Quelle: Archiv MG - ASIEN INDIEN - Die volkreichste Demokratie
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Marxistische Studentenzeitung 4/80
Indien
BETRACHTUNGEN ÜBER DIE GRÖSSTE DEMOKRATIE DER WELT
Knapp sechs Monate ist es her, seit Indira Gandhi einen "trium-
phalen Wahlerfolg" errang, dessen Höhe hiesige Kommentatoren denn
doch "überraschte" - sie als Inder hätten Indira "nicht so
schnell" verziehen. Seitdem regiert sie wieder - und das allein
über diesen Sachverhalt Vermeldenswerte ist die spannende Frage,
ob sie sich dabei wieder "Exzesse" wie ehedem zuschulden kommen
lassen wird, die einer Dame, die in England gesittete Um-
gangsformen und die demokratischen Spielregeln kennenlernte, doch
peinlich sein sollten.
Auch sonst hört man aus Indien nichts Neues. Da "huschen Ratten
über den Operationstisch" - und das in Neu-Delhi der Hauptstadt!
Da ernährt ein 10-Pfennig-Geld-fälscher in mühsamer und ehrlicher
Handarbeit seine vielköpfige Familie jahrzehntelang und ver-
schafft sich durch diese Sorte Selbstausbeutung ein Privileg, das
der Mehrzahl der hungernden Inder versagt bleibt. Auf dem Lande
sieht es nicht anders aus: "Lebenslänglich für vier Exorzisten",
die mit dem bösen Geist auch gleich noch den Lebensgeist der Pa-
tientin ausgetrieben hatten; Seuchen, Infektionen, Ernährungsman-
gel und deswegen soviel Blinde, wie Baden-Württemberg Einwohner
zählt, usw.
Was das miteinander zu tun hat? Natürlich nichts. Jedenfalls
nicht in einer ihrer Informationspflicht gewissenhaft nachkommen-
den Zeitung, die zu trennen weiß zwischen Berichten über den Gang
der Regierungsgeschäfte und altbekannten Sensationen, das Elend
der indischen Massen betreffend. Ersteres findet sich auf den
Seiten 5 ff. und gehört zur politischen Pflichtlektüre; letzteres
steht als "Kuriosum" auf der letzten Seite unter der Rubrik
"Vermischtes" und würde gar nicht zur Kenntnis genommen, wenn
nicht auch ein gebildeter Mensch ein Anrecht auf ein wenig Unter-
haltung hätte.
Not und Elend: typisch indisch
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Wenn der indische Alltag des Hungerns und Verhungerns überhaupt
einer Notiz für wert befunden wird, dann lautet sie stets so:
- Pünktlich drei Wochen zu früh sei diesmal die Hitzewelle her-
eingebrochen, um 4 bis 12 Grad zu stark ausgefallen, so daß die
ersten paar tausend Tote bereits zu verzeichnen seien. Da packt
niemand das Frösteln vor dem nächsten Winter, der ebenso bestimmt
kommt. Schließlich ist das schicksalhafte Walten der Naturkräfte,
die sich längst beherrschen lassen, als Argument für das Massen-
sterben in südlicheren Regionen immer angebracht, weil man damit
eine Generalerklärung des Massenelends gefunden hat, die auf alle
Gründe des bornierten Umgangs mit der Natur und der regelmäßig
massenvernichtenden Natur-'Katastrophen' verzichtet und statt
dessen gelassen die naturbedingte Abhängigkeit des 700-Mill.-
Volkes von den üblen Launen der Natur beobachtet, hersagt und
sich bestätigt:
"Experten hatten nach dem im vorigen Jahr ausgebliebenen Monsum
für 1980 eine 'Jahrhundert-Katastrophe' mit Wasserknappheit,
Dürre und Hungersnot befürchtet. Zumindest der erste Teil der dü-
steren Voraussage scheint sich unterdes zu erfüllen." (Süddeut-
sche Zeitung)
Und auch sonst kann man sich beruhigt zurücklehnen. Denn wenn
auch die Inder sterben wie die Fliegen, weil die Hitze dort kein
Kraut gegen das Elend wachsen läßt, dieses sich vielmehr auf die
allernatürlichste, sozusagen "chronische" Art und Weise von Jahr
zu Jahr vermehrt, so tragen sie dank i h r e r Menschennatur
ihr Los mit bewundernswert viehischem Gleichmut - und falls sie
ins andere Extrem umschlagen und sich zu "Ausschreitungen" hin-
reißen lassen, dann werden sie eben zusammengeballert. Keine
Frage: Auch der indischen Regierung kann man kein schöneres Kom-
pliment machen als das, das Volk unter Kontrolle zu haben auch
wenn man "die klassischen Methoden der Wiederherstellung von Ruhe
und Ordnung", derer sich Frau Gandhi auch diesmal wieder im
"chronisch aufständischen" Assam und Westbengalen bediente, nur
"wenig einfallsreich" (Neue Zürcher Zeitung) finden kann. Doch so
sehr man die "S t a b i l i t ä t" schätzt - und als Verdienst
der indischen Regierung würdigt, wenn sich hierzulande niemand um
die "größte Demokratie der Welt" sorgen muß, auch wenn sich der
Kampf ums überleben dort immer aussichtsloser gestaltet -, so
strikt wird die Vorstellung zurückgewiesen, daß die "unvor-
stellbaren Ausmaße", die die Misere in Indien mittlerweile
angenommen hat, P r o d u k t der Regierungspolitik ist. Und
mit dem ökonomischen und politischen Treiben der 'entwickelten
Industrienationen' hat es schon deshalb nichts zu tun, weil In-
dien selbständig ist, nicht wie mancher Negerstaat nur vom Ab-
transport eines Rohstoffs lebt, und immer wieder bevorzugt Hilfs-
lieferungen erhält, die nicht w i r, sondern s i e verschlam-
pen.
Mit der überheblichen Staatsvernunft von Politikbeobachtern, die
auf der Sicherheit beruht, daß der rücksichtslose Einsatz der
Herrschaft hier immer noch zu Resultaten führt, die das Volk
brauchbar erhalten für die Mehrung des nationalen Reichtums, ver-
schreibt man den 'Verantwortlichen' in Indien die hohe Aufgabe,
das Elend zu bewältigen, und entdeckt deswegen in der Rücksichts-
losigkeit der indischen Regierung nicht den kongenialen politi-
schen Geschäfts- und Herrschaftssinn, sondern das Gegenteil. Weil
das Elend zu Indien gehört wie die Fakire und andere Absonder-
lichkeiten, die dem 'abendländischen Denken' fremd sind, hat man
es hier nicht nur mit einem g e n u i n i n d i s c h e n Phä-
nomen zu tun - schließlich sind mit der U n a b h ä n g i g-
k e i t des Landes auch die Zeiten 'kolonialer Ausbeutung'
vorbei. Die Verelendung des indischen Volkes darf andererseits
auch nicht als gelungenes Werk der indischen Regierung betrachtet
werden, weil ihre Leistungen danach zu beurteilen sind, was sie
zur E n t w i c k l u n g des Landes beitragen - schließlich
hat man sie ja mit dieser hohen A u f g a b e in die
Unabhängigkeit entlassen. In dieser Sichtweise läßt man sich von
den Fakten keineswegs irritieren. Im Gegenteil. Der Umstand, daß
sich in Indien in den letzten 30 Jahren alles - bis auf die
"erstaunlich" stabilen Regierungen zum Schlimmeren entwickelt
hat, bestärkt vielmehr die Auffassung, wie n ö t i g Indien
Entwicklung habe und wie s c h w i e r i g diese in einem Lande
sei, wo sich alles gegen sie verschworen hat - bis auf die
Regierung. Denn die darf der herzlichsten Anteilnahme
professioneller Liebhaber der Macht sicher sein: Der Berg von
P r o b l e m e n, der sich da vor ihr auftürmt, wäre auch mit
deutschem Organisationstalent kaum zu bemeistern. Und weil man
Frau Gandhi an der verantwortungsvollen Aufgabe mißt, dem Land
'd e n Fortschritt' zukommen zu lassen, dem mit der Unab-
hängigkeit der Nation kein anderes Hindernis mehr im Wege stehen
soll als die mangelnde Entwicklung, wird ihr bescheinigt, sich im
"K a m p f g e g e n" die Armut, den Hunger etc. pp. zu verzeh-
ren und mit aller Macht das b e s e i t i g e n zu wollen, was
sie mit ihrer Politik den Indern beschert.
Notwendiges Scheitern bester Absichten
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Doch da Indien in tropischen Gefilden liegt:
"Die Zentralregierung hat ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der
extremen Trockenheit verkündet; den Monsum vermögen hingegen wohl
auch Indira Gandhi und ihr dynamischer Filius Sanjay nicht her-
beizuzaubern, auch wenn dieser seinen Erstgeborenen soeben nach
dem Regengott Varuna benannte." (Süddeutsche Zeitung)
und die Inder mit ihrer lethargischen Mentalität den Willen zur
Entwicklung vermissen lassen, indem sie sich immer noch schneller
vermehren als sterben; da Frau Gandhi also mit ihrem segensrei-
chen Wirken immer nur auf 'Schwierigkeiten' reagiert, die nicht
sie, sondern das unentwickelte Monstrum Indien auf die Tagesord-
nung setzt, ist ihr S c h e i t e r n beschlossene Sache:
O b w o h l die Getreideproduktion dermaßen angekurbelt wurde,
daß Indien sich Weizenhilfe nach Bangladesh, Verkauf von Saatgut
und Nahrungsgetreide nach Pakistan und Vietnam und Weizenexporte
in der Größenordnung von mehreren 100.000 Tonnen leisten konnte,
ist
"Indien t r o t z d e m noch ein Hungerland oder gar dazu ver-
dammt, es zu bleiben". (Stuttgarter Zeitung)
Denn s e l t s a m e r w e i s e
"habe in den reichen Anbaugebieten des Punjab in Indien die neue
Technik der 'grünen Revolution' zwar zu einer Steigerung des Pro-
Kopf-Realeinkommens um 26 Prozent geführt, der Anteil der Landbe-
völkerung, der unter der Armutsgrenze lebe, habe sich aber
gleichzeitig von 18 auf 23 Prozent erhöht." (Süddeutsche Zeitung)
Man bringt also Verständnis auf für das Mißlingen der Gandhischen
Bemühungen, das Elend zu v e r r i n g e r n, zumal ja die
'entwicklungspolitisch interessante' chinesische 'Alternative'
Indien ebenso aus Gründen des weltpolitischen Gleichgewichts be-
dauerlicherweise versagt bleiben muß, wie ihr Gottseidank schon
der jeder Änderung abholde indische Mensch entgegensteht. Indien
wäre eben nicht mehr Indien, wenn die "Probleme" kleiner statt
immer mehr würden, weil Indien - das ist, wenn ein paar hundert
Millionen z u v i e l Betel kauend in einer Sonne vor sich
hindösen, die einfach z u h e i ß ist. Man gesteht Gandhi auch
zu, daß unter indischen Verhältnissen nicht selten das
"N i c h t - Handeln" die humanste Lösung ist: Schließlich ist
es schon als Erfolg zu werten, wenn das Elend (angeblich) nicht
vermehrt werde:
"Indische Regierungsbeamte gingen gegen die - gesetzlich verbo-
tene - Kinderausbeutung mit der Begründung nicht schärfer vor,
weil sie 'sich nicht vorwerfen lassen wollen, daß sie die Men-
schen um ihr tägliches Brot bringen'." (Tagesanzeiger)
Mangelndes Organisationstalent
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So sehr man also davon überzeugt ist, daß 'der Entwicklung' mit
Indien ein unbezwingbares Hindernis entgegensteht, so streng legt
man aber auch an jede Regierung den fortschrittverheißenden Maß-
stab der Entwicklung an. Und da kann man der Regierung Gandhi ein
paar harte Worte denn doch nicht ersparen:
Ob sie sich dem Fortschritt ihres Landes wirklich beherzt und en-
ergisch genug verschrieben bat, muß man da schon einmal bezwei-
feln dürfen:
"Warten auf Resultate der Regierung Gandhi" (Neue Zürcher Zei-
tung)!
"Zwanzig Wochen" an der Regierung - und immer "noch keine wegwei-
senden innenpolitischen Maßnahmen ergriffen" (Neue Zürcher Zei-
tung), eine Schande! Und so sollte sich eine um das Wohlergeben
ihrer zu entwickelnden Bevölkerung besorgte Regierung nicht den
Schnitzer leisten, keine "ausgefeilte Wirtschaftspolitik" und
auch bei der Gesundheits- und Erziehungspolitik nur ein
"vollständiges V a k u u m" (Neue Zürcher Zeitung - Hervorhe-
bung im Original) vorweisen zu können. Was muß denn da das Aus-
land von ihr denken! Die Kritik der westlichen Beobachter wirft
ihr also vor, daß sie sich bei der ihr zugeschriebenen Aufgabe
der V e r m i n d e r u n g der Armut, also der hiesigen Vor-
stellung von einem indischen Sozialstaat, der mit hiesigen Model-
len nicht vergleichbar ist, nicht genug hervortut, da sie sie
nicht mit der erforderlichen "Effizienz" anpackt, sondern sich
dabei allzusehr an die notorisch gschlamperten indischen Zustände
anpaßt:
"So mußte ein Teil der letztjährigen Kartoffelernte von den Bau-
ern untergepflügt werden, weil man keine Abnehmer fand und die
Kühlhäuser voll waren." (Stuttgarter Zeitung)
Ein bißchen mehr Organisationstalent würde in Indien nämlich doch
Wunder wirken!
Erst läßt man die Regierung also zur Lösung des "Kardinalproblems
der Ernährung ihrer Bevölkerung" antreten, um dann "Resultate der
Regierung Ghandi" vermissen zu können.
Keine Demokratie nach westlichem Muster
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Beinahe noch faszinierender ist das Verfahren, den indischen
staatlichen Gewaltapparat - getrennt davon, wofür er eingesetzt
wird als eine besonders aparte Abart der Demokratie daraufhin zu
überprüfen, ob er dem hier gesetzten Standard entspricht. Ein
neckisches Spielchen. Steht doch von vornherein fest, daß die an-
dere Seite dem Vergleich nicht standhält. Und so wird noch jedes-
mal die Prozedur mit der Beteuerung eröffnet, die beiden Systeme
keineswegs miteinander vergleichen, sondern sich dieses Mal den
Spaß verkneifen zu wollen, die eigene Vorbildlichkeit an einem
mißratenen Abklatsch zu bespiegeln:
"Es ist eine Illusion zu glauben, daß eine Demokratie nach west-
lichem Vorbild in einem Land wie Indien mit seinen Klassen- und
Religionsgegensätzen überhaupt funktionieren kann." (Deutsches
Allgemeines Sonntagsblatt)
Schließlich ist man ja als Demokrat kein sklavischer Verfechter
der eigenen Staatsform, wenn es um die Beurteilung der Funktions-
tüchtigkeit anderer Staaten geht. Egal ob Diktatur, Militärregime
oder Demokratie - nicht diese flüchtigen Erscheinungsweisen des
Staates, sondern dessen S t a b i l i t ä t hat hier als ober-
stes Prinzip zu gelten. Und da Indien zumindest in dieser Hin-
sicht anderen als Vorbild dienen kann, werden der indischen Demo-
kratie ein paar notwendige Abwandlungen konziliant zugestanden.
Die funktioniert nämlich prächtig dort - ganz o h n e
d e m o k r a t i s c h e s S t a a t s v o l k. Wo die Massen
es nur zur Meisterschaft im Hungern bringen, weil für ihre Arbeit
keine Verwendung ist, da kommen staatsbürgerliche Illusionen erst
gar nicht auf. Wo nichts ist - und damit die Alternative Nutzen
oder Schaden nicht zur Debatte steht -, kommt niemand auf die
Idee, sich von der Wahl die Verminderung seines Schadens durch
die Entscheidung für die richtige Partei zu erwarten. Von der er-
wartet er sich allenfalls eine Suppe. Der Staat seinerseits sieht
keinen Grund, den politischen Willen zu bilden - schließlich
lohnt sich dies aufwendige Geschäft nur für einen Staat, der mit
der Zustimmung der Bürger, um der staatlichen Notwendigkeiten
willen auf ihren Vorteil zu verzichten, seine eigene Stärkung be-
werkstelligt. Deshalb hat die indische Demokratie außer besagter
Suppe noch Schlägerbanden als Argument, damit das Kreuz an der
richtigen Stelle erscheint.
Hiesigen Kommentatoren ist also durchaus bewußt, daß eine
"Demokratie nach westlichem Muster" in Indien unangebracht ist.
Weder gibt man sich der Täuschung hin, daß die Reife des Volkes
auch nur den geringsten Beitrag zum Gelingen der Herrschaft lei-
stete; so macht man auch kein großes Trara drum, wenn die Wahlen
dort mit denen hier nicht viel mehr als die Tatsache gemein ha-
ben, daß der Wähler ein Kreuz malt, sondern bescheinigt mit einer
kleinen Wählerbeschimpfung generös auch dem Analphabeten seine
Reife:
"Die Leichtgläubigkeit der Wähler ist nicht nur ein indisches
Phänomen. Wann ist ein Volk 'reif' für die Demokratie? Müssen in-
dische Wähler bis 1.000 zählen können, bevor sie ihre Stimme ab-
geben dürfen, oder genügt es, wenn sie bis 100 kommen?"
(Frankfurter Allgemeine)
Noch hält man es dringend für erforderlich, mucken, ist das Zu-
sammenschießen Belehrung genug, bei der allenfalls die Phantasie-
losigkeit mißfällt.
Gerade weil sie sich so sicher sind, worauf es in Indien ankommt,
dürfen sie auch mal die Phantasie spielen lassen und so tun, als
ob man es dort wirklich mit einer Demokratie zu tun hätte. Da
geht's dann zu - fast wie bei uns. Aus Analphabeten werden Demo-
kraten, die die Weichen der Politik stellen dürfen:
"Die Demokratie" (ein interessantes Subjekt!) "hat es schwer in
den meisten Ländern der 3. Welt. ... In Indien aber hat die Be-
völkerung das Wahlrecht noch, und so kann sie, wenn auch auf be-
scheidene Weise, an der politischen Willensbildung mitwirken."
(Frankfurter Allgemeine)
Die Regierung aber versündigt sich wider den Auftrag politischer
Willensbildung, wenn sie dem Volk seinen Wunsch, sechs Banken
verstaatlicht zu bekommen, aus billiger "Popularitätshascherei"
(Neue Zürcher Zeitung) erfüllt.
Daß allerdings soviel Klarheit herrscht daß die Engländer ihr Sy-
stem parlamentarischer Umgangsformen ihren Nachfolgern nicht mit
der Auflage vermacht haben, den demokratischen Reifeprozeß des
Volkes in Gang zu setzen, merkt man daran, worauf sich die Jour-
nalisten bei der Besprechung der indischen Demokratie mit Vor-
liebe stürzen. Weder auf das Volk noch das Verhältnis Volksregie-
rung richtet sich das Interesse, sondern die Politiker - allen
voran die stets "Ausnahmezustand-Rückfall" gefährdete Frau Indira
Gandhi - werden daraufhin begutachtet, ob sie die Finessen des
demokratischen Procedere beherrschen, ja ob sie für die Demokra-
tie überhaupt schon reif sind. Der Zweck des parlamentarischen
Brimboriums ist kein Geheimnis:
"...ist ihr Erfolg in dem Bestreben augenscheinlich, so rasch als
möglich die eigene Machtbasis auszubauen... Schläge gegen die Op-
position... sorgfältig geplante Massenübertritte... Auflösung der
Parlamente und Regierungen in neun anderen Gliedstaaten... Weg zu
ungestörten Änderungen der Verfassung freimachen... Alte Kampfge-
fährten aus der Notstandszeit mit hohen Posten belohnt... andere
versetzt..." (Neue Zürcher Zeitung)
Wozu sonst sollte eine Demokratie, die nicht auf die Errungen-
schaft stolz sein kann, den Willen des Volkes für die Staatsge-
walt einzuspannen, auch taugen, als ganz legal die eigene Macht
im Kreis derjenigen, auf deren Willen es ankommt, auszubauen und
alle Opponenten aus dem Weg zu räumen:
"So hat der Minister für Energie und künstliche Bewässerung,
Choudhury, ungeniert geäußert, das Zentrum werde nicht ruhen, bis
die marxistische Regierung Westbengalens in den Golf von Bengalen
getrieben worden sei." (Neue Zürcher Zeitung)
Dennoch beschwört man diesen Gebrauch der Demokratie als deren
stete Gefährdung. Andererseits ist die Auflösung der Länderparla-
mente aber nicht einfach ein Putsch, sondern ein
"verfassungsmäßiger Putsch" (Neue Zürcher Zeitung), weshalb man
für die Demokratie in Indien doch noch hoffen darf. Und so muß
man bei der Untersuchung, ob sich die Regierungschefin innerhalb
ihres legalen Rahmens bewegt, zum einen das Urteil bemängeln, wo-
nach "Schmuggler, Profitjäger und Schwarzhändler ohne Gerichts-
verfahren" (Handelsblatt) ins Gefängnis gesteckt werden können,
auf der anderen Seite lobend hervorheben, daß es sich die indi-
sche Gerichtsbarkeit nicht immer so leicht macht, sondern in ei-
nem immerhin
"59 Seiten langen schriftlichen Urteil feststellte, daß die Ur-
teile gegen Frau Gandhi... als grundlos betrachtet werden kön-
nen." (Süddeutsche Zeitung)
Wenn so von denjenigen, die sich der Demokratie bedienen, eine
permanente Bedrohung für dieses zarte Pflänzchen ausgeht, so ist
das zwar schade. Doch bedenkt man, daß auch die Politiker Inder
sind, denen die Demokratie fremd ist, so sind ihre Bemühungen um
Recht und Gesetz auch recht beachtlich. So suspekt einem also die
indischen Politiker auch sein mögen
"Nicht Prinzipientreue, Aufrichtigkeit und ideologische Bindun-
gen, sondern gerissene Grundsatzlosigkeit und opportunistische
Wendigkeit zeichnen den erfolgreichen Berufspolitiker aus."
(Süddeutsche Zeitung) -,
irgendwie passen sie doch nicht schlecht zu Indien, diesem Land
mit Tradition:
"Das skrupellose Taktieren und Finassieren, der Kauf von Überläu-
fern und die Koalitionsabsprachen mit dem Gegner von gestern ste-
hen in bestem Einklang mit den Jahrtausende alten Hindu-Lehren
von der Philosophie des Erfolgs und der Funktion des Verrats.
'Trag deinen Feind auf deiner Schulter, bis du von ihm hast, was
du willst. Dann wirf ihn ab und zerschmettere ihn wie einen irdi-
schen Krup an einem Felsen', rät schon das berühmte Helden-Epos
Mahabharata. Natürlicher Egoismus, Täuschungsmanöver, das Ein-
schläfern des Opfers und die hohe Kunst der Intrige gehören zu
den 'ewigen Werten' im 'Kampf der politischen Mächte'."
(Süddeutsche Zeitung)
Bei all den Klagen über "die Unfähigkeit der Politiker, dem Land
Führung und Richtung zu geben", sind die Kommentatoren unseres
Landes insgesamt mit Führung, Geführten und natürlich auch mit
der Richtung recht zufrieden. So konnte Dregger, der Frau Gandhi
nach seinem Besuch Käse schickte, lobend berichten,
"daß auch Frau Gandhi dem sowjetischen System skeptisch gegen-
übersteht." (Süddeutsche Zeitung)
Was will man auch mehr? Ein Land von ein paar hundert Millionen,
in dem der Staat das Massenelend nicht nur verschärft, sondern
unter Kontrolle hat, bei dem auch keine Gefahr besteht, daß es
ins andere Lager abrutscht, ist wirklich nicht mehr Beachtung
wert. Solange dies so bleibt, kann man sich vielmehr den Luxus
gönnen, über die Lage der Bevölkerung und deren Regierung ge-
trennte Spekulationen anzustellen und beide für gleichermaßen ku-
rios zu befinden.
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Ärzteschwemme in Indien
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Einen überraschenden Hinweis zur Hintergrundklärung der Probleme
Indiens lieferte WHO, die Weltgesundheitsorganisation der UNO:
"Indiens Ärzte sind zu gut. WHO: Qualifikation nicht im Einklang
mit den Bedürfnissen. In Indien gibt es etwa 80.000 Ärzte zuviel,
von denen viele für die Bedürfnisse des Landes zu hoch qualifi-
ziert sind. Dem Report zufolge werden an den Hochschulen des Lan-
des Ärzte ausgebildet, die 'häufig außerstande sind, unter den
Bedingungen zu arbeiten, die in einem armen Land wie Indien vor-
herrschen, vor allem in den ländlichen Gebieten.' Auf Grund des
geringen Ansehens der Krankenpflege gebe es dagegen viel zu we-
nige Krankenschwestern und -pfleger. Von den rund 180.000 Ärzten
Indiens waren nach Angaben der Regierung vom letzten Jahr 11.400
arbeitslos. Der WHO zufolge ist Indien der größte 'Exporteur' von
Medizinern: etwa 15.000 indische Ärzte arbeiteten im Ausland."
(Süddeutsche Zeitung, 24.6.80)
Einleuchtend: Gegen die Haupttodesursache in diesem Lande, den
Hunger, nützt die gediegenste medizinische Ausbildung nichts, und
wo der Arzt von der Heilkunst nicht leben kann, weil seine Pati-
enten nicht mal sich selber durchbringen können, wird die medizi-
nische Ausbildung zum Hemmnis für die Medizin.
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