Quelle: Archiv MG - ASIEN INDIEN - Die volkreichste Demokratie
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Marxistische Studentenzeitung 1/85
Kapital und Weltmarkt
EINE PANNE IN INDIEN
Da wurden in einem Land der "Dritten Welt" Arbeitsplätze geschaf-
fen und dringend benötigte Pestizide für gesicherte Ernten - so
hätte sich bis vor kurzem ein Werbetext der Union Carbide gele-
sen, in etwa nach dem bekannten Motto "Chemie ist, wenn..." Jetzt
erst stellt sich heraus, daß aus einer "Giftfabrik" schließlich
die "chemische Apokalypse" (Spiegel 50/1984) kommen mußte.
Der GAU in Bhopal
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Irgendwann, so haben alle Öko-Propheten und Grünen-Politiker im-
mer schon gewußt, irgendwann kommt's einmal zu einer R i e-
s e n k a t a s t r o p h e. Jetzt ist sie passiert, mit
vorläufig garantiert 1.500 Toten, hunderttausend Vergifteten und
menschlichem Massenelend soviel man will. Und doch haben es die
Nachrichten aus Nordindien zumindest in der seriösen Presse kaum
geschafft, von der Rubrik "Vermischtes" auf die vorderen Titel zu
dringen. Denn erstens geschah das Malheur in Indien, wo ohnehin
auch ohne Chemieunfall so massenhaft krepiert wird, daß es auf
die paar Hundert auch nicht groß ankommt. Zweitens passierte die
Panne in Indien, einem Entwicklungsland, wo sowieso klar ist, daß
man es da mit Sicherheitsbestimmungen nicht so genau nimmt. Drit-
tens kann so etwas nur in Indien vorkommen und nicht bei uns in
Deutschland, wo die gesamte Branche, die mit demselben Giftzeug
ihr Geschäft macht, versichert, daß es bestenfalls theoretisch
denkbar, aber praktisch völlig ausgeschlossen ist. Und viertens
schließlich ist die Zweigstelle der U S - F i r m a Union Car-
bide in Indien betroffen und nicht die Filialen in den USA, Groß-
britannien und anderen zivilisierten Staaten, die dennoch vor-
sorglich einstweilen die Produktion eingestellt haben. Den Be-
richten aus Indien schließlich entnehmen wir eine gehörige Por-
tion Mitschuld der Vergasten. Erstens wußten sie gar nicht, was
die Fabrik herstellt: "Die meisten glaubten, es seien Medika-
mente." Zweitens siedelten sich über 40.000 Pauper hartnäckig in
den Slums um die Fabrik an (einem herrenlosen Gebiet, weil darauf
keiner mit Geld wohnen wollte), obwohl "wir ihnen immer wieder
sagten, daß das gefährlich ist" (der Bürgermeister von Bhopal).
Drittens schließlich hätte jedermann gewarnt sein können: "In den
vier Jahren seit Bestehen der Fabrik gab es bei Giftunfällen über
30 tote Arbeiter." Wenn die Leute so scharf sind auf einen Ar-
beitsplatz bzw. einen mietfreien Slumbauplatz... Inzwischen hat
sich Union Carbide bereit erklärt, der Forderung der indischen
Regierung zu entsprechen und Entschädigungen zu bezahlen. Der US-
Konzern braucht sich dabei nur an den gültigen Tarif für einen
Toten halten, den Radschiw Gandhi festgesetzt hat, nachdem der
losgehetzte Mob ein paar Tausend Sikhs zur Leichenfeier für In-
dira massakrierte: 1200 für einen ganz Toten und für Verletzte
zwischen 400 und 800 Mark. Jackson Browning, S i c h e r-
h e i t s d i r e k t o r von Union Carbide, hat denn auch schon
drei Tage nach dem "Unglück" angekündigt, das Werk in Bhopal
werde weiterarbeiten, wenn die Ursachen für das Entweichen von
Gas festgestellt und behoben seien. Bei den Zweigstellen in den
USA könne es eventuell etwas länger dauern...
Gift fürs Geschäft
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Kaum sind die ersten 1000 Toten des Gift"unglücks" in Bhopal un-
ter die Erde gebracht, wälzen die Wirtschaftsfachleute die Frage,
ob die Union Carbide Corp. nicht größeren Schaden erleiden könne
- Schadensersatzansprüche stehen ins Haus. Eine erste Bestrafung
für ihre Fahrlässigkeit im tiefen Indien erfährt die Union Car-
bide an der Börse: Die Kurse ihrer Aktien purzeln. Wenn's ganz
dumm läuft, ist die Kreditwürdigkeit futsch, und die Firma wird
von einem Konkurrenten aufgekauft. Der Vorstandssprecher beeilt
sich zu betonen, daß man mit solchen "Unglücken" gerechnet hat.
Man ist versichert. Frage: Reicht die Versicherungssumme aus: 100
Mill. Dollar stehen zur Verfügung, aber
"man weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Geschworenenge-
richte für einen einzigen Todesfall durch Fehlverhalten Strafen
bis zu 40 Mill. Dollar verhängt haben, die allerdings in der Be-
rufung erheblich reduziert worden sind."
Die Union Carbide kann hingegen auf günstige Erfahrungen verwei-
sen: Eine gewisse Manville Corp., die einen Schwung Leute mit As-
best um die Ecke gebracht hat, bekommt gerade eine akzeptable
Strafe aufgebrummt - 100000 Dollar pro Nase. Das ließe sich, wie
gesagt, mit der Versicherungssumme abdecken. Künftige Todesfälle
aufgrund von Langzeitwirkungen müssen die Inder nach bestehendem
Recht erst einmal nachweisen; sie müssen sich halt einen Anwalt
leisten und gegen die Carbide-Anwälte antreten lassen. Die freie
Marktwirtschaft hat auch für solch bedauernswerte Opfer vorge-
sorgt:
"Inzwischen scheinen sich auch eine Reihe amerikanischer Anwälte
darauf einzurichten, überlebende Opfer der Katastrophe oder die
Hinterbliebenen von Toten gegenüber der Union Carbide zu vertre-
ten. Da nach amerikanischem Recht Erfolgshonorare vereinbart wer-
den können, winkt diesen Anwälten im Fall erfolgreich durchge-
setzter Ansprüche ein Anteil an der Wiedergutmachungszahlung."
Den ungünstigsten Fall gesetzt, Union Carbide geht pleite, so ist
doch trotzdem fürs amerikanische Bruttosozialprodukt gesorgt.
Die Chancen für das Werk stehen aber auch aus einem anderen Grund
nicht schlecht, der die amerikanischen Anwälte vor übertriebenem
Eifer zurückhalten wird: Die Dollar-Abschätzung von Menschenleben
ist recht eigentlich dem amerikanischen Staatsbürger vorbehalten
- und um die Übertragung auf die Inder zu vollziehen, müßte erst
einmal nachgewiesen werden, daß die indische Abteilung der Car-
bide amerikanischer Rechtsprechung unterliegt. Und das ist ge-
nauso wenig wahrscheinlich, wie die Taxierung eines Parias auf
100.000 Dollar. Für den deutschen Leser wurde Tröstliches nachge-
reicht. Dieses Methylisocyanat wird hierzulande eigentlich gar
nicht produziert, zweitens bloß von Bayer, drittens unter schärf-
sten Sicherheitsvorschriften, was viertens der TÜV sagt. Selbst
wenn alles platzt, abbricht, zerbröselt:
"Das Produkt hat einen Siedepunkt von 37 Grad, bei denen die
Flüssigkeit in Gas übergeht. Allein die unterschiedlichen klima-
tischen Bedingungen setzen die Gefährdung in der Bundesrepublik
gegenüber Indien erheblich herab."
Ob das Karl Marx gemeint hat mit seiner Behauptung: "Nicht das
tropische Klima mit seiner überwuchernden Vegetation, sondern die
gemäßigte Zone ist das Mutterland des Kapitals." (MEW 23, 536)?
Die Geier
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Das D e u t s c h e N a c h r i c h t e n m a g a z i n rea-
gierte behende und präsentierte seinem Publikum rechtzeitig vor
Weihnachten Fluch und Segen der Technik: Die Rede war von den
"potentiell mörderischen Kräften, die im Dienste der Menschheit
stehen". Als ob d i e M e n s c h h e i t nennenswerte Aktien-
pakete der Chemiekonzerne halten würde und ganz so, wie wenn Me-
thylisocyanat nicht eine beherrschbare chemische Verbindung, son-
dern ein Lustmörder wäre!
M u t t e r T e r e s a tauchte in Bhopal auf und "spendete
Trost". Diese Kupplerin vatikanischer Freudenbotschaften vermit-
telte vor laufenden Fernsehkameras "einem der Kinder, die Opfer
der Giftgaskatastrophe wurden", herzliche Wünsche Wojtylas von
der üblichen Machart: auch "in dieser Tragödie" läge auf jeden
Fall ein tieferer bzw. höherer Sinn.
U n i o n - C a r b i d e - C h e f A n d e r s o n eilte so-
fort nach Bekanntwerden des "Unglücks" an den Tatort, ließ sich
"vorübergehend verhaften", s p e n d e t e spontan 1 Mio. Dol-
lar für ein Waisenhaus, schob eine weitere "für die Opfer der Ka-
tastrophe" nach und erklärte nach Rückkehr in die USA wortwört-
lich:
"Viele Bewohner Bhopals haben sich aus Unkenntnis falsch verhal-
ten. Die Sicherheitsvorkehrungen in der Fabrik sind genauso
scharf gewesen wie in jedem anderen Werk meiner Firma. Ich fühle
daher keine persönliche Verantwortung für das Unglück."
Die i n d i s c h e R e g i e r u n g erklärte, daß ihre Auf-
lagen ausreichend gewesen seien, die US-Firma sich aber daran nur
u n z u r e i c h e n d gehalten hätte. Das hätten j e t z t
"Untersuchungen ergeben".
Die B u n d e s r e g i e r u n g i n B o n n zeigte sich
"tief betroffen" von den Ereignissen in Indien. Bei "uns", so er-
klärte sie, sei so etwas mit tödlicher Sicherheit "unvorstell-
bar".
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Sehr gut vorstellen können sich das Leute, die nicht nur mit
Giftgasunfällen rechnen, sondern den Einsatz von Chemie als Waffe
planen. Deshalb
"dient Bhopal C - W a f f e n e x p e r t e n als Studienort.
Die Giftgas-Katastrophe bietet einem regelrechten Heer von Wis-
senschaftlern offenbar eine einmalige Gelegenheit, die Wirkung
von tödlichem Gas auf den menschlichen Organismus in allen Ein-
zelheiten zu studieren." (Frankfurter Rundschau am 12.12.)
Selbstverständlich befinden sich unter den Fachleuten auch
"Experten aus der Bundesrepublik". Mit ihren Kollegen aus anderen
NATO-Staaten interessiert sie besonders,
"welches Organ bei den verstorbenen Opfern zuerst versagt habe
oder welche Zeitspanne zwischen Einlieferung im Krankenhaus und
Tod verstrich."
So gesehen, ist der GAU von Bhopal eine kostenlose Gegenleistung
des Geschäfts für die bewaffnete G e w a l t, die es schließ-
lich schützt in dieser unserer schönen Welt von Freiheit und Ka-
pitalismus.
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