Quelle: Archiv MG - ASIEN CHINA - Wie tot ist Mao?
zurück Marxistische Studentenzeitung 1/86CHINA UNTERWEGS - EIN REISEBERICHT
"Die Volkskommunen aufgelöst, die Bauern auf Privatgrund produ- zierend, die städtischen Märkte gefüllt mit Lebensmitteln und Konsumgütern jeder Art: Mao-Nachfolger Teng Hsiao-ping hat seinem Land eine kapitalistische Revolution beschert, deren Früchte sein Volk begeistert genießt. Und die Partei läßt es geschehen." (Spiegel 42/84) Wir sind hingefahren. Daß uns bei der Ankunft auf dem Pekinger Flughafen ein kalter Wind ins Gesicht blies und die Aussicht ziemlich trübe war, kann man dem "neuen Kurs" nicht ankreiden. Der Dezember fordert nun mal systemübergreifend seinen Tribut. Viel eher schon störte uns die Formlosigkeit des Empfangs: keine roten Fahnen, keine Einführungsschulung und vor allem keine Ka- pelle, die uns mit "Wung van dong" begrüßt. Im Straßenbild haben wir den "neuen Reichtum" erst mal nicht zu Gesicht bekommen. Von den Santanas, die die Chinesen jetzt für VW produzieren dürfen, nicht die Spur. Statt dessen das bekannte Bild: Radfahrer, Fuß- gänger und Busse, die sich durch die Massen zwängen. In den Stoß- zeiten einen Busplatz zu ergattern, ist mitunter abenteuerlich; die den Chinesen angeborene und fast 40 Jahre lang unterdrückte Privatinitiative erweist sich noch als recht linkisch bei der Verteilung der knappen Plätze auf die bedürftigen Massen: Es dau- ert nicht selten 10 Minuten, bis der Fahrer schließlich losfahren kann, weil die Platzanwärter endlich einsehen, daß beim besten Willen - und davon bringen die Chinesen ganz ohne Polizei jede Menge auf - nicht mehr reingehen. Dann wird eben weiter gewartet oder das Heer der Fußgänger bereichert. Der Polizist an der Kreu- zung führt ein recht trostloses Dasein. Die Achtung vor der Staatsgewalt geht gerade so weit, daß der Mann nicht umgefahren wird und so weiter seine "eiserne Reisschale", einen sicheren Ar- beitsplatz, behält. Die dazugehörigen Zeichen werden von den Dis- ziplin gewohnten Chinesen schlicht ignoriert. Zu tun kriegt er allenfalls, wenn zwei Radfahrer aufeinanderbumsen. Das erfordert ein genaues Protokoll. Die Busse sind keine große Gefahr. Sie ha- ben offensichtlich Anweisung, Sprit zu sparen: Kaum losgefahren, legen sie den höchsten Gang ein und, wo absehbar ist, daß der Wa- gen auch ohne Kraft die Haltestelle erreicht, wird der Motor ab- geschaltet - ohne Zweifel Ausfluß der "sozialistischen Moderni- sierung" durch "fortgeschrittene Managementmethoden". Leichen und Elendsgestalten beherrschen jedoch das Straßenbild nach wie vor nicht. Die Menschen, die sich drauf rumtreiben, befinden sich auf dem Weg vom oder zum Arbeitsplatz. Die Arbeitslosen, die die Par- tei jetzt nicht mehr in den Betrieben "verstecken" will, verstec- ken sich offensichtlich zu Hause. Dort schützen sich die allermeisten Chinesen gegen die Kälte wie draußen auch: durch dicke Kleidung. Geheizte Wohnungen haben selbst für solvente Touristen Seltenheitswert. Die "bewußte An- wendung des Wertgesetzes" sorgt eben noch lange nicht für warme Zimmer. Und Heizmaterial ist auch durch den bewundernswertesten staatlich losgelassenen Erfindungsgeist nicht herbeizuzaubern. Elendsquartiere - sattsam bekannt aus unter- wie hochentwickelten Ländern - findet man allerdings nicht. Alle haben ein Dach über dem Kopf; dafür müssen eben auch mal acht in einer Bude hausen. Das hat die revisionistische Partei Chinas immerhin dirigistisch zustandegekriegt. Der Erfolg der Warenwirtschaft, für die markt- gerechte Allokation des knappen Wohnraums zu sorgen, hat sich of- fensichtlich noch nicht eingestellt. Weil's drinnen auch nicht wärmer ist und meistens ziemlich eng, essen viele Chinesen selbst im Winter im Freien. Neben Reis gibt es Gemüse, ab und zu Fleisch. Den Angebern, die getreu dem neuen Kurs: "Werdet reich!" demonstrativ den Reis weglassen, sind wir selten begegnet. In den Kantinen wird vielmehr sorgfältig abgewo- gen, ob Fleisch und welches Gemüse in den Topf kommt: Das Essen macht einen beträchtlichen Teil des Monatseinkommens aus. Restau- rants haben keinen leichten Stand, sie sind zu teuer. Außerhalb der Touristenläden hat der Reformkurs noch nicht einmal ein stattliches Warenangebot, das sich nicht alle leisten können, zu- standegebracht mit der Ausnahme, daß die Bauern die Eier und Rü- ben, die sie nicht abgeliefert haben, für ein paar Fen mehr ver- kaufen als der staatliche Laden, der sie gerade deshalb nicht im Angebot hat. Oh Wunder der Marktwirtschaft! Welch Erfindungs- reichtum! Die Fernsehwut ist v.a. in den Kaufhäusern ausgebrochen, wo sich das kauflustige Völkchen mangels Kaufkraft Testbilder und Pro- gramme zu Gemüte führt. Wo auch sollen die "80 % städtischen Fernsehteilnehmer" herkommen, wenn die Volksrepublik gerade 1 Million Geräte aus Japan eingeführt hat; von denen noch genügend in den Regalen stehen. Der Lohn der Sechstagewoche reicht dafür meist nicht. Auch die kapitalistische Errungenschaft der vollen Ausnutzung der Arbeitskraft ist fast noch nirgends durchgesetzt: Nach wie vor werden zwei Nachmittage im Betrieb ganz unproduktiv auf Schulungen vergammelt. Noch hat der Chinese am Sonntag frei. Da bleibt er entweder zu Hause oder er bummelt mit seiner Familie in einem der zahlreichen Parks, die seiner Bildungs- wie auch Vergnügungssucht nachgeben. Dort hat sich uns der "Konsumrausch" am schlagendsten präsentiert. Auf großen Plakaten konnten die Chinesen staunend die Steigerung ihres Konsums zur Kenntnis neh- men. Beeindruckende Kurven! Auf die Masse der Chinesen hat der neue Kurs offensichtlich noch keine Auswirkung. Das heißt nicht, daß es ihn nicht gibt: Die rege Bautätigkeit in Peking weist drauf hin, unter anderem ein 30-stöckiges Bürohaus für westliche Geschäftemacher, wofür die Schlitzohren Preise verlangen, die sie in der New Yorker City er- fragt haben. Eine nicht unschöpferische Anwendung des Wertgeset- zes, das die Kapitalisten hier empört verletzt sehen. Auch manche Bahnbeamte haben den neuen Kurs - die "vulgäre Jagd nach dem großen Geld" - verstanden, wenn sie bei großem Andrang zusätzli- ches Kleingeld verlangen. Ob allerdings das Wiederauftauchen der durch die kommunistische Revolution abgeschafften Rikschas der Perspektive, daß "immer mehr Menschen stetig zu Reichtum gelangen können", zu verdanken ist, wagen wir zu bezweifeln. Viel eher vermuten wir, daß solche Burschen auf diese Weise nur schlau ihre Arbeitslosigkeit verbergen, für die ein Betriebsleiter gesorgt hat, der sich damit den "Ehrentitel Unternehmer" verdient hat. Alles in allem: China ist auf dem Weg - Wir sind wieder zu Hause. zurück