feminismus bereits eine zwar durch und
durch "kleinbürgerliche", a b e r Protestideologie vorliegt, an
welche konstruktiv und ohne "patriarchalische Bevormundung" anzu-
knüpfen für einen geschulten Linken nicht die geringste Schwie-
rigkeit bedeutet. Die Bünde und Parteien der Arbeiterklasse haben
nur wenige Probleme damit, daß in den Reihen der Organisation Ge-
nossen a l s Schwule, Lesben, Frauen sich und ihre reaktionären
Ansichten ins politische Konzept einbringen. Dies ist eben das
moderne kommunistische Programm der eigenen "Entpolitisierung",
welcher Begriff hier einmal paßt; und ein KB leidet höchstens
darunter, daß seine als undogmatisch geltende K-Gruppe sich in
Flügelkämpfen aufreibt, weil die Lesben-Fraktion im Schwulen doch
noch mehr den Unterdrücker Mann sieht denn den gleichgesinnten
Homo. Auch das gehört zu den brennenden Fragen der Bewegung,
ebenso wie die Entscheidung, das neutral gebrauchte 'man' nurmehr
bigeschlechtlich (man/frau) zu gebrauchen, eine linke Verrückt-
heit, der sich auch der MSB-Spartakus nicht verschließen will:
seine überall eingerichteten AStA-Frauengruppen fordern, daß das
Thema Frau breiter im universitären Lehrbetrieb vertreten sein
solle, ganz ohne "Marx an die Uni".
Streng verboten ist auf alle Fälle jegliche Kritik an der Kund-
schaft, die die revisionistischen Vereine sich da unter den be-
sonders "Leidtragenden des Systems" einzufangen gedenken und ein-
gefangen haben. Denn es sind ja allein ihre Glückwünsche zur je-
weiligen Absonderlichkeit ihrer Adressaten, die das "breite Bünd-
nis" stiften. Das K r ä f t e v e r h ä l t n i s verschiebt
sich damit enorm und ziemlich eindeutig: Der westdeutsche Revi-
sionismus - vor allem in seinen "antirevisionistischen" Fraktio-
nen - entwickelt sich von der "Vorhut der Arbeiterbewegung" zum
ideellen Gesamtrandgrüppler.
- Ihre letzte Chance entdecken Westdeutschlands Linke an sich
selbst, nämlich in der Sehnsucht des psychologisch durchschnitt-
lich geschulten Kopfes nach einem "unentfremdeten",
"sinnerfüllten" L e b e n s s t i l. Wenn es nämlich gar nicht
vorangehen will mit der Revolution; wenn die Welt, die doch sich
zum Guten hinbewegt, von dieser ihrer "Haupttendenz" im eigenen
Umkreis so gar nichts merken läßt, wenn die "Perspektive" der
Linken so gar keinen Anklang findet; dann steht für einen Ideali-
sten des Fortschritts zum Sozialismus ein Fortschritt seiner Po-
litik an, der für alle Mißerfolge entschädigt, indem er einen
kleinen Wechsel der Perspektive einführt: Er führt a n s i c h
den Beweis, daß d e r S o z i a l i s m u s g e h t - trotz
allem. Abstrus kann dieser Übergang nur jemandem erscheinen, der
sich noch nicht mit den heutigen und hiesigen Linken zu der Auf-
fassung entschlossen hat, daß der Sozialismus etwas weit Höheres
ist als die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise - de-
ren Machbarkeit an der eigenen Person nachzuweisen, dürfte in der
Tat schwerfallen. Für die organisierte Linke Westdeutschlands ist
dieses Unterfangen jedenfalls nicht absurd, sondern eine sehr
konsequente Fortsetzung ihres Glaubens an die Welt als einen
Kampfplatz des Guten mit dicken Bonzen und repressiven Bürokra-
ten. Vom Vorkämpfer in einem vorgestellten Kampf aller Entrechte-
ten machen die Linken den ganz kleinen Übergang dazu, sich eine
sehr schöne Vorstellung von einem sozialistischen Vorkämpfer
sämtlicher Menschheitsbefreiungskämpfe zurechtzulegen und
d i e s e m e d l e n B i l d e n a c h z u l e b e n. Von
der "F r ö h l i c h k e i t des Revolutionärs", der sich allem
Guten, Wahren und Schönen verbunden weiß, bis zur
E n t s c h l o s s e n h e i t, mit der jeder Tag dem Kampf ge-
gen die gesellschaftliche Fäulnis gewidmet sein will; von der re-
volutionären H i l f s b e r e i t s c h a f t, die das Zusam-
menleben nicht nur zu einer permanenten Strapaze macht, sondern
diese auch noch in heiterer Selbstlosigkeit "auszuhalten" gebie-
tet, bis zum G e m e i n s c h a f t s g e f ü h l bei solida-
rischem Sang und Klang und Sagen aus der Kampfzeit der Altvorde-
ren (von Biermann bis Degenhardt); alles, und vor allem die be-
sonders nötige Tugend, n i c h t z u r e s i g n i e r e n,
sondern hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken, wird einem sol-
chen Menschen zur lieben Pflicht (er sieht dann auch entsprechend
aus!). Die DKP hat in ihrem neuen Programm jeden Verdacht ausge-
räumt - oder es wenigstens versucht -, sie stünde bei diesem
Übergang im stalinistischen Abseits:
"Kommunist sein heißt, in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten
zu wirken. Das schafft die besten Bedingungen für die Entfaltung
der Persönlichkeit und die Bereicherung des Lebens jedes einzel-
nen Kommunisten."
Denn so beweist der linke Mensch praktisch, wenn schon die Welt
es weder beweisen noch glauben will, erstens wie schön der Sozia-
lismus ist - und zwar gerade wo es ihn sonst gar nicht gibt! -
und zweitens wie einfach er zu haben ist - man braucht ja nur zu
wollen! Als Demonstrationsobjekte für die Güte und die Realisier-
barkeit der eigenen guten Sache aufzutreten, S o z i a l i-
s t e n wie aus dem Bilderbuch z u s e i n, machen die Linken
s i c h zu ihrem B i l d u n g s- u n d L e b e n s i d e a l
- und so zu ihrer letzten Chance. Wenn die Leute den Sozialismus
nicht wollen, dann sollen sie gar nicht mehr weiter auf Argumente
warten, sondern am p e r s ö n l i c h e n V o r b i l d
erstklassiger Sozialisten - das ihnen wohl gerade noch gefehlt
hat - glauben lernen, daß "verkehrt lebt", "wer sich nicht
wehrt", und daß deswegen nur solche Manns- und Weibsbilder wie
sie, dank Kommunismus, unverkehrte, heile und frohe Menschen
sind. Die auserlesenen Peinlichkeiten, mit denen revisionistische
Agitation heute hausieren geht Parteitagsbeschlüsse über eine
Kampagne der "fröhlichen Agitation", die nicht bloß befolgt,
sondern vor allem dem geehrten Adressaten immerzu mitgeteilt
werden; Aufsatzsammlungen der "Roten Blätter" zum Thema "Wir und
unsere Ortsgruppe", womöglich mit Literaturpreisen; revolutionäre
Spielmannszüge und Ausbildungskurse in Schwimmen, Geschichte der
Arbeiterbewegung und Autoklempnerei; kommunistische Agitations-
wagen in rheinischen Karnevalsumzügen; Agitation per Angeberei
mit der ungebrochenen Lebenslust eines Berufsverbotsopfers,
dargestellt von und vor erwachsenen Menschen als Straßentheater
mit Schminke und Klampfe; in "undogmatischen" Gazetten
nostalgische Verse des folgenden Kalibers:
"Du wirst uns fehlen, Rudi.
Doch werden zwei, drei, tausend
Rudi Dutschkes werden";
oben drüber die neue kommunistische Parole: "Sinnvoll leben" -,
das sind keine Ausrutscher. Sie sind Programm - und werfen aller-
dings die Frage auf, wen außer sich selbst diese Linken damit ei-
gentlich vom Sozialismus überzeugen wollen.
- B e r e c h n e t ist dieser Fortschritt linker Politik jeden-
falls auf das, was die BRD sich als l i n k e S z e n e lei-
stet. Von Anfang an bestand nämlich die stärkste Fraktion der
Studentenbewegung und ihrer Hinterlassenschaft aus Leuten, die
aus einigen Widrigkeiten des Lebens im Kapitalismus für sich das
moralische R e c h t und aus der demokratischen Regelung des
politischen Lebens die politische P f l i c h t ableiten, in
ganz anderen als den üblichen "korrupten" Bahnen zu leben. Dem
bürgerlichen Dasein ein a l t e r n a t i v e s entgegenzuset-
zen, das das alte heuchlerische "Wir" überall, vom wohngemein-
schaftlichen Herd bis zur Betrachtung der großen historischen
"Fragen der Zeit", wirklich ganz, ganz ernst und ehrlich nimmt,
und so ein Selbstbewußtsein als Irritisches Gewissen der
"verbürgerlichten" Republik zu pflegen, ist das "politische Pro-
gramm" dieser bundesdeutschen S u b k u l t u r: darin fühlt
sie sich l i n k s. Diese Szene ist in Bewegung geraten, seit
sie in der Ökologie ein Mittel entdeckt hat, den eigenen Moralis-
mus als letzte Rettung vor einem aus ungezügelter Wachstumsgier
resultierenden "ökologischen Weltuntergang" auszumalen und da-
durch eine so zugkräftige politische Ideologie auf die Füße zu
stellen, daß auf einmal der blöde alte Weg des (Wahl-)Kampfes um
parlamentarische Repräsentation als allerneueste Chance zu
"konkret verändernder Praxis" zu Ehren kommt. Zwar ist es nicht
gerade übermäßig "alternativ", in den demokratischen Konkurrenz-
kampf um Wahlerfolge einzutreten und die Kriterien solcher Er-
folge, die Wählbarkeit, zur Richtschnur der politischen Programm-
gestaltung zu machen. Dafür gewinnt die "grüne Bewegung" aber in
den vorweisbaren Wählerstimmen ganz ungemein an M a s s e und
B e r e c h t i g u n g; und schon allein diese Aussicht: daß
sich da etwas "Kritisches" um die 5% statt wie bisher unter 1%
"bewegt", ist für die Organisationen des bundesdeutschen Revisio-
nismus eine Offenbarung.
Eine regelrechte "Bewegung" mit einer zwar nur vergleichsweise,
vergleichsweise aber gewaltigen Massenbasis - das läßt eine
schrumpfende Linke, die die Massen - nämlich deren angebliche
vorwärtsweisende Haupttendenz - als einziges politisches Argument
gelten läßt, nicht ungerührt. Soweit sie nicht gleich in Gestalt
ihrer Mitglieder zur Szene in ihrem politischen Aufbruch Richtung
Parlament ü b e r l ä u f t, läuft sie ihr organisiert
h i n t e r h e r. Bis hin zu den aufrechtesten DKPlern, deren
Hauptmassenbasis mit den westlichen Massen von vornherein gar
nicht viel zu tun hat - ihr "Sozialismus" i s t ja längst
"real"! -, besinnt der Revisionismus sich auf seine alte Liebe zu
Natur und Gummistiefeln, propagiert als traditionsreiche Selbst-
verständlichkeit des Marxismus-Leninismus (die "Führer" der Ar-
beiterklasse haben sich in der einschlägigen Geschichtsschreibung
ja schon immer als Vorbilder in moralischer, den Massen zugewand-
ter s a u b e r e r L e b e n s f ü h r u n g ausgezeichnet!)
die Albernheit von der Politik als Lebensform und Macht statt des
unmittelbar bevorstehenden Ausbruchs des "Klassenkampfes" die
Einheit von "Ökologie und Marxismus" zu seinem Lieblingsproblem.
Seine "antirevisionistische" Fraktion dient sich darüberhinaus
als Verein bewährter Kämpfer für grüne Belange an - als könnte
ein westdeutscher Wahlverein für Demokratie und Umweltschutz sich
mit der Selbstlosigkeit tatkräftiger Demonstranten schmücken! So
konkurrieren alle linken Organisationen untereinander um die
Chance, durch die "Grünen" ein wenig Auftrieb zu bekommen, und
werden allesamt doch nur mit der harten demokratischen Wahrheit
bekannt gemacht, daß ein Verein, der auf Wahlerfolge scharf ist,
allemal haargenau merkt, wann die noch so uneigennützige Unter-
stützung durch Linke mit kommunistischem Ruf und Rufnamen i h m
schadet: nicht einmal als Anhängsel der Bewegung sind sie gedul-
det.
- Ein Revisionismus, der so weit heruntergekommen ist, daß er die
A l t e r n a t i v e n, also eine Szene, die links sein will,
ohne von ihrem Antikommunismus irgendwelche Abstriche zu machen,
als s e i n e C h a n c e interpretiert, der ist nicht nur
nicht mehr bei Trost: der ist auch nicht mehr zu retten. Wahrhaft
selbstlos, hat er sich aller seiner "Dogmen" entledigt, die ihn
von den Massen und deren angeblicher Bewegung Richtung Fort-
schritt und Sozialismus trennen könnten; und doch gelingt ihm die
ersehnte Einheit mit den Massen nicht. Der einfache Schluß, daß
die geliebten Massen also offenbar andere Zwecke im Kopf haben
als das Bedürfnis nach einer "sozialistischen Perspektive" und
daß daran die eigene Agitation auch noch nichts geändert hat -
auch nichts ändern konnte, weil sie ihre Adressaten ja nur im-
merzu für Dinge g e l o b t hat, die die noch nicht einmal
geahnt, geschweige denn gewollt haben! *) -, steht einem Revisio-
nisten aber auch nicht offen. Denn bei aller Liberalität in Fra-
gen des politischen Zwecks: daß die Massen zutiefst und recht ei-
gentlich immer schon auf ihrer Seite stehen, dieses sein Haupt-
und Grunddogma kann ein Revisionist schon deswegen n i e u n d
n i m m e r aufgeben, weil er ja mit jeder Faser seines politi-
schen Willens s i c h auf d e r e n Seite gestellt hat. Als
unerschütterlicher Parteigänger der eigenen Illusion einer zum
Sozialismus voranstrebenden Menschenseele kritisiert er nie seine
politischen Zwecke; lieber gibt er s i c h d i e S c h u l d,
bei aller richtigen Absicht den Fortschrittsnerv der Menschheit
noch immer nicht genau genug getroffen zu haben. Und weil er an
seinem politischen Programm ja schon alles gestrichen hat, was
seines Erachtens die Massen verprellt haben könnte - daß denen
die "sozialistische Perspektive" s e l b s t verdächtig ist,
dieses Gedankens ist er nicht mächtig! -, gibt es für ihn, wenn
er seine letzte Chance bei den Grünen gescheitert sieht, nur noch
eine vorwärtsweisende Konsequenz: In dem Umstand, eine P a r-
t e i, also als Vorhut der Massenbewegung o r g a n i s i e r t
zu sein, entdeckt er schließlich und endlich das letzte und
entscheidende M o m e n t d e r T r e n n u n g von den
Massen - und l ö s t s i c h a u f! Folgerichtig wird daraus
natürlich keine schlichte Auflösung, sondern eben der letzte
Schritt nach vorn - was allerdings für Ungeübte nicht so leicht
zu erkennen ist und daher um so ausführlicher zu erklären ist, am
besten indem man schon ein halbes Jahr vorher die eigene
Parteizeitung zum Diskussionsforum über die Unabdingbarkeit
dieses Fortschritts umfunktioniert und den geneigten Leser mit
der korrekten Sicht der Parteigeschichte vertraut macht. Denn die
war in jeder Phase Ausdruck der tiefsten Bedürfnisse der Massen -
wenn auch erst mit der Auflösung der ganz korrekte. Am Anfang
stand ein "Sieg der Arbeiterklasse":
"Die führende Rolle der Arbeiterklasse gewann eine neue Dimen-
sion, ohne eine fundamentale Auseinandersetzung mit ihren Kriti-
kern, durch die Realität des Klassenkampfs: die Septemberstreiks
und die im Parlament mit Zweidrittelmehrheit durchgezogenen Not-
standsgesetze stellten in ihrem Zusammenhang sowohl die Klassen-
natur des bürgerlichen Staates als auch die Klassenkraft des
'wiedererwachenden Proletriats' so schlagend unter Beweis, daß
die Frankfurter Schule erledigt und die Komintern-Politik und der
Leninismus rehabilitiert wurden - weniger theoretisch als durch
die Realität." (KPD)
Für einen Revisionisten ist "die Realität" eben jemand, der stra-
tegische Streitfragen zwischen einem System philosophischer Spin-
nerei und dem Aufbau des "realen Sozialismus" in der SU nicht nur
aufwirft, sondern auch entscheidet und so den Freund der Massen
über seine korrekten Zwecke ins Bild setzt:
"Damals 'verlangte' die Realität des Klassenkampfes eine Hinwen-
dung zur Praxis."
An der "revolutionären Situation" hat es also nicht gefehlt: Die
Partei hatte den Ruf der Geschichte vernommen und ihm entspro-
chen. Nur - vertrackte Dialektik der Realität -: dadurch, daß sie
ihm entsprach (und nicht darauf gewartet hat, daß "die Partei"
ganz ohne Initiatoren sich von selbst gegründet hat), hat sie
sich an ihm versündigt, nämlich mit der Sünde des
"V o l u n t a r i s m u s":
"Parteiaufbau..., ohne sich in Beziehung zum Parteibildungsprozeß
der Arbeiterklasse oder in Bezug zu anderen progressiven Strömun-
gen zu begreifen."
Die Realität hat bei der Realisierung ihres eigenen historischen
Bedürfnisses nicht mitgespielt - so lautet der idealistische Op-
portunismus des bundesdeutschen Revisionismus in selbstkritischer
Wendung. Man bezichtigt sich des Fehlers, "als Marxist" den ob-
jektiven Tendenzen der Geschichte allzu hoffnungsvoll vorausge-
eilt zu sein - und hat sich so für den eigenen Mißerfolg eine
sehr linientreue D e u t u n g zurechtgelegt, die mit dem Ein-
geständnis des angeblichen Fehlers aufs schönste die eigene Ent-
schuldigung vereint; Schuld war im Grunde erstens der Marxismus,
nämlich zweitens, daß "das Kräfteverhältnis" ihm nicht entspro-
chen hat.
"Obwohl es schmerzt, es ist ein Faktum: die heutige und
nachachtundsechziger Linke - und wir als einer ihrer Teile -
sitzt vor den Scherben ihrer Hoffnungen. Trotz einiger Risse hat
sich der Kapitalismus in der BRD relativ stabil erhalten, haben
sich die Hoffnungen auf revolutionäre Erschütterungen nicht er-
füllt, der marxistische Einfluß ist kaum gesellschaftlich wirksam
geworden, die Linke ist nach wie vor zersplittert, marxistische
Theorie findet nicht ausreichende Antworten auf die Entwicklung
unserer hochentfalteten bürgerlichen Gesellschaft, die in ihren
Rissen (?) zugleich ihre Reserven (?) offenbart. Insofern, als
von marxistischer Theorie und Politik trotz dieser (? s.o.) Er-
schütterungen (Arbeitslosigkeit, Legitimationskrise des bürgerli-
chen Staats, Kriegsgefahr bei wachsenden innerimperialistischen
Widersprüchen (?) zur Dritten Welt, besonders zu den ölproduzie-
renden Ländern, Rationalisierungswellen, gescheiteirte Reformpo-
litik usw.) kaum gesellschaftliche Wirksamkeit erreicht worden
ist, ist es berechtigt, von einer Krise des Marxismus und der
Marxisten zu sprechen; auch deshalb, weil 'der' Marxismus nicht
abstrakt, sondern in dieser Fähigkeit zur Durchdringung gesell-
schaftlicher Realität und Gewinnung gesellschaftlicher Wirksam-
keit existiert."
Das ist revisionistische Logik: Weil sie den Marxismus nie als
Erklärung des bundesdeutschen Kapitalismus - eine solche ist ent-
weder falsch oder richtig, auf keinen Fall aber je in einer
"Krise"! - begriffen und benutzt, sondern zum Argument für
falsche H o f f n u n g e n gemacht haben, ist e r fürs
S c h e i t e r n ihrer Hoffnungen verantwortlich. Zu retten ist
er folglich dadurch, daß man ihn zur M e t h o d e fortentwic-
kelt, sich n e u e Hoffnungen auf eine selbsttätige
"gesellschaftliche Wirksamkeit" der eigenen Anliegen zu machen.
Und diese Fortentwicklung des Marxismus geht sehr einfach: Schon
damit, daß man bloß über sein Scheitern redet, macht man sich zum
"Ausdruck" jener Tendenzen, am denen er scheitern mußte, und hat
"als Marxist" vor allen revisionistischen Konkurrenten die Nase
vorn:
"Daß auch uns das Bewußtsein einer Krise erreicht hat, daß auch
andere Linke selbstkritisch die Ursachen und Bedingungen des
Scheiterns analysieren und neue Wege suchen angesichts der heuti-
gen objektiven und subjektiven Entwicklungen, zeigt einen neuen
Umbruch und Aufbruch an."
Wohin die Reise geht, ist da keine Frage. Nicht umsonst hat man
nicht die eigenen Ansichten über die Welt kritisiert, sondern die
Entdeckung des eigenen Scheiterns als Partei zur Beseitigung des
letzten Hindernisses erklärt, Ausdruck der Bewegung der Massen zu
sein. Alle revisionistischen Illusionen über die Welt bleiben be-
stehen; nur soll ihre Praktizierung nicht mehr isoliert von den
bewegten Massen geschehen:
Wir treten ein für ein Näherrücken der von linken Teilen der So-
zialdemokratie beeinflußten Arbeiterbewegung mit den fortschritt-
lichen Kräften der grün-bunten Bewegung und Marxisten und Kommu-
nisten gegen den Rechtsblock in unserem Land. Für dieses Näher-
rücken gibt es objektive und subjektive Tendenzen" (schön für
euch!). "Innerhalb dieser Kräfte und Bewegungen könnte sich ein
neuer Zusammenhang der in die Krise geratenen revolutionären So-
zialisten entwickeln - mit Kommunisten als einem besonderen
Teil." (so ein "ständiger Ausschuß"!)
Eins ist klar: Diese "Kommunisten" kriegen, was sie sich so sehn-
lich wünschen. Die Selbstliquidierung ihrer Organisationen, die
sich derselben Argumente über den Zustand der Welt bedient wie
ihre Gründung, ist eben eine Konsequenz der Treue zum alten
Standpunkt - und als solche ganz auf Erfolg abgestellt. Da ist es
am Ende gleichgültig, ob die Auflösung als eine letzte Offensive
wie bei der KPD, als organisierter Streit wie beim KB, als kon-
struktive Mitwirkung bei einer großen Konferenz oder sonstwie
passiert - sie beseitigen so die letzte, ohnehin nur noch for-
melle Schranke zwischen sich und der linken Szene.
Mit ihrem Entschluß, "erst einmal" T h e o r i e zu treiben -
sogar eine "Arbeitskonferenz" soll dafür aus der Taufe gehoben
werden (und dies 10 Jahre nachdem die damaligen "Roten Zellen"
ihre notwendige theoretische Klärung mit diesem blöden Namen be-
dacht haben)! -, werden sie nicht klüger, sondern gelehrter: In
der Konkurrenz mit den älteren Organen zur linkspolitologisch-
ökonomisch-soziologischen Gegenwartsdeutung gleichen sie sich
jenem parasitären Philosophieren an, das die Geschichte des Revi-
sionismus schon immer sehr getreu "widergespiegelt" hat. Ihre
Praxis reduziert sich auf die energische Begutachtung der ewig
aktuellen Frage, wen "wir" denn am besten w ä h l e n sollen;
und der Kommunismus kommt allenfalls als Anspruch vor. Auf diese
Weise macht der BRD-Revisionismus sich zum geduldeten Bestandteil
einer Subkultur, in der allerlei moralische Unzufriedenheit mit
"dem System" sich für die harmlosen und leichten Herzens gedulde-
ten Späße des "alternativen Lebens" zusammentut. Die erzbürgerli-
che Lebensweisheit, daß Kommunismus eine Jugendtorheit ist - eine
Weisheit, die nichts als den höchst absehbaren und sehr billigen
Triumph der bürgerlichen Heuchelei über jeglichen Idealismus der
Moral ausspricht! -, wird von der westdeutschen Linken wieder
einmal wahrgemacht. Insofern ist ihr Abgang gar nicht originell -
immerhin aber ein letzter Ausdruck des tatsächlichen Kräftever-
hältnisses in der BRD, an dem sich die hiesigen Linken immer so
gerne orientieren. Hier entschwinden nicht einzelne in bürgerli-
che Karrieren: organisiert vollstreckt der bundesdeutsche Revi-
sionismus an sich s e i n e D e u t u n g des eigenen Mißer-
folgs.
*) Daß jemand k e i n e n Erfolg hat in seinem Bemühen, die Ar-
beiter oder sonstige Massen von der Notwendigkeit gewisser Aktio-
nen zu überzeugen, kann nie einen vernünftigen Vorwurf gegen sol-
ches Bemühen begründen; Vorwürfe und Kritiken dieser Art, die
deswegen auch stets mit Schadenfreude einhergehen, sind die Sache
von Demokraten, linken wie normalen, die gewohnt sind, Massenhaf-
tigkeit für ein Argument zu halten. Den Erfolg der eigenen Agita-
tion dadurch selbst zu hintertreiben, daß man ihn sich in die Ta-
sche lügt, ist allerdings ein schwerer Fehler; und die unaus-
bleiblichen Enttäuschungen in gerechten Zorn auf jeden zu verwan-
deln, der diese idealistische Lüge nicht mitmacht, so als wäre
der der eigentlich Schuldige, ist schon ziemlich albern.
V
Die Linken haben das Kräfteverhältnis
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nur verschieden interpretiert...
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(Hier bricht das Manuskript ab)
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